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Mary, Erzählung

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Als sie über ihren Vater gebeugt stand, regte er sich und schlug die Augen auf. Sie kniete hin: "Vater!" Er schien nachzudenken und versuchte zu sprechen; es gelang ihm aber nicht. Sie sagte eilig: "Wir wissen es,—alles, Vater. Aber hab' deswegen keine Sorge! Uns wird es trotzdem an nichts fehlen." Seine Augen bewiesen, daß er verstanden hatte, wenn auch langsam. Er wollte die Hand erheben, merkte aber, daß er es nicht konnte. Er blickte sie schmerzlich erstaunt an; sie beugte sich über ihn, küßte ihn und weinte.

Aber es wurde unglaublich schnell besser. War es Marys Gegenwart und ihr stetes Mühen um ihn, was ihm half? Die Krankenpflegerin behauptete es.

Jetzt kam eine Zeit, in der sie unermüdlich war in ihrer Sorge um die beiden Kranken; zugleich aber trat sie die Verwaltung von Haus und Hof an. Sie übernahm die Buchführung und die Oberaufsicht. Sie fühlte sich wohl dabei, denn sie hatte Talent, Ordnung zu schaffen und zu dirigieren. Frau Dawes war sehr erstaunt darüber.

Keine Sorge um die Zukunft, keine Sehnsucht nach alledem, was hinter ihr lag. Sie sagte allen, die sie bedauerten, es sei freilich hart, daß die beiden Alten krank seien; aber sonst gehe es ihr so gut, wie sie es sich nur wünschen könnte.

* * * * *

An einem ungewöhnlich warmen Tage Anfang August hatte sie von morgens an sehr viel zu tun gehabt. Sie hatte Sehnsucht, sich ins Wasser zu stürzen, sowie sie Zeit hatte.

Zwischen fünf und sechs liefen sie hinunter, die kleine Nanna und sie. Zuerst waren sie beide zusammen im Badehause; der kleinen Nanna machte es solche Freude, wenn sie mit Marys schönem Haar zu tun hatte; heute durfte sie es auflösen. Dann lief sie den Hügel hinauf bis an den großen Stein, um von dort aus nach beiden Seiten Wache zu halten. Mary mochte nichts anhaben, sondern wollte nach Herzenslust plätschern und schwimmen. Sie nahm den Weg nach der Insel. Von dort aus konnte sie selbst zu beiden Seiten die Einfahrt und die Wege übersehen. Alles still, keine Gefahr. Also wieder zurück.

Die See umschmeichelte sie und trug sie, die Sonne spielte auf ihren Armen, die das Wasser teilten; das Land vor ihr lag herbstsatt da mit seinem fetten Heu; Seevögel schwebten in der Bucht, andere kreischten über ihr. "Und mir graute so vor dem Alleinsein—"

Als sie ans Ufer kam, mochte sie nicht heraus; sie legte sich auf den Rücken und ruhte sich aus. Dann ein paar Stöße und wieder eine Ruhepause. Der Strand war so einladend; sie legte sich in die Sonne. Den Kopf halb auf einem Stein, das Haar herabfließend. O, wie schön das war! Aber irgend etwas mahnte sie, aufzusehen. Sie hatte keine Lust dazu. Aber sie mußte doch wohl einmal dahin sehen, wo das Mädchen saß. Ach, was kümmerte sie das! Nanna hielt ja Wache. Aber soviel wurde doch dadurch bewirkt, daß das Wohlbehagen ihr verloren ging; sie machte ein Ende. Als sie aufstand, um auf die Badehaustreppe zuzugehen, gewahrte sie hinter dem großen Stein—Jörgen Thiis im Jagdanzug mit dem Gewehr über der Schulter! Das kleine Mädchen stand aufrecht auf dem Stein, ohne sich zu rühren; sie starrte ihn an, als sei sie festgenagelt.

Eine heiße Blutwelle durchflutete Mary—Zorn und Abscheu. War er schamlos? Oder hatte er den Verstand verloren? Äußerlich tat sie, als habe sie nichts gesehen,—warf sich kopfüber in die See und schwamm auf die Treppe zu, hielt sich ruhig daran fest,—und verschwand.

Aber ihr Atem ging heftig; ihr war so heiß, daß sie vergaß, sich abzutrocknen, sich anzuziehen. Sie geriet in immer größere Hitze, schließlich kochte sie vor Rachsucht und Wut. Der galante Jörgen Thiis wagte sie zu beleidigen, wie sie noch nie im Leben beleidigt worden war.

Sie schlug sich solange mit diesem sinnlosen, unehrenhaften Überfall herum, bis sie mitten in Vorstellungen war, die sie weit fortführten. Sie stand wieder vor der kraftvollen Gestalt des Athleten, sie fühlte wieder Alices wissende Augen auf sich ruhen. Sie zitterte,—als sie einen Schrei des Kindes da oben hörte. In ihrer Erregung war sie nahe daran, auch zu schreien. Was konnte da nur los sein? Auf die Seite ging kein Fenster hinaus. Aus der Tür zu sehen, wagte sie nicht, denn sie hatte nichts an. Nie hatte sie sich so mit dem Anziehen beeilt, aber gerade deshalb ging ihr alles verkehrt, und es zog sich in die Länge. Sie mochte nicht halbangekleidet vor Jörgen Thiis hintreten.

Als sie eben soweit war, daß sie daran denken konnte, die Tür aufzumachen, hörte sie auf der Landungsbrücke das Tripp-Trapp der kleinen Nanna. Mary riß die Tür auf, die Kleine kam hereingestürzt und warf sich ihr gleich in den Schoß. Da versteckte sie den Kopf und weinte und schluchzte, daß sie kein Wort herausbringen konnte.

Mary gelang es, sie zu beruhigen, besonders als sie ihr versprach, sie dürfe jetzt ihr Haar kämmen. Da erzählte sie, der Herr Leutnant habe hinter dem Stein gestanden, bis sie es bemerkt habe. Sie habe gesessen und gesungen und habe ihn gar nicht kommen hören. Er habe ihr gedroht. Ach, und sie habe solche Angst gehabt, denn er habe so böse ausgesehen! Ach, so böse habe er ausgesehen! Kaum sei Mary ins Haus gegangen, da sei er hinuntergestürmt, direkt auf das Haus zu!

"Jörgen Thiis?"

"Dann schrie ich aus Leibeskräften! Da stand er still. Aber dann drehte er sich um und kam auf mich zu. Ich hinunter vom Stein und hinein in den Wald–" Sie konnte nicht weitersprechen. Sie verbarg wieder den Kopf in Marys Schoß und weinte.

Das wurde ja immer schlimmer! Marys Verstand konnte es anfangs kaum fassen.

Nach und nach aber ging ihr ein Licht auf—er mochte ein anderer sein.

Er trug eine rasende Leidenschaft in sich. Er hatte den Mut starker Rücksichtslosigkeit. Wenn er nun gekommen war, um…?

Stolz und stark, wie sie sich kannte, hätte das für ihn die Verbannung auf immer bedeutet—nichts anderes.

Aber auf dem Heimwege ließ sie Nanna vorausgehen. Aus dem einfachen Grunde, weil sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte,—so stürmten die Gedanken auf sie ein.

Wie konnte ein Mann sich tagtäglich so beherrschen—einer so gewaltigen Begierde gegenüber? Eine lange, lange Anhäufung mußte vorauf gegangen sein; sonst hätte er nicht einem so unerhörten Überfall auf sich selbst—und auf sie—unterliegen können!

In diesen ganzen Jahren war er also von Begierde entflammt gewesen? Seine Huldigungen, seine Ehrerbietigkeit, seine steten Bemühungen um sie—war das alles Rauch aus dem unterirdischen Krater? Der eines schönen Tages lohende Steine und glühende Asche ausspeit!

Also Jörgen Thiis war gefährlich? Er wurde nicht kleiner dadurch; er stieg! Der Zwang, den er sich auferlegt hatte—ihr zu Ehren, war löblich! Wenn die Versuchung eines Tages den rebellischen Kräften das Tor öffnete—konnte sie ihm deswegen eigentlich böse sein?

Den ganzen übrigen Tag, ja noch als sie sich auszog, dachte sie darüber nach. Am ändern Tage faßte sie den Entschluß, jetzt müsse es ein Ende haben. Es wurde etwas in ihr aufgewühlt, das sie schon einmal zurückgedämmt hatte; das Tempo durfte nicht unterbrochen werden, in dem sie sich ihr Leben einzurichten wünschte. Deshalb nahm sie ihre Arbeit energischer als je wieder auf, ja sie machte sich noch mehr zu schaffen. Sie sah nämlich die Bücher ihres Vaters und die losen Aufzeichnungen durch (deren es reichlich viele gab!), sie wollte Klarheit haben, wie die Dinge im ganzen standen. Er hatte doch auch hier Vermögen, und er konnte unmöglich alles verbraucht haben, was er aus Amerika bekommen hatte. Aber sie fand das Gesuchte nicht. Den Vater durfte sie nicht damit behelligen, und Frau Dawes wußte nicht Bescheid.

Aber so eifrig sie bei der Sache war,—etwas vom gestrigen Tage schlich sich hinein. Jörgen hatte natürlich baden wollen, nach dem Bade heraufkommen und sie begrüßen. Nach dem, was vorgefallen war, kam er nicht. Kam er überhaupt wieder? Ohne besonders aufgefordert zu sein? Er hatte sich ja einstweilen zur Genüge verrannt. Sie hörte an den folgenden Tagen in der Umgegend schießen. Manche sagten auch, es werde in größerer Entfernung geschossen. Aber er kam am zweiten Tage nicht, kam am dritten nicht und am vierten auch nicht. Ihr gefiel das.

Weil ihre Gedanken so oft auf den Höhen und im Walde waren, stieg sie eines Tages kurz vor dem Mittagessen hinauf. In der letzten Hälfte des August ist der Wetterumschlag im südlichen Norwegen häufig sehr kraß. Es war jetzt kalt; sie empfand es als eine Erfrischung, im Nordwind, der sie umspielte, bergan zu steigen. Sie stieg etwas unterhalb der Häuser hinauf, da ging es leichter. Sie kletterte rasch, sie war daran gewöhnt und sehnte sich, höher hinaufzukommen, im Winde zu stehen und über das aufgerührte Meer hinzuschauen. Schon von der ersten Anhöhe aus genoß sie den Blick auf die Halden, wo die Leute das Heu zum Trocknen ausbreiteten, über die Bucht, die Inseln, das Meer, das heute ganz schwarz war und viele Segler und etliche Dampfer trug. Doch über ihr machten die Krähen einen schauderhaften Lärm; da saß man sicher zu Gericht. Sie sah eine und die andere durch die Luft schießen und weiter gegen Norden zwischen den Hügeln verschwinden. Der Spektakel wurde immer schlimmer, je höher sie kam. Da beeilte sie sich; vielleicht konnte sie den Verbrecher retten. Ganz aufgeregt war sie, so daß es ihr kalt über den Rücken lief. Sie meinte, wenn sie um den nächsten Vorsprung herum sei, müsse sie sie sehen können. Statt dessen sah sie, als sie den Kopf hinübersteckte, ein gut Stück von ihr etwas weiter nördlich einen Mann auf dem Bauch liegen, direkt über den Häusern. Das war Jörgen Thiis! Zuerst duckte sie sich; aber dann stieg ein fröhliches Rachegefühl in ihr auf, und in diesem Gefühl eilte sie schnell entschlossen hinan. Er gewahrte sie und sprang verwirrt und beschämt in die Höhe, riß die Mütze herunter, setzte sie wieder auf und wußte nicht, wo er hinsehen oder sich hinwenden sollte. Sie kam langsam näher und weidete sich an ihm. Schon von weitem rief sie: "Auf die Art also gehen Sie auf Jagd?—Vielleicht wollen Sie unsere Hühner schießen?" Als sie näher kam: "Sie haben keinen Hund bei sich? Ach nein, unsere Hühner können Sie ja auch ohne Hund schießen. Oder haben Sie etwa überhaupt keinen Hund?"

 

"Doch,—aber heute bin ich nicht zum Jagen hergekommen. Ich habe genug."

Diese einfachen, sanftmütigen Worte, bei denen er sie nicht anzusehen wagte, warfen ihre Gefühle über den Haufen. Sie wollte ihn nicht quälen. Sie hatte genug von der Tyrannei des Onkels gehört.

Die Krähen rasten schlimmer als bisher. "Hören Sie nur! Da wird Gericht gehalten! Daß Sie dem armen Sünder nicht zu Hilfe kommen!"—"Da haben Sie wahrhaftig recht!" sagte er, froh, daß er loskam. Er bückte sich nach seinem Gewehr und lief davon. Sie hinterdrein. Erst eine kleine Anhöhe hinan, dann den Weg entlang. Um zwei alte Bäume herum tobten die grauen Richter; es waren ihrer Hunderte. Aber kaum erblickten sie einen Mann mit einer Flinte, als sie krächzend nach allen Seiten auseinanderstoben. Ihre Aufgabe war beendet.

Und richtig: zwischen den beiden großen Bäumen lag zerzaust und blutig eine ungewöhnlich große Krähe in den letzten Zuckungen. Jörgen wollte sie aufheben. "Nein, fassen Sie sie nicht an!" rief Mary und wandte sich ab. Sie ging gleich wieder bis an den Abhang. Sie hörte ihn nicht nachkommen und blieb stehen: "Sie kommen doch mit und essen bei uns?" Er kam. Dann gingen sie schweigend bis an die Stelle, wo er gelegen hatte. Er fragte hastig: "Wie geht es bei Ihnen zu Hause?"—Sie lächelte: "O danke, den Umstanden nach recht gut."

Aus dem Schornstein wirbelte der Rauch in die Höhe. Vornehm wirken die Dachziegel mit ihrer blauen Glasur auf den Hausern. Die großen Gärten zu beiden Seiten mit den sandbestreuten Wegen lagen da, als hätten die Hauser gestreifte Schwingen ausgebreitet. Das Ganze so lebensvoll, als werde es sich im nächsten Augenblick in die Lüfte heben. "Haben Sie lange hier gelegen?" fragte sie unbarmherzig; sie hielt es ja für eine Art Belagerung. Er antwortete nicht. Sie begann den Abstieg; hier war es ziemlich abschussig. "Soll ich Ihnen helfen?"—"O danke, ich bin häufiger hier gegangen als Sie."

Es wurde eine stille Mahlzeit. Jörgen aß immer sehr langsam, aber nie so langsam wie heute. Mary war mit jedem Gericht schnell fertig und saß und sah ihn an. Sagte dies und das und bekam höflich Antwort. Seine Augen, die sonst gleich Wogen über sie hinspülten, die sie in sich aufsaugen wollten … heute hoben sie sich kaum vom Teller. Plötzlich hörte er auf. "Ist Ihnen nicht wohl?"—"Doch, danke; aber ich bin satt."—

Wenige Minuten später kam er aus Anders Krogs Zimmer heraus. Mary war kurz vorher von Frau Dawes gekommen und hatte gerade ihr Zimmer geöffnet. Jörgen Thiis sagte: "Ich finde, gnädiges Fräulein, Ihrem Vater geht es viel besser."—"Ja, er kann schon dies und das sagen und den Arm etwas bewegen."—Jörgen hörte das augenscheinlich nicht. "Ist dies Ihr Zimmer?—Ich habe es noch nie gesehen." Sie trat beiseite; er schaute und schaute. "Wollen Sie nicht eintreten?"—"Darf ich?"—"Bitte sehr!" Er ging bis an die Schwelle und überschritt sie langsam; Mary folgte ihm. Er stand still und atmete schwer; sie war neben ihm. War denn das Zimmer mit Spitzen überzogen? Er konnte sich gar nicht zurechtfinden. Das Bett, die Möbel, weiß mit blau, oder blau mit weiß, die Amoretten an der Decke, die Bilder, darunter eins von ihrer schönen Mutter, mit Blumen geschmückt. Und der Duft … nicht allein von den Blumen, nein, von ihr selbst und all ihrer Habe. Sie stand in ihrem blauen Kleid,—es war das mit den kurzen Ärmeln,—neben ihm. In diesem reinen Duft, in diesem Farbenzauber schämte er sich. Er schämte sich so, daß er am liebsten aus dem Zimmer gestürzt wäre. Er konnte nicht Herr seiner Stimmung werden; in seiner Brust begann es zu arbeiten und zu schluchzen; ein Zittern überkam ihn. Ihm war, als müsse er in Tränen ausbrechen. Da schimmerte es von zwei weißen Armen, und er hörte etwas Leises, das auch blau und weiß und weiß und blau war. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen, wohl um ihn zu verbergen. Da schimmerten wieder die weißen Arme und er hörte deutlich: "Aber Jörgen!—Aber Jörgen!" Er fühlte eine Hand auf seinem Arm und setzte sich hin. Sie hatte wirklich "Jörgen" gesagt, zweimal "Jörgen." Jetzt strich sie ihm das Haar aus der Stirn. So weich, so blütenzart. Es löste sich etwas in ihm; alles Wunde und Harte schmolz unter ihrer Hand und zerrann. In einem unsäglichen Gefühl von Wärme. Die sich da über ihn beugte, war eigentlich die erste, die ihm beistand, seit er kein Kind mehr war. Er hatte sich so verlassen gefühlt. Solches Vertrauen zu ihm lag in dem Händedruck. So unverdient. Das tat gut! Oh wie gut das tat! Ihm träumte, er sei auch gut, sei in der Gewalt guter Mächte. Das Weiße und Blaue wölbe ein Zelt über ihm. Unter diesem Zelt nähmen diese großen, guten Augen seine Seele in sich auf. Er sagte als Entschuldigung ganz leise: "Ich konnte es nicht länger aushalten." Was er nicht länger aushalten konnte, verstand sie; sie prallte zurück.

"Mary", flüsterte er. Ohne es zu wollen, dachte er laut. Das erschreckte ihn und erschreckte sie. Sie wich weiter zurück von ihm, ihre Augen wurden unklar; es versagte da etwas. Das sah er,—und ehe sie es ahnte, ehe er selbst es wußte, war er bei ihr. Er umschlang sie und preßte sie an sich. Er wurde wild, als er ihren Körper an seinem fühlte, und küßte sie, küßte sie, wo er gerade hintraf. Sie bog aus, bald nach der einer Seite, bald nach der ändern. Da bedeckte er ihren Hals mit Küssen. Sie fühlte, jetzt galt es. Einen Arm hatte sie nur frei; aber damit stieß sie ihn von sich. Gleichzeitig bog sie sich so weit nach hinten, daß sie fast gefallen wäre. Dadurch kam er über sie, das zündete, und er wollte es sich zu Nutzen machen. Aber er mußte seinen rechten Arm lösen, um sie umschlingen zu können. Gerade dadurch bekam sie ihren linken Arm frei, stemmte ihn mit aller Macht ihm gegen die Brust, daß sie sich nach der Seite wenden konnte, und stand aufrecht. Ihre Augen trafen sich. Sie waren wild, die Flammen in ihnen prallten gegeneinander. Keiner sprach ein Wort. Ihre Atemzüge gingen kurz und scharf.

"Mary!" ertönte ein Schrei draußen auf dem Gange. Das war Frau Dawes! Frau Dawes, die das Bett nicht mehr verlassen konnte,—stand auf dem Flur! "Mary!" noch einmal so verzweifelt, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Die beiden hinaus: Frau Dawes lehnte in ihrem Nachtgewand vor ihrer offnen Tür an der Wand. Sie war am Umsinken, als Jörgen Thiis herzugestürzt kam und sie unter den Arm faßte. Die Treppe herauf kam ein Mädchen nach dem andern, auch die kleine Nanna. Jörgen stand und hielt Frau Dawes, bis sie sie mit vereinten Kräften aufhoben und hineintrugen. Es war furchtbar schwer. Soviel sie hoben und schleppten, sie bekamen sie knapp über die Schwelle ins Zimmer hinein. Dann langsam weiter; aber jetzt kam noch das Allerschwerste: den Oberkörper ins Bett hineinheben; denn das wollte ihnen nicht gelingen. Immer wenn der Oberkörper auf dem Bettrand war, wollten die Beine nicht mit; dann glitt sie wieder hinunter; sie selbst half nicht ein bißchen, sie stöhnte nur. Ehe Jörgen richtig zufassen konnte, lag sie in ihrer ganzen Größe abermals am Boden. Als sie den Oberkörper wieder einmal hochgehoben hatten, aber nicht weit genug, daß er durch seine eigene Schwere liegen geblieben wäre, waren sie ganz verzweifelt; sie wußten nicht, was sie machen sollten. Das kleine Mädchen lachte laut auf und lief weg; Jörgen sandte ihr einen wütenden Blick nach. Das war selbst für Mary zuviel. Vor drei Minuten noch hatte sie wie eine Verzweifelte gekämpft,—und nun überkam sie eine so unbegreifliche Lachlust, daß auch sie hinauslaufen mußte. Da stand sie mit dem Taschentuch vorm Munde und krümmte sich vor Lachen, als die Pflegerin aus dem Zimmer ihres Vaters herauskam; er wollte wissen, was los sei. Mary ging hinein. Sie konnte es ihm vor Lachen kaum auseinandersetzen, wie nämlich Frau Dawes dalag und was für Anstrengungen Jörgen und die Mädchen machten. Ihren Vater quälte die Frage, was Frau Dawes wohl auf dem Flur gewollt habe. Da verstummte Marys Lachen. Ein Mädchen kam aus Frau Dawes' Zimmer und berichtete, jetzt liege die gnädige Frau im Bett. Sie möchte das gnädige Fräulein sprechen.

Im Zimmer stand Jörgen am Fußende des Bettes; Frau Dawes lag und stöhnte und weinte und rief nach Mary. Kaum ließ Mary sich in der Tür blicken, da fing sie an: "Was war mit Dir, Kind? Mich überkam eine schreckliche Angst,—was war los?" Mary ging zu ihr hin, ohne Jörgen anzusehen. Sie kniete neben ihrer alten Freundin hin und legte den Arm um ihren Hals: "Ach, Tante Eva!" sagte sie und schmiegte den Kopf an ihre Brust. Nach einer Weile fing sie zu weinen an.—"Was ist denn? Was ist denn? Was macht Dich so unglücklich?" jammerte Frau Dawes und strich ihr immer und immer wieder mit der Hand über das herrliche Haar. Schließlich blickte Mary auf; Jörgen Thiis war fort. Aber sie schwieg. "Nie habe ich solch ein Gefühl gehabt," fing Frau Dawes wieder an, "wenn nicht etwas Entsetzliches bevorstand!" Mary schwieg. "War es etwas mit Jörgen Thiis?" Mary sah sie an.—"O Gott, das habe ich mir gedacht!—Aber bedenke, Kind, er hat Dich geliebt, seit er Dich zum erstenmal gesehen hat, und nie eine andere. Das ist schwer, siehst Du.—Und kein einziges Mal hat er Dir gegenüber etwas wie eine Andeutung gemacht,—oder doch?"—Mary schüttelte den Kopf. "Das ist viel. Das zeugt von Charakter. Zu Diensten ist er Dir gewesen und verehrt hat er Dich,—ja, sei nicht zu streng! Erst jetzt, da Du arm bist, wagter –ja, was war denn eigentlich los?"—Mary zögerte eine Weile; dann sagte sie: "Erst war es, als werde ihm schlecht. Aber dann wurde er plötzlich toll."—"Ach, ich könnte Dir auch etwas erzählen … Ja, ja, ja!" Sie versank in Gedanken. Dann murmelte sie: "Wenn einer jahrelang so herumgeht…"—"Wir wollen nicht darüber reden!" unterbrach Mary sie und stand auf.—"Nein, das ist …"—"Nichts mehr davon!" wiederholte Mary. Sie trat ans Fenster. Da hörte sie Frau Dawes hinter sich: "Er hat mit mir gesprochen, mußt Du wissen. Ob er jetzt seinen Antrag machen dürfe. Er könne sich nichts Schöneres denken. Einspringen, wenn wir nicht weiterkönnen. Aber er findet, Du bist zu unnahbar." Mary machte unwillkürlich eine Bewegung. Frau Dawes bemerkte es: "Sei jetzt nicht zu streng, Mary! Weißt Du, Kind, Dein Vater und ich, wir finden beide …" —"Nicht, Tante!" Mary drehte sich rasch nach ihr um—nicht gerade unwillig, aber doch so, daß das Gespräch nicht weitergehen konnte.

Mary blieb in der Stube. Sie wollte nicht Gefahr laufen, mit Jörgen Thiis zusammenzutreffen. Als Mary Frau Dawes einmal eine Handreichung leistete, sagte diese: "Du weißt, Kind, er beerbt Onkel Klaus?" Als Mary nicht antwortete, wagte sie fortzufahren: "Jörgen glaubt, Onkel Klaus wird ihm helfen, wenn er sich verheiratet." Mary ging das zu einem Ohr hinein, zum andern hinaus.

Als die Bahn frei war, suchte Mary ihr eigenes Zimmer auf. Sie durchdachte die ganze Szene noch einmal und glühte vor Aufregung, aber sie war verwundert, daß sie eigentlich nicht erzürnt war. Es war ja doch ganz entsetzlich.

Und gerade als sie dachte: "Was jetzt weiter?" klopfte es leise an die Tür. Sie wurde sehr böse, sie wäre am liebsten aufgesprungen und hätte die Tür verschlossen. Aber nach einer Weile sagte sie: "Herein!" Die Tür öffnete sich und schloß sich, ohne daß sie aufsah; sie saß in ihrem großen Stuhl. Leise und demütig kam er heran und ließ sich aufs Knie nieder, indem er das Gesicht in ihre Hände legte. Daran war nichts Abstoßendes. Er war tief bewegt. Sie blickte hinunter auf seinen hübschen Kopf mit dem weichen Haar. Sie verweilte bei seinen langen Künstlerfingern. Etwas Feines wirkte an ihm versöhnend. Aber diese Sentimentalität! "Soll ich abreisen?" war das einzige, was er sagte. Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie: "Ja." Ganz leise. Er ließ die Arme sinken, griff nach ihrer rechten Hand und drückte seine Lippen darauf, lange, aber ehrerbietig. Stand auf und ging.

Bei dem Kuß, so ehrerbietig er war, durchrieselte ihren Körper ein aufregendes Gefühl. Wie sie es vorhin gehabt hatte, als er sie küßte und küßte, daß sie einer Ohnmacht nahe war. Sie blieb verwundert sitzen. Noch lange, nachdem er fort war. Sie dachte wieder ihren Kampf bis ins kleinste durch und zitterte. "Warum bin ich nicht böse auf ihn?"

Da klopfte es wieder. Das Mädchen der Frau Dawes fragte an, ob sie nicht herüberkommen wolle. "Du hast ihn abreisen lassen, Kind?" Frau Dawes war mehr als betrübt. Vor Eifer richtete sie sich auf und stützte sich auf den einen Arm. Ihre Mütze saß schief auf dem kurzen grauen Haar, der fette Hals war röter als gewöhnlich, als sei es ihr zu warm. "Warum hast Du ihn abreisen lassen?" wiederholte sie. "Er wollte doch."—"Wie kannst Du das sagen, Kind? Er war doch bei mir und jammerte. Er wollte für sein Leben gern hier bleiben! Du hast keinen Begriff davon. Du hast ihn ja immer bloß zurückgestoßen. Und gefoltert." Sie legte sich ganz verzweifelt wieder zurück. Das Wort "gefoltert" machte flüchtig einen komischen Eindruck; aber Mary hatte selbst die Empfindung, sie hätte mit ihm sprechen sollen, ehe sie ihn gehen ließ. Denn gehen mußte er.

 

Es kamen recht schwere Tage. Anders Krogs Befinden verschlechterte sich bei einem Witterungsumschlag. Dazu kamen Verdauungsbeschwerden. Es fiel ihm schwerer, sich verständlich zu machen. Mary war viel bei ihm; dann folgte er ihr mit den Augen, daß es ihr fast Angst machte.

Frau Dawes schickte ihm kleine Zettel. Von ihrer Schreiberei ließ sie sogar im Bett nicht. Immer wenn solch ein Zettel kam, blickte er Mary lange an. Da erriet sie, wovon die Zettel handelten.

Eines Tages sagte Frau Dawes zu ihr: "Du überschätzt Dich, wenn Du meinst, Du kannst hier allein mit uns leben."—"Wie meinst Du das?"—"Daß Du im Frühling des gesellschaftlichen Lebens noch so müde sein magst,—wenn der Herbst kommt, lockt es doch. Du bist zu sehr daran gewöhnt."—

Mary antwortete diesmal nicht; aber einige Tage später—es war lange naßkaltes Wetter gewesen, und sie hatte nicht draußen sein können—sagte sie zu Frau Dawes: "Du kannst recht haben, das Leben, das wir all diese Jahre hindurch geführt haben, hat tiefe Wurzeln in mir geschlagen."—"O ja, tiefere als Du selbst ahnst, mein Kind!"—"Aber was soll ich denn tun? Von hier fort kann ich doch nicht? Ich will es auch nicht."—"Nein.—Aber Du könntest Dir etwas Abwechslung verschaffen." —"Wie denn?"—"Du verstehst mich recht gut, Kind! Wenn Du verheiratet wärst, würde er zeitweise hier mit Dir leben und Du zeitweise mit ihm da, wo er hin muß."—"Eine wunderliche Ehe!"—"Ich glaube nicht, daß Du ihm sonst näherkommen kannst."—"Wem näherkommen?"—"Dem, was das Leben von Dir verlangt. Und dem, woran Du gewöhnt bist."

Mary fühlte, das, was Frau Dawes da sagte, sei auch des Vaters Wunsch. Daß es ihr Schicksal sei, was ihm die größte Sorge mache. Daß ihm eine Ehe mit Jörgen unter Onkel Klaus' Obhut eine große Beruhigung sei. Es lag wie ein Druck auf ihr, daß sie bis auf diesen Tag wenig Rücksicht auf die Wünsche des Vaters genommen hatte.

Diese ganze Zeit, all diese Erwägungen erschienen ihr wie das Rezitativ einer Oper, das zwei Handlungen miteinander verbindet.

Wenn sie jetzt, wo es herbstete, über die Bucht hinschaute, fühlte sie sich wie eine Gefangene. Stand sie oben auf der Höhe und sah mit den schaumsprühenden Wogen den rauhen Herbst daherkommen, dann hatte sie das Gefühl, er wolle sie für den Winter einkerkern. Dann brauste es in ihr auf; sie war an anderes gewöhnt.

Auch in ihrem Blut brauste es. Sie hatte ihre Ruhe verloren. In der Erinnerung erschien ihr Jörgen nicht abstoßend. Die Atmosphäre, die ihn umgab, schien ihr sogar sympathisch.

Daß ein Schlaganfall den Vater aufs Krankenlager geworfen hatte, und daß Jörgen gerade anwesend war, und daß er dem Vater willkommen war,—knüpfte das kein Band? War das nicht wie Schicksal?

An Jörgens Seite in Stockholm1 aufzutreten und später weiter in die Welt gesandt zu werden,—einen naturgemäßeren Abschluß ihres Wanderlebens, eine vielseitigere Verwendung dessen, was sie dabei gelernt hatte, konnte man sich schwer vorstellen.

Onkel Klaus mußte helfen. Gründlich helfen. Sie war sich ihrer Macht über Onkel Klaus bewußt.—

"Kurz und gut, liebe Tante Eva," sagte sie eines Tages, als sie neben ihr am Bett saß und mit ihr plauderte: "Du kannst an Jörgen schreiben."

* * * * *

Mary stand selbst auf der Brücke, als das Boot anlegte. Es war am Sonnabend nachmittag, und wer irgend konnte, floh aus der Stadt, um die letzten Herbsttage im Freien zu genießen. Es war ein schöner Tag. Im südlichen Norwegen hat man solche Tage oft bis tief in den September hinein. Mary war in Blau und hatte einen blauen Sonnenschirm, mit dem sie Jörgen und ein paar Freundinnen winkte, die neben ihm standen. Alle Leute an Bord kamen nach der Landungsseite herüber, um zuzusehen.

Sowie Jörgen neben ihr stand, fühlte er, daß er vorsichtig sein müsse.

Er erriet, daß sie ihn nur deshalb hier unten in Empfang nahm, damit ihr Zusammentreffen nicht intim ausfallen könne.

Auf dem Wege nach oben sprachen sie über die Schwalben, die sich jetzt zum Aufbruch rüsteten, über den Verwalter, der kürzlich einen mächtigen Adler geschossen hatte, über das Schreibbrett, das für Frau Dawes konstruiert worden war, über die gute Grummeternte, über die Obst-und die Futterpreise.—Drinnen im Flur lief sie ihm mit einem kurzen "Verzeihung!" weg. Sie flog die Treppe hinauf. Der Bursche, der Jörgens Koffer brachte, trat hinter ihnen in die Tür; Jörgen und er standen da und wußten nicht wohin. Da hörten sie Marys Stimme von oben: "Bitte hierher!" Sie gingen hinauf. Sie öffnete das Fremdenzimmer, das neben ihrem eigenen lag, und ließ den Burschen den Koffer dahinein setzen. Zu Jörgen sagte sie: "Wollen wir nicht jetzt zu Vater hineingehen?"—Sie ging voran. Die Pflegerin war nicht da. Vermutlich um die fortzuschicken, war sie vorhin nach oben gelaufen.

In den Augen des Kranken leuchtete es auf, als er hinter ihr in der offenen Tür Jörgen bemerkte. Kaum war die Tür geschlossen, als Mary auf ihren Vater zuging, sich über ihn beugte und sagte: "Jörgen und ich haben uns verlobt, Vater."

Alle Güte und alles Glück, das sich in einem Angesicht vereinen kann, strahlte aus den Mienen des Vaters. Lächelnd wandte sie sich zu Jörgen, der blaß und verwirrt dastand und nahe daran war, auf Mary zuzustürzen und sie zu umarmen. Aber er fühlte, sie wollte wohl seine Überraschung, seine Dankbarkeit und seine Anbetung, aber keine Zeremonien. Das tat seinem Glück keinen Abbruch. Er begegnete ihren lächelnden Augen mit der vollsten, innigsten Freude. Er drückte die Hand, die Anders Krog ihm geben konnte, er blickte ihm in die tränennassen Augen und seine eigenen füllten sich mit Tränen. Aber gesprochen wurde kein Wort, bis Mary sagte: "Jetzt gehen wir zu Tante Eva!"

In einem Gefühl des Sieges ging sie voran. Bewundernd folgte er ihr.

Sein Herz war voll, nicht zum wenigsten von Begeisterung über den Großmut, mit der sie ihm verziehen hatte. Er dachte: draußen auf dem Flur wird sie sich umdrehen, und dann … Aber sie ging direkt auf Frau Dawes' Tür zu und klopfte an.

Als Frau Dawes Jörgen gewahrte, schlug sie die fetten Hände zusammen, zerrte an ihrer Mütze und wollte sich aufrichten,—aber es gelang ihr vor lauter Rührung nicht. Sie sank wieder zurück, weinte glückselig vor sich hin und streckte die Arme aus; Jörgen warf sich hinein, aber zum Kusse kam es nicht.

Sobald ein vernünftiges Wort gesprochen werden konnte, sagte Mary:

"Findest Du nicht auch, Tante Eva, morgen müssen wir beide zu Onkel Klaus?"—"Das einzig Richtige, Kind! Das einzig Richtige. Worauf braucht Ihr zu warten?"—Jörgen strahlte. Mary zog sich zurück, damit die beiden in aller Vertraulichkeit miteinander sprechen könnten.

Als sie wieder zusammenkamen, merkte er, daß die Parole hieß: "Ansehen, aber nicht anfassen!" Das fiel ihm schwer; aber er gab zu, daß einer, der so vermessen gewesen war, im Zaum gehalten werden mußte. Sie wollte selbst über sich verfügen.

In ihrem Triumphgefühl war sie schöner als je. Es erschien ihm wie eine Gnade, daß sie "Du" zu ihm sagte. Das war auch alles, wozu sie sich herabließ. Er wartete und wartete; aber sie gab nicht mehr. Den ganzen Tag nicht. Da nahm er seine Zuflucht zum Klavier und jammerte ganz fürchterlich darauf: Mary machte die Türen auf, damit Frau Dawes etwas hören könne. "Der arme Junge!" sagte Frau Dawes.

1Schweden und Norwegen hatten damals ein gemeinsames Ministerium des Auswärtigen.