Das Perchtenerbe

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Das Perchtenerbe
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Copyright © 2020 Mario Weiß, Yellow King Productions





Mario Weiß



Yellow King Productions



Neuöd – Gewerbepark 12 a



92278 Illschwang





Lektorat: Julia Kathrin Knoll, Oliver Susami





Cover: Marco Rubenbauer





Illustrationen: Benjamin König – Sperber Illustrationen





gesetzt mit SPBuchsatz





ISBN: 978-3-946309-99-4





Dieses eBook ist auch erschienen als:





Printbuch ISBN 978-3-946309-98-7



Hörbuch Download ISBN 978-3-946309-97-0







www.yellow-king-productions.de






PROLOG



Marie stand zitternd am Fenster im Haus ihrer Großmutter und blickte hinaus in die Finsternis. Schreie hallten durch die eisige Nacht. Es war die dunkelste und kälteste Zeit des Jahres. Die Fensterscheiben waren angelaufen, nur schemenhaft erkannte sie eine Gruppe mit gruseligen Masken verkleideter Männer, die durch die Straßen des kleinen Ortes lief. Manche der düsteren Gesellen erinnerten sie an Fantasy-Figuren aus einem Computerspiel, das ihr jüngerer Bruder immer spielte. Sie waren in Fell und Lumpen gehüllt, ihre Augen sahen aus wie zersplittertes Glas, lange schiefe Zähne und große Hakennasen zogen den Blick magisch an. Manche hatten Hörner, gerillt wie bei einem Steinbock. Wildes Glockengeläute hallte zwischen den Häuserwänden wider. Marie wusste, dass der Lärm den Winter vertreiben sollte. Sie zweifelte nicht daran, dass dieses unheimliche Geräusch

alles

 verjagen könnte. Sie selbst wäre auch am liebsten davongelaufen.



Die Zeit, als sie diese Wesen dort draußen für echt hielt, war schon lange vergangen. Doch noch immer jagten sie ihr Schauer über den Rücken. Im Stillen betete Marie darum, dass es bald Mitternacht würde. Dann hätte dieser Spuk endlich ein Ende.





Als sie sich umdrehte, stand ihre Großmutter mit einer Tasse heißer Milch vor ihr. Der Dampf stieg, sich leicht kräuselnd, empor. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Getränk erinnerte sie an die Zeit, als sie auf dem Schoß ihrer Großmutter saß und sich Tränen des Kummers oder des Schmerzes trocknen ließ. Wenn sie die warme Milch in kleinen Schlucken trank, breitete sich ein wunderbar wohliges Gefühl der Geborgenheit in ihr aus.



„Hast du Angst?“, fragte die alte Frau liebevoll.



„Ja, etwas“, antwortete Marie und schielte nach der Tasse. Dann griff sie nach ihr und wärmte sich die Hände an dem bauchigen Gefäß.



Die alte Frau sah ihr tief in die Augen. „Komm mal mit. Ich werde dir etwas zeigen.“



Langsam drehte sie sich um und ging Marie voraus zu einem Zimmer, welches diese noch nie betreten hatte. Früher war es stets verschlossen gewesen. Als ihre Großmutter die Türe ganz öffnete, wich Marie erschrocken einen Schritt zurück. Kalte, grausame Blicke schienen sie zu durchbohren. Aber nein. Marie atmete erleichtert auf. Das waren nur Masken. Das ganze Zimmer war voller Perchta-Masken. Die meisten waren angsteinflößende Schiachperchten, die Masken welche die Gestalten draußen auf der Straße trugen. Doch aus der Ecke links strahlten ihr auch Sonnenmasken entgegen. Vorsichtig betrat Marie den Raum und sah sich die geschnitzten hölzernen Gesichter näher an. Sie alle waren sehr kunstvoll gearbeitet, richtige Meisterwerke. Und jede von ihnen sah unendlich alt aus. Sie waren gut erhalten und ihre Ausstrahlung zeugte von uraltem Wissen. Jede hatte ihren eigenen Charakter. Marie wollte mit den Fingern den Konturen der Gesichter folgen, die tiefen Falten spüren, die Struktur des Holzes. Ihre Hand hob sich, doch sie hielt scheu in der Bewegung inne. Die Masken strahlten eine unantastbare Würde aus. Und mit ihrer Berührung würde Marie diese verletzen. Es käme ihr wie Frevel vor.



„Die Masken sind nicht so alt, wie sie aussehen“, sprach die Großmutter in ruhigem Ton. „Dein Großvater hat sie seit seiner Jugend angefertigt. In jeder freien Minute gab er sich dem Erforschen des Perchtenbrauchtums hin.“



Sie lachte leise auf.



„Ich dachte mir oft, dass er und seine Freunde sich wie kleine Jungen benehmen. Nächtelang habe ich diesen Kindskopf nicht zu sehen bekommen, weil er mal wieder mit einer neuen Idee in seiner Werkstatt verschwand. Ich konnte schon froh sein, wenn er zwischendurch erschien, um gemeinsam mit mir zu essen. Er und seine Freunde versanken in der Mystik, die sie sich rund um das Thema Perchten gebaut hatten. Und wenn er dann nach vielen Tagen wieder zum Vorschein kam, lag eine Erwartung in seinem Blick, die ich nicht enttäuschen konnte.“



Während ihre Augen von einer Maske zur nächsten wanderten, sprach sie andächtig weiter: „Aber ich muss auch gestehen: Jeder dieser Masken wohnt eine spannende Geschichte inne. Dein Großvater konnte sie erzählen, als hätte er sie persönlich erlebt, als wäre er über Jahre hinweg der Weggefährte dieser Figuren gewesen. Seine Gedanken wandelten auf Pfaden, die mir verwehrt blieben. Aber schon seine Leidenschaft bereitete mir unheimliche Freude. Nie hätte ich auf den Glanz in seinen Augen verzichten wollen, wenn er mir seine Fantasien unterbreitete.“





„Woher hatte er die Ideen für die Masken?“, fragte Marie neugierig.



Ihre Großmutter zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Dabei atmete sie tief aus. Sie zeigte auf einen weiteren Stuhl und bedeutete Marie, sich ebenfalls zu setzen.



Dann erklärte sie: „Meist entstanden sie im Gespräch mit seinen Freunden. Sie erzählten sich gruselige Sagen aus dem Mittelalter, in denen es um Wesen aus der Unterwelt ging, um die Sünden der Bauern, und natürlich die Verbrechen der Kirche. Ich weiß nicht, wie viele der Geschichten alte Überlieferungen waren, und wie viel sie selbst hinzugedichtet haben. Eine lebhafte Fantasie hatten sie alle. Meist begann jemand mit einer Geschichte und der Nächste spann sie dann weiter. Sie stachelten sich gegenseitig an. Ihre Erzählungen glichen Theaterstücken.“



Sie lächelte leicht.



„Wichtig war ihnen, dass die Masken Elemente unserer Heimat trugen, dass sie einheimischen Tieren ähnelten oder die Naturelemente repräsentierten. Beim Erzählen schlichen sie mit großen Gesten und weit aufgerissenen Augen durch das Zimmer. Und während sie sprachen, entstand langsam ein Charakter. Hier.“ Die Großmutter zeigte auf einige der Masken.



„Du kannst Gesichter erkennen, aus denen das Wissen über den Lebenskreislauf spricht, Fratzen, die dich vor möglichen Vergehen warnen, die dir Angst einflößen sollen, in manchen wird der Kampf ums Überleben sichtbar, andere drücken Wut über die Unvernunft der Menschen aus. Diese Masken werden Schiachmasken genannt. Sie stehen für die dunkle Zeit des Jahres, für das Vergängliche, das Gestorbene. Ganz anders dagegen wirken die Schönmasken dort drüben. Aus ihnen strahlt die Kraft der Sonne und des Lichts. Sie bringen die Fruchtbarkeit zu den Menschen, die Hoffnung und den Neubeginn.“





Der Blick der Großmutter wanderte langsam über die Wände. An der ein oder anderen Maske verweilte er und für einige Momente schienen ihre Gedanken zu den Geschichten dieser Gesichter abzudriften. Es widerstrebte Marie, sie aus diesen fernen Welten zu reißen. Doch zu viele Fragen drängten sich in ihr hoch. Die Geräusche von draußen nahm sie kaum noch wahr.



Vorsichtig fragte sie: „Ich erinnere mich nicht sehr gut an Großvater. Kannst du ihn mir beschreiben, vielleicht beim Anfertigen der Masken? Wenn sie ihm so wichtig waren, dann sagt das bestimmt eine Menge über ihn aus.“



Der Blick der Großmutter bekam etwas Wehmütiges. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit und ein sanftes Lächeln erschien um ihre Mundwinkel.



„Wie er war, als er sie anfertigte? Ich kann dir etwas über seine Arbeit erzählen. Aber wie er während des Schnitzens war, das weiß ich nicht. Ich wollte nicht in sein Reich eindringen. Es waren seine intimsten Momente, wenn er sich in die Masken vertiefte. Dabei wollte ich ihn nie stören. Mir reichte es, wenn er mir nach der Fertigstellung eines dieser Charaktere davon erzählte. Er sagte immer, dass die Masken bereits in dem Stück Holz stecken, das er bearbeitet. Er musste sie nur freilegen. Ist das nicht verrückt? Ich muss gestehen, dass ich oft vor Bäumen stehen blieb und mir überlegte, welche Gesichter wohl in ihnen verborgen liegen. Und manchmal hatte ich das Gefühl, dass alte Seelen in den Bäumen leben, die mich mit durchdringendem Blick mustern. Mir wurde unwohl in solchen Momenten, und ich ging schnell weiter. Vielleicht hatte dein Großvater ja Recht. Möglicherweise steckten die Figuren tatsächlich bereits im Holz. Nimmst du diesen besonderen Duft wahr?“



Die Großmutter sog die Luft tief durch die Nase ein und atmete dann laut durch den Mund wieder aus.



„Immer musste es Lindenholz sein. Ich könnte es unter zig verschiedenen Holzarten sofort erkennen. Er ist schwer zu beschreiben. Frisch, aber mit einem etwas tranigen Hintergrund. Dieses Holz ist auch gut zu bearbeiten. Es ist weich, gleichmäßig strukturiert, und sehr leicht. Dein Großvater saß Wochen an so einer Maske, manchmal sogar Monate. Das Holz ist ein solch lebendiger Werkstoff, es verändert seinen Charakter mit jedem Ansetzen des Schnitzmessers. Schon wenn er die Rückseite aushöhlte, stellte dein Großvater häufig fest, dass die Maske nur von bestimmten Männern getragen werden könnte. Und beim Ausarbeiten des Gesichtes entstanden plötzlich Falten und Warzen, die niemals beabsichtigt waren. Sie kamen einfach beim Schnitzens zum Vorschein. Wenn dann endlich der letzte Schliff vollendet war, begannen die Malarbeiten. Und denk nur nicht, dass das schnell erledigt war. Nein, auch hier wurde noch einmal viel Zeit investiert. Die dunkle Grundierung trat in den Falten als tiefe Schatten heraus. Wenn die Männer um eine Maske herum saßen und über die Farbgebung diskutierten, entzündeten sie immer Fackeln, um das Spiel des Feuers auf den Gesichtszügen zu studieren. Du würdest nicht glauben, welche Veränderungen da oft stattfanden. Plötzlich traten die Nasen weiter heraus, die Augenhöhlen erschienen beinahe, als könnte man bis ins Innerste der Figur sehen.

 



Ich bin heute noch fasziniert davon, wie die Masken selbst zu leben scheinen. Weißt du, im Laufe der Jahre verändern sie ihr Aussehen, ihre Ausstrahlung. Immer neue Farbschichten scheinen hindurch, die Patina bekommt Risse. Und so entstanden all diese Gesichter, die dich hier ansehen. Du erkennst in ihnen den ganzen Sinn des Lebens.“



Marie hielt gespannt den Atem an. Sie wagte nicht, die Großmutter zu unterbrechen. Wieder schweifte der Blick der alten Frau über die Masken. Dann stand sie auf und ging zu einer, die sehr mächtig wirkte.



Vorsichtig und ehrfurchtsvoll strich sie mit den Fingerspitzen über die hölzerne Stirn.



Wie zu sich selbst sagte sie: „Das hier war seine größte Herausforderung. Es ist die Frau Percht. Manche nennen sie auch die Urmutter, oder die Urgöttin.“



Marie blickte auf die Maske. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und an ihrem gesamten Körper stellten sich die Härchen auf. Sie reagierte auf dieses Gesicht, als könnte es in ihre Seele vordringen, und als würde es über sie urteilen. Es kam ihr vor, als wäre der Blick der Maske direkt auf sie gerichtet.



„Kennst du ihre Geschichte?“, fragte sie mit zitternder Stimme.



„Natürlich, Kind. Denn diese Gestalt hatte großen Einfluss auf unser Leben.“ Wie zur Bestätigung nickte die Großmutter.



„Dein Großvater war ihr verfallen. Er wollte ihr das wiedergeben, was ihr einst von der Kirche und der sogenannten Zivilisation entrissen wurde. Ohne sie hätte er vielleicht nie mit dem Schnitzen begonnen. Möchtest du noch eine Tasse Milch? Wir können es uns gemütlich machen, und ich werde dir diese Geschichte erzählen.“




RAUHNACHT



Die Eiskristalle dieser Raureifnacht überziehen die Äste der Bäume wie spitze Nadeln. Alles ist in der Kälte erstarrt. Die Geräusche des Waldes sind verstummt. Die Tiere haben sich in ihre Verstecke zurückgezogen und warten darauf, dass das Leben erneut Einzug in ihre Welt hält. In der Stille liegt eine Spannung, die nahezu greifbar ist. Dichte Nebelschwaden kriechen tief über dem Boden durchs Geäst und verbreiten eine unheimliche Atmosphäre. Die Schatten der Bäume verwandeln sich in die Konturen nichtmenschlicher Schreckgestalten, nur um im nächsten Moment wieder zu zerfließen. Leise löst sich ein einzelnes vertrocknetes Blatt von einem dürren Ast und segelt, durch das Gewicht der gefrorenen Wassertropfen an seiner Seite beschleunigt, hinab auf die unberührte Schneefläche.





Plötzlich durchbricht ein gewaltiger Tumult die Stille. Lautes Krachen kündigt eine bestialische Meute an, die in halsbrecherischem Tempo durchs Gehölz prescht. Der Boden bebt unter dem Aufprall von Hufen. Schreie, Schnauben und andere angsteinflößende Geräusche sind zu hören, Äste krachen, kleinere Gewächse werden einfach überrannt. Angeführt wird diese Schar von einer wilden, Ehrfurcht gebietenden Frau. Ihre langen braunen Haare wehen im Wind. Dicht an den Hals ihres Pferdes gedrückt, reitet sie durch das Geäst. Dabei presst sie ihre Schenkel fest an den Leib des Tieres, um nicht den Halt zu verlieren. Die Bewegungen des Pferdes werden vollkommen von ihrem Körper aufgenommen, fast scheint sie mit ihm zu verschmelzen. Ihre Kleider, welche aus Fell bestehen, bleiben immer wieder an den spitzen Dornen der Büsche hängen. Doch das hält sie nicht auf. Mit unvermindertem Tempo reitet sie durch den Wald, die Hufe des Pferdes schleudern Eisklumpen und Erde empor. Das Tier schnaubt und Schaum spritzt von seinen Nüstern. Ohne Gnade treibt die Frau, die den Namen Frau Percht trägt, ihr Pferd weiter an.



Ihr Gefolge ist grausig anzusehen. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob diese Wesen menschliche oder tierische Körper haben. Tatsächlich sind die meisten von ihnen Mischgestalten. Teils Mensch, teils Tier. Ihre Körper sind auf die schauerlichsten Arten zusammengesetzt. Schnauzen wie von wilden Keilern verunstalten die Gesichter zierlicher Jünglinge, lange Hörner thronen über mit Warzen bedeckten Gesichtern, muskulöse Männerbeine enden in Hufen. Einige kleidet zottiges Fell, andere besitzen nur eine von Borsten überzogene Haut. Manche dieser Gestalten ähneln Werwölfen, die mit gefletschten Lefzen hinter ihrem Leittier hereilen. Sie strahlen eine Wildheit und Entschlossenheit aus, die kaum zu bändigen ist. Manche kauern, wie ihre Anführerin, ebenfalls auf Pferden, andere wiederum besitzen die Kraft und Schnelligkeit, sich mit eigenen Beinen in dieser Geschwindigkeit fortzubewegen. Sie können nicht von dieser Welt sein. Oder zumindest nicht aus dem von Menschen bewohnten Teil dieser Welt.



Die Zeit eilt. Gerade ist die Sonne untergegangen. Der Spalt zwischen der magischen Unterwelt, aus welcher die Wesen entsprungen sind, und der Oberfläche der Erde wird sich gegen Mitternacht wieder schließen. Und dann wird es zu spät sein, die Aufgabe zu erledigen, derentwegen sie nach oben gekommen sind. Es wird wieder ein Jahr vergehen, in dem die Menschen keine Unterstützung durch die Urmutter erfahren, in dem sie vollkommen auf sich alleine gestellt sind. Und Frau Percht wird weiter in Vergessenheit geraten. Und mit ihr das Wissen um den Kreislauf des Lebens. Das muss sie verhindern.



Jetzt, zu dieser Jahreszeit, kommt fast nie die Sonne zum Vorschein. Die Nacht beherrscht den Tageslauf. Das Leben ist zum Erliegen gekommen. Nun ist es wichtig, dass neue Kraft geschöpft wird, eine Pause eingelegt wird. Die Menschen verstehen dies oft nicht recht. Aber Frau Percht weiß um die Notwendigkeit dieses Rastens. Sie wird die Menschen daran erinnern. Deshalb ist sie nach oben gekommen.





In der Ferne erscheinen die mangelhaften Befestigungsanlagen des Marktfleckens. Ein Erdwall wurde hinter den hölzernen Palisadenpflöcken aufgeworfen, welche die Ansammlung von Häusern umringen. Durch Schnee und Eis sind kaum Farben auszumachen, so dass die Umrisse ineinanderfließen. Doch bis zu dieser Befestigung muss Frau Percht nicht. Im Markt ist das Treiben so laut, sind die Ablenkungen vom Leben so zahlreich, dass ihre Stimme nicht mehr gehört wird. Die Bewohner glauben lieber den Lügen und Versprechungen, die ihnen von den Reichen und der Kirche gegeben werden. Frau Percht hat diesen Ort bereits aufgegeben. Außerhalb der Marktgrenze läuft das Leben jedoch noch anders. Es ist langsamer, bedächtiger. Hier sind die Menschen auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Hier leben sie im Einklang mit der Natur. Hier hören sie noch auf die leise Stimme der alten Götter und ihrer Magie. Und deshalb sind genau sie Frau Perchts Ziel – die ausgelagerten Höfe und der Dorfverband außerhalb des Zaunes.











IN DER ABDECKEREI



Linhart sitzt seinem Vater gegenüber an dem groben Holztisch in der Stube ihres Hofes. Beiden steht der Unmut ins Gesicht geschrieben. Unzählige Male haben sie bereits über dieses Thema gestritten, und auch jetzt schwelt der Streit zwischen ihnen.



„Vater, ich bin es leid, ständig von allen gemieden zu werden. Sie behandeln mich, als ginge ich von Tür zu Tür, um den Schwarzen Tod unter ihnen zu verteilen. Wenn ich ins Dorf komme, verriegeln sie die Läden vor mir, es grenzt beinahe an ein Wunder, wenn mir einer von ihnen etwas verkauft. Niemand ist auch nur bereit, sich mit mir zu unterhalten!“ Eine kleine, noch zarte Zornesfalte steht zwischen seinen Augenbrauen.



Sein Vater erwidert ungeduldig in strengem Ton: „Linhart, wie oft muss ich es dir noch erklären? Wir gehören einfach nicht zur Dorfgemeinschaft. Die Menschen haben Angst vor uns, Angst vor Krankheiten. Und damit haben sie ja auch nicht Unrecht. Auch wenn wir die Überreste unserer Tierkadaver pflichtbewusst sofort verbrennen, bleibt stets eine gewisse Gefahr, dass sich jemand mit Milzbrand oder anderen Krankheiten ansteckt.



Du müsstest es selbst am besten wissen. Denk an deine Mutter, Gott hab sie selig. Nimmst du den Dörflern wirklich übel, dass sie vor dem Gestank zurückschrecken, der von unserem Hof zu ihnen hinüberweht? Er hat sich schon in unsere Kleider hineingefressen, wie Pech klebt er an unserer Haut. Wir haben uns daran gewöhnt. Aber sieh dir die Dorfbewohner an, wenn der Wind schlecht steht. Wie es sie würgt, wie sie sich die Hände vors Gesicht pressen. Gerade, dass sie sich nicht übergeben, wenn der Verwesungsgestank zu ihnen dringt. Sie haben Angst. Das kannst du ihnen nicht verdenken.“



Aufbrausend erwidert Linhart: „Ach ja? Und wenn sie nachts an deine Türe klopfen und verzweifelt um Einlass bitten, haben sie dann auch Angst? Ich habe dir schon so oft geholfen, wenn du alleine nicht zurechtgekommen bist. Wenn jemand von einer Leiter gestürzt ist, und sein Knochen aus dem Fleisch heraussticht, wenn eine alte Frau eitrige und faulende Stellen an den Beinen hat. Und weißt du was? In diesen Nächten habe ich noch nie bemerkt, dass sich auch nur einer von ihnen Gedanken über die Krankheiten macht, die er sich hier einfangen könnte.“



Seine Augen sprühen vor Wut.



„Hast du keinen Stolz? Wenn sie nachts heimlich deine Hilfe in Anspruch nehmen, sollten sie dir dann nicht auch bei Tageslicht Respekt entgegenbringen? Du hast es verdient!“



Etwas resigniert, aber doch eindringlich antwortet sein Vater: „Wir wollen dankbar sein, dass sie zu mir kommen. Sie bezahlen mich mit Werkzeug, mit Essen, mit Bier. Ohne dieses Zubrot ginge es uns bei weitem schlechter.“



Doch Linhart lässt sich nicht beruhigen.



„Ja, natürlich. Wir wollen dankbar sein. Wofür, Vater? Wofür? Dafür, dass du sie heimlich behandeln musst? Weil es dir verboten ist, ihnen Hilfe zu bieten? Weil dies die Aufgabe der Reichen und Gelehrten in den Städten ist? Weil Gesetze besagen, dass du gehängt wirst, wenn du dein Wissen zum Wohle der Bewohner einsetzt?“



Mit einem lauten Schlag lässt der Vater seine Faust auf den Tisch krachen.



„Nun reicht es aber! Geh und erledige deine Arbeit! Such im Wald nach trockenem Fallholz. Wir werden an unserer Lage nichts ändern. Und so schlecht ist sie auch gar nicht. Immerhin sind wir noch besser dran als das fahrende Volk.“



Verbittert erwidert sein Sohn: „Natürlich. Ich werde gehen. Aber denk darüber nach: Für ein Zusammenleben im Dorfverbund sind wir nicht gut genug. Uns wird niemand helfen, wenn unser Hof brennt, wenn einer von uns erkrankt oder wir von einfallenden Truppen angrenzender Herzogtümer angegriffen werden. Aber wenn sie deine Hilfe benötigen, schleichen sie sich verstohlen zur Hintertür herein. Nach allen Seiten sichern sie sich ab, damit sie nur ja nicht beobachtet werden. Du schenkst ihnen Leben, du erleichterst ihnen den Alltag. Führe dir das doch einmal vor Augen.“



Der Vater gibt ein lautes Schnauben von sich.



„Ja, ich schenke ihnen Leben. Aber es gibt auch noch die andere Seite. Ich bringe ihnen genauso den Tod. Das vergisst du anscheinend. Selbst wenn es nicht oft vorkommt, so geschieht es doch von Zeit zu Zeit, dass ich als Henker dienen muss. Wer sieht schon gerne dem Tod ins Auge, dem grauen Schatten, der ständig drohend über einem hängt, der einen daran erinnert, dass unser Dasein begrenzt ist? Er ist unser ständiger Begleiter. Die Bürger verschließen ihre Augen vor der Vergänglichkeit. Und deshalb auch vor mir.“



Linhart schüttelt den Kopf.



„Und das rechtfertigt, dass sie dir keinen Zugang zum Wirtshaus gewähren? Dass du später einmal kein ordentliches Begräbnis erhältst? Sind wir auf ewig dazu verdammt, hier, abseits allen anderen Lebens, unser Dasein zu fristen? Obwohl du für die Menschen im Dorf einen so großen Nutzen hast?“



Der Vater zuckt hilflos mit den Schultern.



„Es ist, wie es ist. Zumindest gelte ich nicht als Dieb wie der Kesselflicker, oder der Geldeintreiber. Und auch nicht als Feigling, wie der Schäfer.“



Linhart presst die Lippen aufeinander.



Dann sagt er verdrossen, mehr zu sich selbst: „Ja. Aber trotz allem sind wir auf uns gestellt. Weil wir alleine sind, müssen wir hart sein, dürfen kein Nachsehen mit schwachen Kreaturen haben, müssen uns Gefühlen gegenüber verschließen, um nicht angreifbar zu sein. Seit ich klein bin, höre ich dich das immer und immer wieder sagen. Du magst damit zufrieden sein, aber ich bin es nicht.“

 



Damit dreht er sich um und verlässt das Haus, um seine Arbeit zu erledigen. Zu oft schon haben sie über dieses Thema gestritten. Es ändert sich nichts. Mit weit ausgreifenden Schritten läuft er in Richtung Wald. Er will die Stimme seines Vaters verdrängen, vergessen.





Aber seine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Er möchte sich mit seinem Los nicht abfinden. Er bekommt von allen Seiten zu hören, dass ihm sein Leben vorgegeben ist. Die Kirche predigt, dass die Stellung im Leben ein Schicksal sei, dem niemand entkommen könne. Aber Linhart möchte sich dem nicht fügen. Es kann doch nicht Gottes Wille sein, dass man sich einfach in alles ergibt. Einem Gott, dessen grenzenlos