Nalanthia

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Nalanthia

Gefahr aus dem Nebel

Bianca Maria Panny


Impressum

© 2014 Bianca Maria Panny

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1468-2

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


-1-

Graue Wolkendecken hatten sich wie ein unendlich großer Schleier über den Himmel Nalanthias ausgebreitet, der für die Bewohner nur noch wenig Sonnenlicht durchdringen ließ. Kalte Winde kennzeichneten die Tage und kündigten den schon bald kommenden Winter an. Die Schlacht mit den Schalkaanen lag nun drei Monate zurück, und noch immer zeugte ein gewaltiger See aus Eis davon, wie die finsteren Kreaturen damals ihr Ende gefunden hatten. Dieser befand sich unmittelbar vor dem großen Feenwald, ein endloses Grün aus Bäumen und Sträuchern, das sich über mehrere Kilometer sowohl nach Osten als auch nach Westen hin ausbreitete. Auf der anderen Seite des Waldes erhob sich jedoch ein riesiger Hügel aus der flachen Ebene, und auf der Schlossmauer des prachtvollen Bauwerks, das von diesem Hügel getragen wurde und majestätisch in den grauen Himmel ragte, stand gerade ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen wacher Blick in die weite Ferne gerichtet war. Der Wind, den der kalte Morgen mit sich brachte, wehte ihm das goldblonde Haar ins Gesicht, doch das hielt es nicht davon ab, weiterhin gebannt Ausschau zu halten. Der Anführer der Feen, der zusammen mit einer kleinen Gruppe aus tapferen Feenkriegern auf eine Reise in das weitaus größere Feenreich Hollundis aufgebrochen war, ließ sich allerdings immer noch nicht blicken. Die Tatsache, dass ihre bereits ungeduldig erwartete Rückkehr länger ausblieb als angenommen, bereitete nicht nur dem Mädchen, sondern auch allen anderen Zauberern im Schloss und auch den zurückgebliebenen Feen allmählich Sorgen.

„Na, Mira? Immer noch keine Spur von ihnen?“ Die freundliche Stimme, die Mira schließlich aus den Gedanken riss, gehörte einer bildschönen, schwarzhaarigen Frau, die sich nun ebenfalls auf die Schlossmauer begeben hatte.

„Nein, nicht die geringste“, erwiderte Mira darauf, bevor sie Nari einen besorgten Blick zuwarf. „Denkst du, ihnen könnte vielleicht etwas zugestoßen sein? Ich meine, wir befinden uns schließlich mitten im…“

„Krieg?“, führte Nari Miras Andeutung zu Ende. „Ach was, denen geht es sicher bestens. Du machst dir zu viele Sorgen, Mira. Bestimmt haben die Feen in Hollundis sie nur mit ihrem ewigen Geschwätz aufgehalten. Und was den Krieg betrifft, hatte Melron womöglich nach seiner Niederlage die Hosen gewaltig voll und ist vor Scham im Erdboden versunken. Es ist immerhin drei Monate her, seit er den letzten Angriff auf uns ausgeübt hat.“ Mira bewunderte ihre Freundin dafür, dass sie in einer derartigen Situation so optimistisch sein konnte. Sie jedenfalls bezweifelte, dass der Kampf gegen die Schalkaane der letzte gewesen war, behielt ihre Vermutung vorerst aber für sich. Die beiden ließen ein letztes Mal ihren Blick in die Ferne schweifen, und als sie zu der Erkenntnis kamen, dass dort wohl auch in den nächsten Stunden nichts Außergewöhnliches passieren würde, beschlossen sie, die Schlossmauer zu verlassen.

„Lass uns lieber hineingehen und nach Cornelius sehen“, schlug Nari der Vierzehnjährigen vor. „Wer weiß, vielleicht hat er inzwischen etwas herausgefunden, das uns weiterhelfen könnte.“

*


Wie erwartet, fanden Mira und Nari ihren Freund in der großen Bibliothek des Schlosses vor, deren ungeheure Ausmaße das Mädchen immer wieder ins Staunen versetzten. Der Mann stand mit dem Rücken an ein hohes Regal gelehnt und überflog gerade die Seiten eines recht dicken Buches. Es war allerdings nicht zu übersehen, dass auch dieses keine wissenswerten Informationen über das Gesuchte beinhaltete, da er keiner einzigen Seite nähere Beachtung schenkte, ehe er das Buch schließlich zuklappte und zurück ins Regal stellte. Als der Mann die Ankömmlinge erblickte, bedachte er sie mit einem knappen Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand, nachdem sich Mira und Nari mit schnellen Schritten zu ihm gesellt hatten. Die beiden sahen ihm an, dass er vor einem Rätsel stand.

„Und Nelchen?“, fragte Nari dennoch. „Immer noch kein Erfolg, was?“

„Sieht ganz danach aus“, bestätigte Cornelius ihre Vermutung. „Bei all den Büchern hier sollte man meinen, wenigstens ein einziges finden zu können, in dem etwas über den Drachenflüsterer nachzulesen ist. Aber nichts. Ich fürchte, die Seherin ist bis heute die einzige geblieben, die das meiste Wissen darüber verfügt.“ Bei den Worten ihres Freundes schüttelte Nari vorwurfsvoll den Kopf. „Ach, Cornelius. Glaubst du etwa immer noch, dass diese alte Tante jemals über irgendetwas das notwendige Wissen verfügt hat? Es liegt doch auf der Hand, dass diese Seherin, wie sie sich selbst nannte, nicht alle Zweige am Baum hatte, wenn du verstehst, was ich meine.“

„ Nari“, versuchte Cornelius, sie zu beruhigen, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Komm schon, Cornelius. Du denkst doch genauso wie ich. Ich meine, selbst wenn sie damals mit ihrer Prophezeiung die Wahrheit gesagt haben sollte, hätte sie uns doch wenigstens Genaueres über den Drachenflüsterer erzählen müssen. Aber wie du weißt, hat sie uns einfach so im Ungewissen stehen lassen. Und jetzt, da es tatsächlich so weit gekommen ist, kann unsere arme Mira hier nur allein versuchen, das Richtige zu tun, ohne überhaupt zu wissen, wie!“ Die Frau schwieg einen Augenblick, und als Mira und Cornelius immer noch nichts darauf erwiderten, fügte sie hinzu: „Bin ich etwa die einzige im ganzen Schloss, die das erkannt hat?“ Mira konnte nach diesem „Vortrag“ nichts anderes tun als Cornelius einen irritierten Blick zuzuwerfen. Dieser sah genauso sprachlos zurück, bevor er Nari schließlich prüfend betrachtete und endlich wieder den Mund aufmachte. „Nari? Wie viele Tassen Tee hast du heute eigentlich schon getrunken?“

„Nur fünf“, antwortete sie sofort. „ Aber was hat das damit zu tun?“

„Nichts. Überhaupt nichts“, sagte Cornelius leicht amüsiert.

Dann zwinkerte er Mira vergnügt zu, die sich das Lachen verkniff, bevor ihr endlich auffiel, dass Cornelius kleiner Gefährte nirgendwo zu sehen war. „Wo ist eigentlich Nesso?“, wollte das Mädchen wissen.

„Wo soll er schon sein?“, kam Nari dem Mann mit einer Antwort zuvor. „Vermutlich plündert er gerade die Schlossküche leer.“

„Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er dort hinter den Regalen zwei Reihen weiter“, sagte Cornelius zu Mira, ohne auf Naris Bemerkung einzugehen. „Sehen wir lieber mal nach, ob er auch keine Dummheiten anstellt.“ Die drei Freunde begaben sich zu den Regalen, hinter denen Cornelius Nesso vermutete. Dort fanden sie tatsächlich eine kleine Eidechse mit Flügeln vor, die auf einem aufgeschlagenen Buch lag, das sich auf einem Holztisch befand. Der Anblick, der sich ihnen bot, kam für Mira mehr als unerwartet, vor allem die Tatsache, dass Nesso sichtlich bemüht war, die geschriebenen Zeilen Stück für Stück zu entziffern, überraschte sie sehr. „Du meine Güte“, entfuhr es Nari sofort. „ So etwas sieht man vermutlich nicht alle Tage.“

„Das kannst du laut sagen“, stimmte Cornelius ihr zu, ehe er zusammen mit ihr und Mira näher an den Tisch herankam und beobachtete, wie Nesso seinen Kopf hob und seine Freunde mit einem breiten Grinsen bedachte. Mira konnte nicht anders, als ihn sogleich auf das Buch vor seiner Nase anzusprechen. „Ich wusste gar nicht, dass du lesen kannst, Nesso“, sagte sie. „Tja, da siehst du mal, wie sehr du mich unterschätzt hast, meine Liebe“, erwiderte Nesso selbstzufrieden. „ Aber ich habe ja schon immer gesagt, dass ich eine hochintelligente, fliegende Eidechse bin.“

„Nesso wollte mir unbedingt bei der Suche nach Informationen behilflich sein“, fügte Cornelius hinzu. „ Manchmal muss ich wirklich zugeben, dass er ein wahrhaft treuer Gefährte sein kann.“ Nari runzelte jedoch die Stirn und betrachtete die kleine Eidechse misstrauisch. „Ist das so? Hast du vielleicht schon etwas Interessantes herausgefunden, das uns weiterhelfen könnte?“ Nesso wirkte plötzlich ein wenig verlegen. „Äh, nein. Eigentlich nicht. Hier gibt es kein einziges Buch, das Hinweise auf den Drachenflüsterer enthält. Wenn ihr mich fragt, ist das alles reine Zeitverschwendung. Wir sollten lieber etwas essen gehen.“ Nari dachte allerdings nicht daran, locker zu lassen. Dafür kannte sie Nesso einfach viel zu gut. „Lässt du mich dieses Buch mal sehen?“, bat sie die Eidechse stattdessen, ehe sie schließlich selbst danach griff. Sofort warf sich Nesso auf die aufgeschlagenen Seiten und klammerte sich daran fest. „Aber das ist doch alles nur langweiliges Zeug!“, versuchte Nesso die Frau davon abzuhalten, weshalb auch Mira und Cornelius allmählich misstrauisch wurden. Nari schüttelte ihn allerdings von dem Buch ab und betrachtete die Seiten, die er versucht hatte, zu verbergen, ehe sie die fett gedruckte Überschrift laut vorlas, sodass die anderen den Inhalt leicht erraten konnten.

„Wie man am schnellsten die beste Apfelcremetorte der Welt kreiert.“

Mit einem selbstgefälligen Grinsen hielt die schwarzhaarige Frau ihrem Freund das Backrezept unter die Nase, der sprachlos auf das Bild starrte, auf dem eine zweistöckige, reichlich verzierte Apfelcremetorte zu sehen war.

 

Beim Anblick Nessos, der sich sichtlich am liebsten unter den Holztisch verkrochen hätte, konnte Mira nur mit Mühe einen Lachanfall unterdrücken. Seit sie Nesso zum ersten Mal begegnet war, hatte er sich kein bisschen verändert. „Soso“, sagte Nari schließlich triumphierend. „ Das macht deiner Meinung nach also ein treuer Gefährte? Stundenlang Bilder in einem Backbuch anstarren und sie auch noch vollsabbern?“ Cornelius warf der Eidechse einen mehr als wütenden Blick zu, bevor er endlich seine Stimme wieder fand. „Nesso? Würdest du mir freundlicherweise verraten, was eigentlich in dir vorgeht?“ Die Eidechse sah beschämt zu Boden und ließ ihre kleinen Flügel hängen. „Was soll ich bloß mit dir machen? Wir müssen herausfinden, wie ein Zauberer wie Melron am besten aufzuhalten ist, und was machst du? Du denkst wieder mal nur ans Essen!“

„Was nebenbei bemerkt vielleicht sinnvoller wäre, als es sich anhört“, warf Nari zur großen Verwunderung ihres Freundes ein.

„Was willst du damit sagen?“, wollte Cornelius von ihr wissen, doch Mira war inzwischen schon bekannt, was Nari über die Sache mit Melron dachte. „ Ich sage dir jetzt, was ich auch Mira schon gesagt habe. Es könnte durchaus sein, dass Melron es sich nach unserem Sieg über die Schalkaane anders überlegt hat. Drei Monate, und noch immer kein Anzeichen von ihm. Das ist doch eigenartig, findest du nicht?“ Cornelius teilte ihre Meinung allerdings nicht. „Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen, Nari. Ich würde es lediglich als die Ruhe vor dem Sturm bezeichnen. Melron führt etwas im Schilde, da bin ich mir sicher. Die nächste Gefahr wird schneller über uns hereinbrechen, als uns lieb ist. Melron und aufgeben? Das passt einfach nicht zusammen, so schön es auch klingt.“ Der Mann schwieg einen Moment, während Mira innerlich spürte, dass ihr Freund mit seiner Vermutung mehr als richtig lag. Es stellte sich nur die Frage, wann genau der besagte Sturm losbrechen würde.

„ Also wenn ihr mich fragt“, wagte Nesso es, wieder den Mund aufzumachen, „sollten wir alle in die Schlossküche gehen. Vielleicht gibt es sogar Kuchen.“

„Gute Idee“, sagte Nari sarkastisch. „ Und dort werfen wir dich dann höchst persönlich in den Kochtopf und machen aus dir Eidechsensuppe!“ In diesem Moment war im ganzen Schloss der Klang von Trompeten zu vernehmen, der offenbar wichtigen Besuch ankündigte. Schnell eilten die Freunde zu den Fenstern der Bibliothek, von denen aus man einen guten Blick auf den großen Feenwald hatte. Mira konnte dahinter mehrere schwarze Kutschen erkennen, die von fliegenden Pferden gezogen wurden und nur wenige Augenblicke zuvor auf festem Boden gelandet waren. „Die Feen!“, rief Nari aufgeregt. „ Die Feen sind endlich zurückgekehrt!“

-2-

Im prunkvollen Thronsaal des Schlosses herrschte angesichts der lang erwarteten Rückkehr des Feenanführers und seiner Begleiter große Aufregung. Viele Zauberer hatten sich dort eingefunden, um alles über ihre Reise in Erfahrung zu bringen. Auch Mira stand mit Cornelius, Nari und Nesso an dem langen Tisch, der die Mitte des Saals ausfüllte, und gemeinsam beobachteten sie das Geschehen um sie herum. Der König saß wie gewohnt auf seinem Thron und hieß die Ankömmlinge im Schloss herzlich Willkommen. An seiner Rechten konnte Mira ihren Vater ausmachen, der einst zu den Wächtern Nalanthias gehört hatte, die im letzten Krieg gegen Melron in den Kampf gezogen waren. Die vier jetzigen Wächter standen an der linken Seite des aus purem Gold geformten Thrones. Die Kraft und die Anmut, die ein jeder von ihnen ausstrahlte, verrieten jedem, der sie zu Gesicht bekam, wer sie waren. Mira konnte immer noch nicht glauben, dass ihr ausgerechnet von ihnen das Zaubern beigebracht wurde. Vor drei Monaten, als die Armee der Schalkaane über das Land gefegt war, hatte sie bereits mithilfe der Lichtkraft einen Blitz erzeugt, der bei den Angreifern für eine böse Überraschung gesorgt hatte. Seither übte das Mädchen fast täglich mit den Wächtern ihre magischen Fähigkeiten, die angeblich irgendwo tief in ihr schlummerten und nur darauf warteten, zum Vorschein zu kommen. Isabelle hatte Mira inzwischen gezeigt, wie sie eine feste Eisschicht über kleinere Gegenstände erzeugen konnte. Mit Amara formte sie Wasserbälle, die von Mal zu Mal größer wurden, während Blin, der Lichtwächter, mit Mira da Erzeugen von Blitzen trainierte und auch Übungen in Bezug auf Treffsicherheit nicht ausließ. Philipp hatte ihr sogar beigebracht, eine Flamme in ihrer Hand aufleuchten zu lassen, wobei er von Miras Vater unterstützt wurde, da dieser ebenso über die Kraft des Feuers verfügte. Mira lernte schnell, doch ihrer Meinung nach nicht schnell genug, um es jemals mit einem Zauberer wie Melron aufnehmen zu können. Im Augenblick waren es jedoch nicht die Wächter Nalanthias, die im Mittelpunkt standen, sondern die zuvor eingetroffenen Feen, die nun den Anwesenden ihre Neuigkeiten überbringen wollten. Als der Anführer der Feen das Wort an alle richtete, herrschte vollkommene Stille. „Euer Majestät, sehr geehrte Zauberer“, begann er. „Zunächst einmal möchte ich euch im Namen meiner Begleiter und mir mitteilen, wie sehr es uns freut, wieder hier zu sein. Doch die Nachricht, die wir euch bringen, ist alles andere als erfreulich. Als wir die Feen in Hollundis über die letzten Geschehnisse in Kenntnis setzen und ihnen den Ernst der Lage klar machen wollten, erfuhren meine Krieger und ich nämlich, dass sie bereits mit den Konsequenzen von Melrons Rückkehr konfrontiert worden sind.“ Einige Zauberer begannen bei diesen Worten leise zu murmeln, verfolgten aber weiterhin die Erzählung des Feenanführers.

„Melron hat nun endgültig bewiesen, dass seine Fähigkeiten nicht zu unterschätzen sind, vor allem jetzt, da er den Stab der Verdammten besitzt.

Seine Niederlage in der Schlacht vor drei Monaten hat seine Wut auf uns nur noch mehr entfacht, und nun treiben neue bösartige Wesen unter seinem Befehl in ganz Nalanthia ihr Unwesen.“ Dieses Mal sprachen die Zauberer lauter miteinander, Mira sagte jedoch nichts und wartete mit ihren Freunden darauf, dass der Anführer der Feen mit seinem Bericht fortfuhr. „Was sind das für Wesen, von denen Ihr da sprecht?“, wollte der König von seinem Gegenüber wissen. Wieder antwortete nur der Anführer selbst, während die anderen beiden Feenkrieger, die in das Schloss gekommen waren, schweigsam hinter ihm standen. „Schreckliche, dämonenartige Wesen, die den Nebel mit sich bringen und ihren Gegnern jeden noch so klaren Verstand rauben. Für alle, die ihnen zu nahe kommen, bedeutet dies meist den sicheren Untergang. Diese Kreaturen bringen nichts als Schrecken und Verderben mit sich, und Melron hat sie gegen uns aufgehetzt!“ Im Thronsaal herrschte großes Durcheinander. Niemand hatte mit solchen Neuigkeiten gerechnet. Sicher wussten alle, dass der Krieg gegen den dunklen Zauberer bedeutete, sich nie da gewesenen Gefahren zu stellen, und dennoch kennzeichnete große Furcht die Gesichter der Anwesenden. Mira warf Cornelius und Nari einen besorgten Blick zu, bevor sie die beiden darauf ansprach. „Habt ihr von solchen Wesen schon jemals zuvor gehört?“ Ihre Freunde schwiegen einen Moment, ehe Cornelius dem Mädchen eine Antwort gab. „Ich habe schon oft Geschichten über sie gelesen, Mythen und Legenden, die von den so genannten „ Nebelreitern“ erzählen.“

„Nebelreiter?“, fragte Mira ungläubig.

„Weil sie sich im Nebel fortbewegen. Im Gegensatz zu allen anderen können sie im Nebel am besten sehen. Eine Fähigkeit, die sie gut und gern als Waffe gegen ihre Feinde

benutzen.“

„Ja, und in den meisten Aufzeichnungen über sie werden die Nebelreiter als Wesen beschrieben, deren Körper meist mit dem Nebel verschmolzen sind“, fügte Nari hinzu. „ Mit anderen Worten: sie sind so gut wie unsichtbar.“

„Was? Und wie kann man sie dann besiegen?“, wollte Mira von ihnen wissen.

„ Nari und ich haben es noch nie mit solchen Kreaturen zu tun bekommen, Mira“, sagte Cornelius. „ Ich kenne niemanden, der das Gegenteil behaupten könnte. Um ehrlich zu sein, hielt ich die Geschichten über die Dämonen, die in den Nebelbergen ihr zu Hause haben sollen, für reine Hirngespinste. Recht unterhaltsam vielleicht, aber nicht für glaubhaft.“ Auch Nesso, der sich auf der Schulter des Mannes befand, machte seit Längerem wieder den Mund auf. „Und außerdem“, sagte er zu Mira, „Wer behauptet, dass man sie besiegen kann?“ Mira und ihre Freunde unterbrachen ihre Unterredung, als sie merkten, dass es um sie herum allmählich ruhiger wurde. Die Anwesenden waren vom König gebeten worden, still zu sein, bevor er dem Anführer der Feen wieder eine Frage stellte. „Was haben diese … diese Wesen mit Eurem Besuch des anderen Feenreiches zu tun?“ Der Feenanführer klang besorgter denn je, als er dem König eine Antwort gab.

„Nachdem wir von den Feen von Hollundis in Empfang genommen worden waren, berichteten sie uns davon, dass sie in den letzten Wochen immer wieder von einem seltsamen Nebel heimgesucht worden waren, der stets versucht hätte, in ihr Reich einzudringen, ganz so, als steckte Leben in ihm. Natürlich war Hollundis selbst ausreichend geschützt, doch außerhalb sollte keine Fee mehr sicher sein.“ Auch das Gesicht des Königs hatte nun an Farbe verloren, dennoch musste er mehr erfahren.

„Habt Ihr und Eure Begleiter vielleicht selbst diesen Nebel zu Gesicht bekommen?“

Mira sah mit wachsendem Unbehagen, dass der Anführer der Feen nickte.

„Am Tag unserer Abreise von Hollundis mussten wir einsehen, dass die besagten Erzählungen nicht auf Lügen beruhten. Dichte Nebeldecken hüllten mich und meine Gefährten ein, auch einige andere Feen, die uns bis zu unseren versteckten Kutschen außerhalb ihres Reiches begleiteten, wurden mit dieser unbekannten Gefahr konfrontiert. Als wir bemerkten, dass der Nebel uns ständig verfolgte, bewegten wir uns immer schneller. Seltsame Geräusche waren in der Luft zu vernehmen, wie Angstschreie klangen sie, gedämpft durch den Nebel, in unseren Ohren. Obwohl unsere Sicht immer mehr getrübt worden war, gelangten wir zu den Kutschen, doch etwas ließ uns nicht fort, etwas zog uns zurück. Wir dachten schon, es wäre unser Ende, als plötzlich eine Gestalt auf uns zukam, der es zu unserer Verwunderung gelang, den Nebel mithilfe magischer Beschwörungen zu vertreiben. Nicht alle Feen, die uns begleitet hatten, so mussten wir feststellen, waren bei den Kutschen angekommen. Bevor wir uns endgültig von diesem Ort verabschiedeten, konnten meine Begleiter und ich deutlich zwei leuchtend grüne Augen erkennen, die uns vom schwindenden Nebel aus hasserfüllt anstarrten.“ Als er mit dem Bericht geendet hatte, wagte es zunächst niemand, etwas zu sagen. Auch Mira musste nach dieser Erzählung erst einmal ihre Gedanken ordnen, ein Blick auf ihre Freunde genügte, um zu wissen, dass es ihnen ähnlich erging. Jeder Zauberer im Thronsaal spürte, dass die Lage ernst war, wie sie damit umgehen sollten, war allerdings eine andere Frage.

„Diese Gestalt, von der Ihr gesprochen habt“, setzte der König dem Schweigen endlich wieder ein Ende. „ Sie ist, so nehme ich an, mit euch ins Schloss zurückgekommen.“

„Ja, das ist sie. Sie sagte uns, es sei von größter Wichtigkeit, sie ins Königreich mit zu

nehmen, und da sie uns vor den Kreaturen des Nebels bewahrt hat, war es das Mindeste, ihrer Bitte nachzukommen.“ Mira überlegt bei seinen Worten, wen der Anführer der Feen mit sie gemeint haben konnte, als plötzlich wie aufs Stichwort die Türen zum Thronsaal geöffnet wurden und eine alte, klein gewachsene Frau den riesigen Raum betrat. Sofort zog sie alle Blicke auf sich, auch Mira musterte die Unbekannte genauer. Das Erste, was dem Mädchen auffiel, war die Tatsache, dass sie für eine alte Frau noch ungewöhnlich gut in Form war. Zwar wusste Mira inzwischen, dass das Wort „alt“ in Nalanthia eine ganz andere Bedeutung hatte als in der Menschenwelt. Die langen Haare dieser Frau, die ebenso grau waren wie die des Königs, bewiesen allerdings, dass sie viel mehr erlebt haben musste, als Cornelius und Nari zusammen. „Na wen haben wir denn da?“, sagte Cornelius amüsiert. „Wenn das mal nicht deine beste Freundin ist, Nari.“ Die Miene der schwarzhaarigen Frau verfinsterte sich augenblicklich, als sie ebenso wie alle anderen im Saal die Besucherin dabei beobachtete, wie sie auf den vergoldeten Thron zuschritt. Der König setzte sogleich ein freundliches Lächeln auf, nachdem er die Frau erkannt hatte, und als sich diese schließlich verbeugte, begrüßte er sie herzlich. „Meine verehrte Seherin! Lange ist es her seit Eurem letzten Besuch in meinem Schloss. Ich freue mich, Euch wieder zu sehen, wenn auch die gegebenen Umstände nicht die besten sein mögen. Sagt mir doch, was Euch zu uns führt.“ Alle Anwesenden lauschten gebannt, als die Seherin zu sprechen begann. „Die Umstände sind wahrhaftig nicht die besten, mein König. Ein weiterer Krieg hat begonnen, so wie ich es damals prophezeit habe. Melron ist mithilfe des Stabes tief in die Nebelberge vorgedrungen und hat die Nebelreiter in den Kampf gerufen. Aber das ist längst nicht alles, was wir zu befürchten haben.“

 

„Woher nehmt Ihr diese Informationen?“, fragte der König über das Gemurmel hinweg, das durch die Worte der Frau entstanden war. „ Habt Ihr in die Zukunft gesehen?“

„ Ich hatte eine Vision“, sagte die Seherin. „ Melron versucht herauszufinden, wo sich die letzten schwarzen Drachen aufhalten. Und er wird sie schon sehr bald finden.“

„Drachen?!“ Nach diesen Worten konnte man im Thronsaal nicht mehr auf Ruhe hoffen. Laute Rufe des Entsetzens waren zu vernehmen, keiner von ihnen wollte begreifen, was die Seherin ihnen gerade offenbart hatte. „Da haben wir unseren Sturm“, sagte Cornelius zu seinen Freunden. „Und er sieht noch schlimmer aus, als ich gedacht habe.“

„Bist du verrückt geworden?“, wollte Nari von dem Mann wissen. „Drachen? Richtige, putzmuntere Drachen? Und das glaubst du dieser alten Tante auch noch?“

„Aber wenn sie doch Recht hat?“, gab Mira zu bedenken, obwohl sie selbst nicht ganz davon überzeugt war. Die Vierzehnjährige wusste von Cornelius und Nari schon seit Längerem, dass Drachen bereits seit über hundert Jahren als ausgestorben galten. Doch in Zeiten wie diesen schien schließlich nichts mehr unmöglich zu sein. „Ja, Nari“, stimmte Nesso dem Mädchen unvermittelt zu. „Immerhin hat sie uns auch mit der Vorhersage von Melrons Rückkehr keine Lügen aufgetischt.“

„Und woher wusste sie wohl davon?“, erwiderte Nari unbeeindruckt darauf.

„So langsam habe ich nämlich das Gefühl, dass diese Frau mit ihm unter einer Decke steckt!“ Um sie herum hatten sich die Zauberer von dieser Nachricht immer noch nicht beruhigt, dennoch deutete Cornelius der schwarzhaarigen Frau, nicht so laut zu sprechen. Als der König wieder eine Frage an die Seherin richtete, verstummten die Anwesenden allerdings wieder, um dem Gespräch folgen zu können. „Ihr wollt also damit sagen, dass es tatsächlich noch immer Drachen irgendwo in Nalanthia gibt?“

„ Das letzte Mal, als sich diese mächtigen Geschöpfe in den Reichen Nalanthias blicken ließen, brach eines Tages ein großer Krieg unter ihnen aus.


Wie ihr ja sicher aus Erzählungen wisst, gab es zwei durchwegs unterschiedliche Arten von Drachen, und eben diese Gegensätzlichkeiten führten schließlich auch zu ihrem immer größer werdenden Hass aufeinander. Viele dieser Geschöpfe wurden im Verlauf ihrer Machtkämpfe von den eigenen Artgenossen vernichtet, und es endete damit, dass die von Natur aus wesentlich warmherzigeren Feuerdrachen die letzten noch übrigen schwarzen Drachen aus ihrem Gebiet verbannten. All das liegt natürlich schon mehr als hundert Jahre zurück, doch die Drachen sind damals nicht einfach so vom Erdboden verschluckt worden. Sie haben sich lediglich von der Außenwelt zurückgezogen und leben seither in vor uns verborgenen Reichen, weit weg von der jeweils anderen Art. Und so viel ist sicher: Wenn Melron erst einmal das Versteck der schwarzen Drachen findet, werden wir weitaus mehr Unterstützung brauchen, sollten wir vorhaben, das kommende Grauen aufzuhalten.“

„Aber wie sollen wir etwas gegen Drachen ausrichten können?“, fragte einer der Anwesenden ungläubig. „ Das ist vollkommen unmöglich!“

„Nichts ist unmöglich“, erwiderte die Frau darauf. „Alles, was ihr braucht, ist jemanden, der ein reines Herz hat und die einzigartige Gabe besitzt, mit Drachen zu reden. Was ihr braucht, ist…“ Die Seherin hielt plötzlich inne, schloss stattdessen ihre Augen und streckte beide Hände aus. Mira wollte ihre Freunde schon fragen, was es damit auf sich hatte, als die Frau erneut das Wort an alle richtete.

„ Mir scheint, ihr habt diesen Jemand schon gefunden“, sagte sie, ohne dabei ihre Augen

zu öffnen. „ Ich kann es deutlich spüren. Der Drachenflüsterer ist hier in diesem Saal.“

Noch immer die Augen geschlossen haltend, schritt die Seherin auf den großen Tisch zu,

während einige Zauberer ihr nur verwundert Platz machten und sie dabei beobachteten,

wie sie sich dem Mädchen mit den goldblonden Haaren mehr und mehr näherte. Als sie direkt vor ihr stehen blieb, widerstand Mira nur mit Mühe der Versuchung, zurückzuweichen. Sie sah stattdessen zu, wie ihr Gegenüber endlich wieder die Augen öffnete, die Mira ehrfürchtig anfunkelten.

„Das ist sie!“, rief die Seherin begeistert. „ Die Drachenflüsterin! Diese junge Dame hier ist die Lösung all unserer Probleme!“ Mira konnte deutlich spüren, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren, sie konzentrierte sich aber nur auf die Worte der Frau, die unmittelbar vor ihr stand.

„Wie ist dein Name, meine Liebe?“, wollte sie von dem Mädchen wissen.

„Ich heiße Mira“, antwortete sie, woraufhin die Seherin ihr ein freundliches Lächeln schenkte, ehe sie sich beim Sprechen wieder dem König zuwandte. „Um Melron ein für alle Mal aufhalten zu können, gibt es nur eine Möglichkeit: Ihr müsst das verborgene Reich der Feuerdrachen ausfindig machen und sie um Hilfe bitten.“ Die Zauberer sahen einander sprachlos an, vermutlich um zu sehen, ob sie sich auch wirklich nicht verhört hatten. Bedauerlicherweise, so mussten sie feststellen, arbeiteten ihre Ohren so gut wie eh und je. „ Dann meint Ihr es also ernst?“, fragte der König noch einmal nach.

„Wir sollen mit Drachen gegen Melron in den Krieg ziehen?“

„Jedenfalls wäre es nicht klug, sich den schwarzen Drachen mit nichts weiter als Schwert und Bogen in den Weg zu stellen“, warnte sie die Seherin. „ Es ist die einzige

Chance, diesen Krieg zu gewinnen.“

„Und was ist mit den Dämonen des Nebels? Was sollen wir gegen sie unternehmen?“, wollte einer der Anwesenden wissen. „Wie gesagt, wir werden jegliche Unterstützung gebrauchen können, die sich uns bietet“, sagte die Seherin. „ Nalanthia ist immerhin ein großes Land. Wir sollten uns mit den noch übrigen gutmütigen Völkern verbünden, um gemeinsam die wachsende Gefahr zu besiegen.“ Die Seherin wartete einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. „ Ich denke da in erster Linie an jene, die unter dem Rubinenwald leben.“

Fassungslose Blicke trafen die Frau, da ihre Andeutung sofort verstanden worden war.

„ Die Kobolde?“, fragte der König sie ungläubig. „ Wir sollen ausgerechnet die Kobolde

um Hilfe bitten?“

„Ihr solltet sie lieber nicht unterschätzen, mein König“, erwiderte die Seherin nur darauf. „Ich würde euch allen raten, nicht lange über diese Möglichkeit nachzudenken.“

„Nun ja, es wäre einen Versuch wert“, stimmte der auf dem Thron sitzende Mann seiner Besucherin zu. „Und ich kenne da auch jemanden, der uns bei diesem Vorhaben eine große Hilfe sein könnte.“