Zum Sterben geboren

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Zum Sterben geboren
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Bettina Schiller (Lisa)

Zum Sterben geboren

Impressum

Überarbeitete Auflage 2019

(ohne Kopien der Krankenhausunterlagen und der medizinischen Gutachter)

ISBN auf der Rückseite des Buches

Herstellung und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin; www.epubli.de

Cover Gestaltung: Bettina Schiller, www.trauerreich.de

Cover Foto: Thomas Schiller

Text: © Copyright by Bettina Schiller

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form

(Druck, Fotokopie oder ein anderes Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung der Autorin

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

Vorwort

Meine Geschichte, die Sie in diesem Buch lesen werden, beruht auf wahren Begebenheiten. Nichts ist erfunden, auch wenn vieles unglaublich klingen mag. Lediglich die Namen der Personen und Orte wurden geändert. Gern würde ich auch diese nennen, aber aus rechtlichen Gründen bleibt es mir untersagt. Meine Geschichte beschreibt das Erlebte einer Familie irgendwo in Deutschland. Es ist meine Geschichte, meine Vergangenheit, die mir immer in Erinnerung bleiben wird, verbunden mit Trauer, Wut und Verzweiflung.

Dieses Buch widme ich meiner kleinen Tochter, der die Chance, das Licht der Welt zu erblicken, genommen wurde. Fast am Ziel, musste sie sterben, weil Ärzte und Hebammen Fehler machten.

Ich danke allen, die mir bei der Erstellung des Buches geholfen haben. Einen besonderen Dank richte ich an meinen Mann und meinen Sohn, die mir immer wieder Mut machten, dieses Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.

Bettina Schiller (Lisa)

Im Gedenken

an unsere kleine Tochter

Katja

Tod

Ein kahler Baum

auf einem Hügel,

von Nebelschwaden umgeben -

oder von weißen Wölkchen;

ich weiß es nicht.

Das leise Weinen eines Kindes

in der Unbeweglichkeit der Luft -

oder ein Lachen;

ich weiß es nicht.

Ein schmaler Weg,

der an den Wurzeln des Baumes endet;

ich weiß es nicht.

Vielleicht

werde ich es nie wissen.

Susanne Kermani

HOFFNUNG

Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht

zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens

drei Dinge gegeben:

die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.

Immanuel Kant

November 1996

Soeben habe ich von meinem Mann erfahren, dass er zum ersten April nächsten Jahres versetzt wird. Für uns wird das heißen – umziehen. Eine neue Gegend, eine neue Wohnung, neue Menschen, neue Ärzte, für unseren Sohn eine neue Schule, neue Lehrer und Freunde. Die alten Freunde zurücklassen. Das alles rauscht in wenigen Sekunden durch meinen Kopf. Das Los einer Bundeswehrfamilie. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder heulen soll. Ein Trostpflaster, nach so vielen Jahren werden wir wieder in der Nähe der Eltern wohnen. Wir werden sie öfter als bisher besuchen können und aus den vier bis fünf Autostunden werden maximal zwei Stunden. Immerhin etwas.

Aber da ist noch etwas. Eine Ahnung. Ein Gefühl. Ich fühle mich seit einigen Tagen anders als sonst und bin mir sicher, dieses Gefühl zu kennen. Ein Test bringt mir die Bestätigung. Ich bin schwanger. In meinem Inneren entsteht ein Chaos. Eigentlich sollte ich mich freuen. Schließlich wünschen wir uns schon seit vielen Jahren ein zweites Kind. Nach Aussagen der Ärzte hatte ich kaum eine Chance, noch einmal schwanger zu werden. Und nun bin ich es.

Aber ausgerechnet jetzt? Es wird wieder eine Risikoschwangerschaft sein. Was, wenn es wieder zu einer Fehlgeburt kommt? Dann der Umzug! Ich möchte mich so gern freuen, aber es gelingt mir einfach nicht.

In der Hand halte ich noch das Teststäbchen. Statt nur einem blauen Streifen zeigt es dieses Mal zwei an. Eine Bestätigung dafür, dass sich in meinem Unterleib ein kleines Wesen entwickelt.

Noch am gleichen Tag beglückwünscht mich mein Frauenarzt: „Hat es doch noch einmal geklappt. Ich freue mich für sie.“

Wie schön hatte ich es mir vorgestellt, meinen beiden Männern mitzuteilen, dass Nachwuchs unterwegs ist. Kleine Babyschuhchen wollte ich kaufen. Beide extra in hübsches Papier wickeln und sie stolz überreichen. Jeder würde einen zum Auspacken bekommen und sofort wüssten sie Bescheid und könnten sich mit mir freuen.

Doch irgendetwas hindert mich daran. Eine heimliche Angst. Ein Nichtglaubenwollen, dass es doch noch einmal geklappt hat. Stattdessen erzähle ich meinem Mann nach dem Abendessen eher vorsichtig von der Neuigkeit. Auch er ist überrascht. Auf der einen Seite Freude, auf der anderen Nachdenklichkeit. Mir ist zum Heulen. Jahrelang habe ich mich innerlich mit Schwangerschaft und Kinderkriegen beschäftigt, konnte manchmal an nichts anderes denken, war schon ganz krank, weil es nicht klappte. Es hat sehr lange gedauert, bis ich soweit war, zu sagen, dann eben nicht. Wir werden auch mit nur einem Kind glücklich sein. Und dann, zum ungünstigsten Zeitpunkt, klappt es doch noch einmal. Wenn ich wüsste, meine Schwangerschaft würde normal verlaufen, mir würde es neun Monate gut gehen, ein Umzug wäre kein Hindernis und ich würde mit Leichtigkeit mein Kind zur Welt bringen. Ja dann! Aber es wird nicht so sein. Ich muss mit einem längeren Krankenhausaufenthalt rechnen. Und nicht umziehen, hier wohnen bleiben? Das geht überhaupt nicht. Mein Mann wäre weit weg, wenn ich ihn dringend brauchte, unser Sohn wäre allein. Die Eltern wohnen ebenfalls zu weit entfernt. Dann lieber doch umziehen. Ich werde mit meinem Arzt darüber sprechen.

Wieder sitze ich beim Arzt. Freudig wird mir der Mutterpass überreicht. Nun habe ich es schwarz auf weiß. In mir wächst ein kleines Menschenkind heran. Als ich auf dem Ultraschallbild auch noch den kleinen schwarzen Fleck sehe, kann ich nicht anders. Ich freue mich! Und nicht nur mein Herz schlägt schneller und lauter. Erst seit etwa vier Wochen bin ich schwanger und nun kann ich fast unscheinbar ein winziges Herzlein pochen sehen. Von einem Kind ist noch nichts zu erkennen, aber das Herz schlägt. Meine Blut- und Urinwerte sind in Ordnung. Aber mein Arzt stellt eine Zervixinsuffizienz fest. Mein Muttermund ist nicht wie üblich mit einem Schleimpfropf versiegelt. So besteht die Gefahr, dass das Kind (noch heißt es Fetus) nicht sicher im Uterus, der Gebärmutter, verbleibt, weil Bakterien eindringen könnten und eine Fehlgeburt oder später eine Frühgeburt auslösen. Er schlägt mir eine Cerclage vor. Das ist das Verschließen des Muttermundes mit einer Naht. An diesem Tag ist mir völlig egal, was mit mir gemacht werden soll. Die Hauptsache ist, ich behalte das Kind, unser Kind. Unser Sohn soll ein Schwesterchen oder Brüderchen bekommen. Es muss diesmal einfach klappen!

Ich erzähle meinem Arzt von der Versetzung. Auch er ist eher für einen Umzug, allerdings zeitig genug und vorher sollte im Krankenhaus noch die Cerclage durchgeführt werden.

Nach der Untersuchung und dem Gespräch werde ich von der Schwester mit einem Stoß Literatur zur Schwangerschaft ausgestattet. Da ich ab sofort krankgeschrieben bin – eine Vorsichtsmaßnahme - werde ich so keine Langeweile haben.

Zu Hause angekommen, greife ich zu einem dicken Buch, das ich etliche Monate nicht mehr angerührt habe: „Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt“, von einer Frau Dr. Miriam Stoppard. Dieses Buch soll ab heute mein ständiger Begleiter während der gesamten Schwangerschaft sein. Darin finde ich es bestätigt. Gegen Ende der dritten Woche ist das Herz ausgebildet und beginnt zu schlagen.

Mein Arzt gab mir außerdem noch ein Bild mit, das erste Foto, wie er so schön sagte. Ein kleines Ultraschallbild mit einem schwarzen Punkt. Am Abend zeige ich es freudig meinen beiden Männern. Nun weiß auch unser Sohn die Neuigkeit. Beide freuen sich, unser Sohn möchte vor Freude einen Luftsprung machen. Seit Jahren wünscht er sich ein Geschwisterkind und hat uns oft genug zu verstehen gegeben, wie traurig er ist, dass er allein sein muss. Als er noch im Kindergartenalter war, sagte ich ihm einmal, dass ich eine Überraschung für ihn hätte. Darauf strahlte er übers ganze Gesicht und fragte mich, ob ich ein Kind bekäme! Ich war einfach baff. Mein Sohn dachte nicht an Spielzeug oder Süßigkeiten, sondern an ein Geschwisterchen.

Am liebsten wollte er immer einen großen Bruder. Doch das geht natürlich nicht. Einer seiner Freunde aus der Zeit in Sonnenstadt hatte vier Geschwister. Darauf war er furchtbar neidisch. Damit er auf Fahrten nicht allein war, nahmen wir diesen Jungen oft mit. Seine Mutter fühlte sich jedes Mal veranlasst, unseren Sohn dann auch einzuladen. Als ich ihr erklärte, dass sie das nicht müsse, denn wir freuen uns, wenn unser Sohn nicht allein ist, erwiderte sie: „Dann schaffen sie sich doch noch ein paar Kinder an!“ Das sagte eine Frau, die klein und zierlich war und man sich schon gar nicht vorstellen konnte, dass sie ohne Schwierigkeiten fünf Kinder auf die Welt gebracht hatte. Ich glaube, wäre nicht die Wendezeit dazwischen gekommen, es wäre nicht bei fünf Kindern geblieben. Was wusste diese Frau schon von meinen Problemen und dass ich froh war, wenigstens dieses eine Kind zu haben.

 

Aber unser Sohn ist mit seinen 12 Jahren auch alt genug zu wissen, dass es auch schief gehen kann, dass es Gründe gibt, weshalb so ein kleines Wesen nicht immer im Bauch der Mutter bleibt.

Vor einem Jahr, am 1. November, hatte ich meine zweite Fehlgeburt. Ich weiß das Datum so genau, weil ich an diesem Tag auf einer neuen Arbeitsstelle als Buchhalterin beginnen sollte. Ein halbes Jahr nach meiner Sterilitätsbehandlung war ich schwanger geworden. Damals stand auch keine Versetzung vor der Tür. Wir alle drei haben uns sehr darüber gefreut. Aber schon bei der ersten Untersuchung fand mein Gynäkologe ein dünnes Blutfädchen. Er schrieb mich sofort krank. Bettruhe! Als schon am nächsten Tag Unterleibs- und Rückenschmerzen hinzukamen, wusste ich Bescheid. Diese Schmerzen kannte ich von meiner ersten Fehlgeburt im Jahr 1983. Zwei Tage lag ich mit immer stärker werdenden Schmerzen im Bett. Wie automatisch steckte ich meinen Bademantel in die Waschmaschine und packte meine Reisetasche für einen Krankenhausaufenthalt. Meine beiden Männer hofften mit mir, dass doch noch alles gut gehen wird. Um mir eine Freude zu machen, kaufte mir mein Sohn eine CD von Händel und schob seinen Recorder zu mir ans Bett. Am dritten Tag wurden die Schmerzen unerträglich. Dazu kamen wahnsinnige Migränekopfschmerzen. Die, die ich immer bekam, wenn meine Regel einsetzte. Auf der Toilette verlor ich dann die noch kleine Frucht. Komisch, ganz ruhig griff ich zum Telefon und rief bei meinem Gynäkologen an, danach ein Taxi. Ich verlor eine Menge Blut, aber auch das kannte ich von meiner ersten Fehlgeburt.

Beim Arzt angekommen, bat man mich im Warteraum Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitzen musste. Ich weiß nur, dass immer wieder andere Frauen aufgerufen wurden, dass mir schwindlig war, meine Arme und Beine sich wie Gummi anfühlten und ich immer wieder Blut verlor.

Endlich, mein Name wurde genannt. Ich ließ die Untersuchung über mich ergehen. Mein Arzt schrieb eine Überweisung für das Krankenhaus aus. Ich sollte zur Ausschabung der Gebärmutter, weil die Fehlgeburt nicht vollständig erfolgt war. Aber ich wollte erst nach Hause, meine Sachen holen und mit meinem Sohn, der bald aus der Schule kommen musste und mit meinem Mann sprechen. Also wieder in ein Taxi und zurück. Als ich mit meinem Mann telefonierte, war ich so ziemlich am Ende und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Kurz darauf kam mein Sohn. Ich erzählte ihm, warum ich ins Krankenhaus sollte. Ich hätte es ihm ohnehin nicht verschweigen können. Er war darüber traurig.

Kurz nach dem Mittag kam ich im Krankenhaus an. Das Schlimmste war die Voruntersuchung. Man sitzt auf dem Stuhl und ist den Ärzten ausgeliefert. Es war ein Arzt, der auf mich einen sehr unsympathischen, überheblichen Eindruck machte. Ich kam mir vor wie ein Eindringling. Als die Schwester fragte, ob ich heute noch in den OP sollte, war die Antwort: „Na klar, so wie die blutet.“ Zum Schluss wischte er selbst das Blut, das auf den Fußboden gelaufen war, mit einem Stück Zellstoff weg. Mir war alles furchtbar peinlich. Nett waren wenigstens die Ärzte und Schwestern im Operationssaal. Am nächsten Morgen durfte ich das Krankenhaus zum Glück verlassen.

Körperlich war wieder alles in Ordnung, aber meine Seele hatte eine Wunde. Nach so vielen Jahren vergeblicher Mühe war ich schwanger geworden und alles ging schief. Warum nur? Was hatte ich getan? Warum können andere Babys bekommen und ich nicht. Um mich abzulenken, griff ich wenige Tage später zu Blatt und Stift und begann zu schreiben. Daraus wurde eine niedliche Kindergeschichte. Ich war nicht geheilt, aber mir ging es besser und ich schöpfte wieder Mut.

Nun, dieses Mal gab es bisher keine Anzeichen auf eine bevorstehende Fehlgeburt.

Dezember 1996

Wir schmieden unsere ersten Umzugspläne. Im Januar werde ich ins Krankenhaus gehen, um die Cerclage legen zu lassen. Dann können wir im Februar umziehen.

Mir geht es nicht besonders gut. Vor allem diese Übelkeit. Aber nicht nur morgens, sondern den ganzen Tag. Als ich mit meinem Sohn schwanger war kannte ich dies überhaupt nicht – Übelkeit! Aber das Verrückte daran ist mein Appetit. Der bezieht sich nicht auf saure Gurken, sondern auf Quarksahnetorte, gläserweise Schattenmorellen und Erbsensuppe aus der Büchse. Und mein Magen scheint diese Speisen auch zu lieben, denn dagegen rebelliert er nicht.

Laufend habe ich Rückenschmerzen. Aber es sind andere, als bei den Fehlgeburten. Es fällt mir nicht schwer, die Anordnung des Arztes, viel liegen, zu befolgen. Außerdem bin ich sowieso ständig müde.

Ich rufe meine Chefin im Büro an, um ihr von der Versetzung und meiner Schwangerschaft zu berichten. Man ist über die Krankschreibung nicht begeistert, aber das ist nun, wo wir auch umziehen werden, sowieso egal. Und von einer jederzeit möglichen Versetzung hat man gewusst und sich damit zufrieden gegeben. Außerdem muss ich zugeben, dass ich dieser Arbeitsstelle bestimmt nicht nachtrauern werde.

Wenn es mir zwischendurch besser geht, setze ich mich an mein Keyboard und spiele alle Kinderlieder, die mir noch einfallen. Dabei komme ich jedes Mal ins Träumen. Neben mir sehe ich ein Laufgitter. Darin liegt froh jauchzend unser zweites Kind und freut sich über meine Lieder. Ach, wenn es doch nur schon soweit wäre.

Voller Ungeduld schaue ich wieder in mein dickes Schwangerenbuch. Bei der letzten Untersuchung war auf dem Ultraschall schon ein kleiner Embryo zu erkennen. Das Herz schlug nun kräftiger. Ich hatte meinen Mann überredet, mitzukommen und auch er spähte ganz verzückt auf den Monitor. Das also ist unser kleiner Sohn, oder unsere kleine Tochter? Etwa ganze zwei Zentimeter groß. Unfassbar auch, dass die inneren Organe schon vorhanden sind. Und wieder gab es für die werdenden Eltern ein Foto.

Bei mir hat sich inzwischen eine Menge anderer Lektüre über Schwangerschaft und Babys angesammelt. Teils vom Arzt, teils selbst gekauft, manches wurde mir zugeschickt, weil ich Postkarten von Werbefirmen, die fast in jeder Zeitschrift liegen, weggeschickt habe. Ich kann nicht genug bekommen. Wie eine Wahnsinnige fresse ich mich durch alles Lesbare zum Thema Schwangerschaft, Geburt und Neugeborene. Überall lese ich, dass eine Cerclage bei einer Zervixinsuffizienz eine gute Vorsorge ist, das Kind zu halten. Na also, warum soll es dann bei mir nicht auch klappen. Ich schöpfe immer mehr Mut.

Ich muss daran denken als ich mit meinem Sohn schwanger war und ein Lächeln gleitet über mein Gesicht. Ich freue mich, dass ich jetzt ganz anders betreut werde. Mein Frauenarzt bleibt mein Arzt während der gesamten Schwangerschaft, mal abgesehen von meinem bevorstehenden Umzug, wo doch ein Wechsel stattfinden wird. Vor der Wende hatten die werdenden Mütter nicht diese Möglichkeit. Es gab Schwangerenberatungsstellen, nach Wohnvierteln zugeteilt. Dort war es ständig überfüllt. Die Ärzte wechselten, außerdem kannte man sie nicht. Einfach alles war unpersönlich und ähnelte einem fließbandähnlichen Ablauf. Ich war nicht gerade erfreut, wenn ich wieder einen Termin zur Schwangerenvorsorge hatte. Ultraschall wurde im Normalfall nur einmal gemacht. Das Gerät stand im Krankenhaus und man musste sich lange vorher anmelden. Mir wurde nichts auf dem Bildschirm erklärt und obwohl ich lange im Warteraum gesessen hatte, war ich umso schneller wieder aus dem Untersuchungsraum. Literatur über Schwangerschaft war rar und bald durchgelesen. Aber ich muss auch zugeben, dass ich mir damals keine großen Gedanken gemacht habe, wie groß wohl mein Kind im Bauch gerade sein wird, welchen Entwicklungsstand es hatte oder welche Gefahren, außer einer Fehlgeburt, die ich erlebt hatte, bestehen würden. Lag es an der unpersönlichen Vorsorge, an der mangelhaften Literatur oder einfach daran, dass ich meinen Körper nicht bewusst genug wahrnahm? Oder weil ich noch sehr jung war?

Lassen sie mich etwas erläutern, damit ich nicht falsch verstanden werde. Es ist modern geworden, den nicht immer rosigen DDR-Alltag in grau und schwarz darzustellen. Dafür gibt es für mich keinen Grund. Fachlich versierte Ärzte und gut ausgebildetes, fürsorgliches Pflegepersonal im Klinikum Sonnenstadt sorgten 1984 dafür, dass ich heute einen gesunden Jungen habe. Ich stelle Fakten so dar, wie ich sie erlebte.

Sich weniger Gedanken machen, wäre für mich gewiss ratsamer, aber ich finde es sehr schön zu wissen, was wann in meinem Körper vor sich geht. Es ist auf eine ganz besondere Art ein eigenes schönes Erleben, das ich nicht missen möchte.

Eines jedoch bekomme ich einfach nicht fertig. In den Büchern und Zeitschriften schlägt man den werdenden Müttern vor, ein Schwangerentagebuch anzulegen. Dort kann man alle Erlebnisse und Gefühle festhalten und die Bilder vom Ultraschall - die ersten Fotos des Kindes - hineinkleben. Irgendetwas hält mich ab davon. Ist es die Angst, dass doch etwas schief gehen könnte?

Es ist Adventszeit. Mit meinem Sohn schmücke ich die Zimmer weihnachtlich. Für die Weihnachtstage hat sich die Familie meiner Schwester angesagt. Davor habe ich ein bisschen Bammel. Mir ist immer noch übel und auch die Rückenschmerzen gehen nicht weg. Am besten fühle ich mich, wenn ich liege. Mein Sohn legt sich manchmal zu mir und wir spielen Karten. Außerdem liegt mein großer Kartäuserkater oft bei mir. Es scheint ihm zu gefallen, dass ich jetzt jeden Tag zu Hause bin.

Es ist schade, dass in diesem Jahr das Plätzchenbacken ausfällt. Mir ist absolut nicht danach und mein Mann hat keine Zeit. Er hat einen langen Weg zur Arbeit, muss morgens zeitig aus dem Haus und kommt abends sehr spät heim. Nach den letzten zwei Versetzungen waren wir nicht umgezogen, weil beide Standorte im Umkreis von etwa sechzig Kilometern lagen.

Vor dieser Schwangerschaft habe ich ihm jeden Morgen das Früh-stück angerichtet, nun macht er es sich allein. Es tut mir ein wenig leid. Doch ich schaffe es nicht. Obwohl ich erst im zweiten Monat bin, fühle ich mich wie eine alte Frau. Warum nur verläuft diese Schwangerschaft so ganz anders? Ob wirklich alles stimmt?

Noch vor Weihnachten fährt mein Mann nach Fallerhausen, seinem künftigen Arbeitsort. Er will sich nach einer neuen Wohnung umsehen. Von Freunden hat er sich eine Videokamera ausgeliehen. Eine Chance für mich, mir die Wohnungen anzusehen, wo ich doch nicht mitfahren kann und darf. Wie gern würde ich ihn begleiten.

Nach zwei Tagen kommt er nachts zurück. Er möchte erzählen. Er möchte, dass ich zuhöre. Aber mir ist wahnsinnig übel. Es kommt sogar zu einem kleinen Streit, ob mich das alles nichts anginge? Und dann hätte er ja nicht fahren brauchen! Usw. Ich ziehe mich eingeschnappt zurück. Am nächsten Morgen geht es mir etwas besser. Nun erfahre ich auch, warum mein Mann so reagierte. Die Wohnungssuche war für ihn eine einzige große Enttäuschung. Der Mitarbeiter der Wohnungsfürsorge der Bundeswehr zeigte keine große Anteilnahme an seiner Versetzung. Bundesdarlehenswohnungen waren keine frei. Die Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt überteuert. Die Miete für ein Haus, mit unserem jetzigen vergleichbar, unbezahlbar.

Ich schaue mir die Videos an. Mein Mann erklärt mir alles. Was ihm gefällt, gefällt mir nicht oder würde für eine Familie mit Baby nicht praktisch sein. Was mir gefällt, das lehnt er ab. So geht es hin und her. Mehrere Tage diskutieren wir stundenlang, was wir denn nun machen werden. Wir entscheiden uns für eine 5-Zimmer-Wohnung in einem Vierfamilienhaus unweit der Kaserne, in der mein Mann dann arbeiten wird. So müsste er nicht immer fahren und würde mehr Stunden für uns Zeit haben. Aber ich merke, dass er nicht zufrieden ist. Ich weiß schon jetzt, dass er nur ungern aus diesem Haus ausziehen und in die neue Wohnung einziehen wird. Ein wenig Groll kommt in mir auf. Schließlich kann ich nichts dafür, dass wir umziehen müssen. Es ist seine Versetzung. Ich versuche nur das Beste daraus zu machen, auch wenn es mir schwerfällt. Die neue Wohnung wird noch einen Vorteil haben. Ein paar Häuser weiter wohnt eine befreundete Familie. Der Mann wurde ebenfalls vor kurzem nach Fallerhausen versetzt. Welch ein Zufall. Und nun ziehen wir hinterher. Als sie damals ungern die Stadt Grünlingen verlassen mussten, habe ich noch aus Scherz gesagt: „Seid nicht traurig, wir kommen doch bald nach!“ Und so wird es nun auch wirklich sein.

Weihnachten steht vor der Tür. Unser Besuch kommt. Die Kinder meiner Schwester, zwei Jungs und auch unser Sohn freuen sich, dass sie für ein paar Tage zusammen sein können. Es wird ein ruhiges Weihnachtsfest. Am Nachmittag besuchen wir in der Kirche ein Krippenspiel. Der jüngere Sohn meiner Schwester, der erst nicht mitkommen wollte - In die Kirche! – ist ganz begeistert. Danach trinken wir Kaffee und die Bescherung beginnt. Den Weihnachtsbaum, eine gut gewachsene Blautanne, haben unsere drei Kinder allein geschmückt, worauf sie sehr stolz sind. Davor liegen eine Menge Geschenke. Auch unser Kater schnüffelt wie jedes Weihnachtsfest wie ein Hund, findet seine Gaben und macht sich sofort ans auspacken. Jedes Jahr lächeln wir darüber. Wer das noch nicht gesehen hat, glaubt es gar nicht. Auch unser Besuch ist verblüfft. Unsere Kinder begutachten voller Freude ihre Geschenke und jeder von ihnen spielt ein paar Lieder auf dem Keyboard. Ich liege auf der Couch und schaue dem Treiben zu. Zum Glück hat die Übelkeit etwas nachgelassen.

 

An den nächsten Tagen wage ich mit meiner Schwester zusammen sogar kleine Spaziergänge. Es tut gut. Es ist zwar kein Schnee gefallen, aber die Luft ist klar und kalt. Wie gern würde ich jetzt am Ostseestrand entlang spazieren, mir die kalte Luft um die Ohren wehen lassen und dem Rauschen der Wellen lauschen. Eine Wehmut überkommt mich. Hier sollen wir weg. Weg von der See, weg aus dieser schönen reizvollen Stadt. Wer weiß, was uns erwartet. Aber dann streiche ich über meinen Bauch und freue mich auch über die neue Zeit, die da kommen wird.

Es ist der 31. Dezember, Silvester. Meine Schwester ist mit ihrer Familie wieder abgereist. In ein paar Stunden liegt das alte Jahr hinter mir und ein neues wird beginnen. Was wird dieses bringen? Als das Jahr 1996 begann, hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, dass ich am Ende des Jahres schwanger sein werde.

Der Abend verläuft ruhig. Aufgrund meines Zustandes verbringen wir ihn vor dem Fernseher, ich liegend auf der Couch. Mir geht es wieder schlechter. Waren die Weihnachtstage für mich doch zu anstrengend gewesen? Mir ist zum Heulen, ich bin wütend auf mich. So viele Frauen sind schwanger und denen geht es gut. Und ich liege hier mit Übelkeit und Schmerzen. Und ich könnte schlafen, als hätte ich mehrere Tage keinen Schlaf gehabt. Was ist das nur? Wenn ich es dem Arzt erzähle, dann höre ich immer nur, dass gehöre zur Schwangerschaft, das ist normal. Nein, das glaube ich nicht. Warum gehen dann die anderen trotz ihrer Schwangerschaft Silvester aus, tanzen, essen und amüsieren sich? Eine Schwangerschaft soll ein Zustand und keine Krankheit sein. Aber ich fühle mich krank, sehr krank.