Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes

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2. Kapitel


Das fade Mittagessen lag Jack noch jetzt im Magen. Gebackene Makrele mit Stachelbeersauce gehörte angeblich zu den Spezialitäten Cornwalls und hatte sich vorzüglich angehört. Nur wusste der Koch scheinbar nicht, wie man die Speise schmackhaft zubereitete. Abgesehen davon war das Frühstück ebenfalls ein Hohn gewesen. Dünner Kaffee, harte Brötchen, ein Butterstückchen und Marmelade. Es würde dauern, bis seine Geschmacksknospen nicht mehr beleidigt waren, allerdings wunderte ihn in diesem Hotel gar nichts mehr.

Genervt starrte Jack auf seine Unterlagen. Es gelang ihm nicht, sich darauf zu konzentrieren. Dabei hatte er sich extra in den kleinen Saal gesetzt, weil dieser weniger frequentiert war als das von Küchengerüchen verpestete Restaurant. Vor zehn Minuten war jedoch eine Jugendgruppe eingetroffen. Nun lümmelten einige von ihnen in den unbequemen himmelblauen Stoffstühlen mit weißen Sternchen und unterhielten sich lautstark. Dazwischen hörte man ständig das Läuten von Handys oder schallendes Gelächter.

„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten“, erklang Michaels krächzende Stimme, der seine gelbe Krawatte lockerte und sich aufatmend in den Stuhl gegenüber plumpsen ließ, als hätte er einen Marathon hinter sich.

„Ich hoffe, deine Verspätung hat einen guten Grund“, begrüßte Jack ihn nicht gerade freundlich und sah sich in Gedanken bereits in der klimatisierten Limousine sitzen, die geradewegs auf das gebuchte Fünf-Sterne-Hotel zufuhr.

„Wie man es nimmt.“ Michael schaute ihn an, als würde er abwägen, was er ihm zumuten konnte und was nicht. „Der Mechaniker hat von ein paar Tagen gesprochen“, ließ er schließlich die Katze aus dem Sack.

„Ein paar Tage?“, entfuhr es Jack. „So lange halte ich es in diesem Kaff nicht aus. Kannst du ihm keinen Druck machen?“

„Was denkst du, was ich getan habe? Mein Mund ist trocken wie die Sahara, so sehr habe ich auf den Mann eingeredet“, verteidigte sich Michael. „Bedauerlicherweise ist er Südländer, wenn du verstehst, was ich meine. Deshalb würde ich eher in Wochen denken als in Tagen.“ Michaels Stirn glänzte. Seit drei Jahren arbeitete er für Flatley & Son. Die Firma hatte ihren Sitz in New York. Jacks Vater hatte sie gegründet und zu einem der erfolgreichsten Unternehmen Amerikas aufgebaut. Selbstredend, dass sein Dad nach wie vor mitmischte, trotz seiner fünfundsechzig Jahre. Jack konnte es nur recht sein, da er noch viel von ihm lernen konnte. Zudem wurde sein Dad nicht müde, neue Ideen zu entwickeln. So auch die, ihren Radius zu erweitern und sich in Europa etwas aufzubauen. Kurz zuvor hatte er Jack zu seinem Teilhaber gemacht und vertraute ihm nun dieses riesige Projekt an.

„Dann sieh zu, dass wir eine andere Limousine bekommen“, forderte Jack. Er hasste nichts mehr als Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. „In zwei Stunden soll ich bei Mister Winter sein. Wenn ich ihn wieder vertröste, springt er womöglich ab.“

„Vor morgen früh hat keine einzige Leihfirma in der Gegend ein Auto frei. Ich habe alle abgeklappert.“

„Was ist mit dem Ferrari, den wir vor einem halben Jahr in London bestellt haben?“

„Den kriegst du frühestens in zwei Wochen.“

„Und jetzt?“, fragte Jack ohne jegliches Verständnis. „Soll ich etwa mit dem Bus nach St. Agnes fahren?“

„Das wäre zumindest eine Idee.“ Michael grinste.

„Ich bin nicht in Stimmung für deine albernen Witze. Außerdem habe ich mein Leben lang noch nie einen Bus von innen gesehen und denke nicht daran, jetzt damit anzufangen.“

„Schon gut.“ Michael hob abwehrend die Hände. Sein goldener Ehering blitzte auf. „Mir gegenüber musst du nicht den hartgesottenen Geschäftsmann raushängen lassen.“

Jacks Laune stieg wieder. Er wusste, dass ihm sein Ruf vorauseilte und in geschäftlichen Angelegenheiten kannte er kein Pardon. Das Leben war zu kurz, um sich mit halben Sachen zu begnügen. Deswegen kämpfte er notfalls mit harten Bandagen. Insofern fühlte er sich von Michaels Aussage geschmeichelt. „Wie ich dich kenne, hast du bestimmt eine andere Lösung parat“, meinte er und schaute zu einem dunkelhaarigen Mädchen, das sich auf den Schoß eines pummeligen Jungen mit Pusteln im Gesicht setzte, der seine Hand besitzergreifend auf ihre Oberschenkel legte. Die Kleine war vermutlich im ähnlichen Alter wie seine Tochter, aber bis zu den Zähnen geschminkt. Ihr knapper schwarzer Minirock ließ wenig Spielraum für Fantasie und das bauchfreie rote Top musste früher ein BH gewesen sein, der nach dem Waschen aus dem Leim gegangen war. „Hast du eigentlich Leni gesehen?“

„Sie sitzt in der Lobby und spielt auf ihrem Handy.“

Beruhigt lehnte sich Jack zurück. „Also, was ist nun? Wie komme ich auf schnellstem Weg zu Mister Winter?“, verlagerte sich sein Interesse wieder auf das Geschäftliche.

Michael schälte sich aus seiner grauen Anzugjacke, die er auf den leeren Stuhl neben sich warf. „Der Hotelchef würde dir seinen Geländewagen leihen“, ließ er verlauten.

„Tatsächlich?“ Wenn das Fahrzeug im ähnlichen Zustand war wie das Hotel, würden sie es keine zehn Meter weit schaffen, obwohl es vermutlich die ärgste Schrottkiste nicht mit der Karre dieser Annie aufnehmen konnte.

„Worüber amüsierst du dich?“, erkundigte sich Michael.

Jack schaute ihn verwirrt an. „Über nichts. Warum?“

„Du schmunzelst.“

„Ich schmunzle nicht.“ Jack verdrängte den Gedanken an die Frau mit dem komischen Auto und der noch komischeren Uhr. „Vielmehr sondiere ich die Lage. Hast du dir den Wagen angesehen? Taugt er etwas?“

„In dieser Hinsicht lässt sich der Hotelchef nicht lumpen. Das Feinste vom Feinsten, sage ich dir. Deswegen ist der Wagen natürlich nicht umsonst“, druckste Michael auf einmal herum, beugte sich vor – wodurch der Tisch in leichte Schieflage geriet – und spielte mit dem Salzstreuer, in dem fast nur Reiskörner zu sehen waren. „Pro Tag verlangt er fünfhundert Pfund.“

„Das ist Wucher“, empörte sich Jack. „Du hast diesem Halsabschneider hoffentlich die Meinung gesagt.“

„Wir haben keine andere Wahl, und es ist ja nicht so, als könntest du dir die Summe nicht leisten. Die Hauptsache ist doch, dass du den Termin mit Mister Winter erfolgreich hinter dich bringst.“

„Das Geld ist nicht mein Problem. Ich mag es diesem Harry nur nicht in den gierigen Rachen werfen. Er ist nicht gerade ein Sympathieträger.“

Michael schob den Salzstreuer neben den Aschenbecher mit roter Werbeaufschrift und musterte Jack. „Sieh an. Du vermischst Persönliches mit Geschäftlichem.“

„Das mache ich nicht.“

„Doch, das tust du“, blieb Michael grinsend bei seiner Meinung.

„Und wenn schon. Ein geliehenes Fahrzeug ist kein Millionengeschäft. Deshalb darf ich mir etwas menschliche Regung durchaus leisten.“ Schwungvoll schlug Jack die Unterlagenmappe zu. „Der Vertrag ist in Ordnung. Jetzt fehlt lediglich die Unterschrift von Mister Winter.“ Im Geist sah Jack das Küstendorf bereits vor sich. Mit einer beeindruckenden Skyline, bunten Leuchtreklamen, einem Hafen für millionenschwere Yachten, Shopping-Malls und spiegelverglasten Hochhäusern.

„Ach ja, was ich noch fragen wollte“, grätschte sich Michael in seine verheißungsvollen Gedanken, „an der Limousine ist eine Beule. Hast du eine Ahnung, wieso?“

„Eine Frau ist mit ihrer Autotür dagegen gekracht.“ Eigentlich war diese Annie eine aparte Erscheinung. Langes dunkelblondes Haar, grüne Augen und vorwitzige Sommersprossen prägten ihr Gesicht mit der hübschen Sommerbräune. Trotz ihrer einfachen Jeans und dem T-Shirt mit V-Ausschnitt wirkte sie äußerst anziehend. Zumindest bis sie den Mund aufmachte. Diese Frau war ziemlich schlagfertig und kratzbürstig. Obendrein schien sie sein Reichtum nicht zu beeindrucken. Das war ihm bei Frauen noch nie passiert. „Den Schaden nehme ich auf meine Kappe.“

Michael stutzte. „Ich dachte, sie ist schuld.“

„Ist sie auch.“

Ein Schatten der Erkenntnis huschte über das Gesicht seines Freundes. „Ich verstehe. Sie erinnert dich an Carol.“

Jacks Laune sank sofort auf den Gefrierpunkt. „Kein Stück tut sie das“, dementierte er lauter als beabsichtigt, wodurch es im Raum wie aufs Stichwort still wurde. In der nächsten Sekunde hatten die Jugendlichen wieder ihr Interesse verloren und unterhielten sich lautstark wie zuvor. „Weder äußerlich noch charakterlich“, fügte Jack hinzu. „Deswegen lass die blöden Anspielungen. Außerdem haben wir Wichtigeres zu tun und ich für meinen Teil stelle mir lieber weiterhin vor, wie St. Agnes in einigen Jahren aussehen wird.“ Er hatte keine Lust, über Carol zu sprechen. Weil er niemandem zeigen wollte, wie es tatsächlich in ihm aussah. Nicht einmal Michael. „Ich sollte das Angebot des Hotelchefs annehmen, obwohl ich ihn runterhandeln werde, denn wie sagt Vater so schön: Mit Geld lässt sich zwar alles lösen, aber wenn es ums Bezahlen geht, muss man um jeden Dollar kämpfen.“

Konsterniert blickte Michael ihn an. „Es gab Zeiten, da hast du anders gesprochen.“

„Die sind vorbei“, sagte Jack bestimmt. „Ich habe mir den Platz in Vaters Firma hart erkämpft.“

„Worin ich dir durchaus zustimme. Trotzdem wirkst du allmählich wie sein Klon.“

Michael nahm sich selten ein Blatt vor den Mund, was Jack bisher nie gestört hatte. Diesmal war es anders. „Ich hatte meine rebellische Zeit und was hat sie mir gebracht? Meine Frau ist tot und ich kann von Glück sagen, dass mich Vater wieder eingestellt hat.“

„Der alte Jack gefiel mir besser, der sich gegen seinen Vater auflehnte und dessen Härte verurteilte. Insbesondere Carol trotz dessen Widerstand geheiratet hat. Du hast dich damals mit dem Handel von Antiquitäten selbstständig gemacht und bist völlig in deiner neuen Aufgabe aufgegangen. Nebenbei hast du …“

 

„Ich kenne mein Leben“, unterbrach Jack ihn zornig.

„Das mag sein“, blieb Michael hartnäckig. „Aber wo sind deine Ziele geblieben? Deine Werte? Natürlich war es hilfreich, dass du durch den Job aus dem Tief herausgekommen bist, dennoch wage ich zu behaupten, dass du es auch ohne die Hilfe deines Vaters geschafft hättest.“ Michael schüttelte den Kopf. „Sieh dich an, Jack. Seit über zehn Jahren musst du dich beweisen. Hart sein wie dein Vater. Erfolgreich. Ein Leben für die Firma. Privates bleibt völlig auf der Strecke.“ So hatte er Michael noch nie erlebt, der sich regelrecht Luft verschaffte, als würde er das alles schon eine Weile mit sich herumtragen.

„Was mich immerhin zum Teilhaber gemacht hat.“

„Dein Vater besitzt weiterhin die Mehrheit.“

„Reine Formsache“, regte sich Jack auf. „Im Übrigen würde ich dir raten, das Thema zu beenden und erinnere dich gerne daran, dass du ebenfalls für meinen Vater arbeitest.“

„Stimmt. Als dein Assistent und Berater. Allerdings bin ich in erster Linie dein Freund und kenne dich besser als du denkst. Auf Dauer wird dich das nicht glücklich machen. Weil nichts davon echt ist. Du überdeckst deine Trauer um Carol mit Geschäftigkeit. Alles ist geplant. Sogar deine Duschzeiten. Vermutlich, um den Erinnerungen keinen Raum zu lassen. Dabei wäre es so wichtig, die Sache mit Carol zu verarbeiten. Für Leni nicht minder. Oder hast du je mit ihr über ihre Mutter gesprochen?“

„Allmählich gehst du zu weit, Michael“, zischte Jack. „Was ich mit meiner Tochter bespreche, ist allein meine Sache. Außerdem ist sie nicht umsonst mitgekommen. Ich will Zeit mit ihr verbringen.“

„Um Versäumtes nachzuholen?“, traf er Jacks wundesten Punkt. „Du hast mit Leni dasselbe gemacht wie dein Vater mit dir. Bloß mit dem Unterschied, dass auf sie keine Mutter zuhause gewartet hat, die sich die Augen nach ihrem Kind ausheulte.“

„Mutter ist gut damit zurechtgekommen.“

„Dir zuliebe. Allerdings wart ihr euch nie so vertraut wie zu deiner Zeit mit Carol. Deine Mom hat Partei für dich ergriffen und nahm deine Frau mit offenen Armen auf. Seitdem du wieder für deinen Dad arbeitest, bist du derselbe Chauvinist geworden und deckst jede seiner Affären. Was du deiner Mom damit antust, scheint dich nicht zu interessieren. Oft genug hat sie sich bei meiner Mutter ausgeheult. Deshalb und aus anderen Gründen solltest du dein Leben gründlich überdenken, denn über kurz oder lang wird dich dein Vater in seine dunklen Machenschaften ziehen. Etwas, das dich damals aus der Firma trieb.“ Michaels Blick war zwingend, dennoch fuhr er bedachtsamer fort: „Du bist mir wichtig, Jack. Auch Leni und deine Mom, die ich von Kindesbeinen an kenne. Deshalb vergiss nie, dass du nicht wie dein Vater bist, egal wie sehr du ihm nacheifern willst. Einer wie er hat kein Gewissen. Du aber schon und irgendwann kommt man jedem auf die Schliche. Selbst einem Mann wie deinem Dad.“ Michael warf einen schnellen Blick auf die goldene Armbanduhr. „Du solltest langsam los.“

„Der erste vernünftige Satz in den letzten zehn Minuten.“ Abrupt sprang Jack hoch und nahm die Mappe an sich. Die Kanten drückten in die Innenflächen seiner Hände. „Ich melde mich, sobald die Sache unter Dach und Fach ist. Leni nehme ich übrigens mit.“ Beinahe fluchtartig verließ Jack den Saal und als er seine Tochter in der hellerleuchteten Lobby erblickte, blieb er neben der verstaubten Plastikpalme stehen, die den halben Lift verdeckte. Leni starrte hochkonzentriert auf das Handy und nagte an ihrer Unterlippe. Die neongelbe Latzhose und das neonpinke Shirt gehörten seit kurzem zu ihren Lieblingsoutfits. Unlängst hatte sie die Sachen in einem Karton am Dachboden gefunden. Eigentlich hatte Jack sie entsorgen wollen, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Jetzt trug seine Tochter Carols Kleider auf, die ihr wie angegossen saßen.

Leni schaute plötzlich hoch, als hätte sie seinen Blick gespürt. Oder seine Gedanken gelesen. Den Schmerz gefühlt. Die Qual. Jack riss sich zusammen und ging zu ihr. Dabei lächelte er. „Ich fahre nach St. Agnes. Möchtest du mitkommen?“

„Wenn es sein muss“, kam die kaugummikauende Antwort. Große Lust schien sie ja nicht zu haben und wie die Jugendlichen im Saal lag auch sie eher auf dem Stuhl, als dass sie saß. Wieder einmal stellte Jack fest, wie schnell sie erwachsen wurde. „Alles ist besser als diese Langweile.“

„Schön“, meinte er. „Ich muss vorher etwas klären. Warte hier auf mich.“ Leni nickte und widmete sich wieder ihrem Zeitvertreib. Er indessen suchte Harry im Büro auf, und nachdem er ihn auf hundert Pfund heruntergehandelt hatte, wurden ihm feierlich die Schlüssel überreicht.

„Sie sind ein harter Geschäftspartner“, lobte Harry ihn, statt zu bedauern, den Kürzeren gezogen zu haben. Verwunderlich angesichts seiner augenscheinlichen Geldnot, die Jack ihm inzwischen unbenommen glaubte. Als Geschäftsmann übte er deshalb etwas Nachsicht mit ihm. Manchmal war das Einsparen von Personal eben nötig und wer wusste das besser als er selbst? Immerhin warf er ständig Leute raus …

Annie bummelte durch den Ort. Begleitet vom Seewind, der durch die Straßen und Gassen fegte. Dann wiederum schien es, als würde er die Luft anhalten, weil sie keinen einzigen Hauch spürte. Wenigstens waren ihre Tränen getrocknet, obwohl Annie ahnte, dass sie beim geringsten Anlass wieder weinen würde.

Eigentlich hatte sie nach der Kirche auf direktem Weg nach Hause fahren wollen, aber der Anblick des Vaters würde sie noch mehr deprimieren als ohnehin. Deswegen hatte sie sich dazu entschlossen, einige Einkäufe zu erledigen und sich dafür Zeit zu lassen.

In der St. Agnes Bakery empfing sie der typische Geruch nach Backwaren. Ob Brötchen oder süßes Gebäck, auch Pasteten und anderes hatte die Bäckerei im Angebot. Annie lauschte dem Geplauder der Kunden, die über das Wetter oder das bevorstehende Bolster-Festival sprachen und sich mit Kuchen sowie Lamm-Minze-Wurstrollen eindeckten. Als sie an der Reihe war, kaufte sie einen Laib Brot, vier Butterbrötchen und nahm sich trotz gähnender Leere in ihrer Geldbörse ein Caramel-Shortbread mit. Etwas Nervennahrung konnte nicht schaden.

Als sie wieder ins Freie trat, schob sie die Einkäufe in ihre Tasche und biss vom Shortbread. Ohne irgendein Ziel ging sie weiter. St. Agnes war schon belebter gewesen, doch in spätestens einem Monat würden wieder Touristen über den Ort herfallen. Im Augenblick war es ihr nur recht, dass sie kaum jemandem begegnete – nicht einmal Einheimischen – weil sie weder Lust zum Grüßen noch zum Reden hatte.

Sehnsüchtig warf Annie einen Blick zum Beauty-Salon auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Noch nie hatte sie das Geschäft von innen gesehen und konnte sich lebhaft vorstellen, wie gut eine Auszeit im Salon tun würde. Auch das erlesene Antiquitäten-Geschäft vom alten Harold nahe dem Gemeindezentrum hatte sie bisher nur aufgesucht, weil er zur Clique gehörte, denn bei seinen Preisen vibrierten ihre Ohren.

Minnie war da um einiges günstiger mit ihrem Souvenirgeschäft. Ihr Mann Duncan war vor kurzem pensioniert worden und froh darüber, seinen langweiligen Job als Elektriker an den Nagel hängen zu können. Zeit seines Lebens hatte er ohnehin von einer Musikkarriere geträumt. Nun trat er manchmal mit seiner Gitarre in der Aloha-Bar auf. Früher war Annie mit Josie und später mit Roger oft dort gewesen wie auch im Taphouse, einer Après-Sea-Bar. Sie liebte die Atmosphäre und die Live-Bands, die dort spielten. Aber seitdem Josie weggezogen und es mit Roger aus war, hatte sie die Lokale nur sporadisch besucht. Es hingen zu viele Erinnerungen daran. Auch jetzt versetzte ihr der Gedanke an ihren Ex einen heftigen Stich.

Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Im Chiverton-Park hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, auf der Trevaunance-Road gestand er ihr seine Liebe, in der Trelawny-Road war er zuhause und … vor dem alten Schulhaus hatte sie ihn knutschend mit dieser Hexe Trish erwischt. Dort endete ihre Liebesgeschichte schließlich, weil Annie an Ort und Stelle mit ihm Schluss gemacht hatte. Seitdem begegnete sie ihm und Trish in der Pizzeria oder vor dem veganen Geschäft, in dem er stets einkaufte, da Roger äußerst gesundheitsbewusst lebte. Auch beim Driftwood war sie vor ihm und Trish nicht sicher gewesen, ebenso vor dem St. Agnes Hotel, beim Barber-Shop, dem Cuckoo Café, beim Blumenladen oder wie zuletzt bei Churchtown Arts … das war kurz vor Weihnachten gewesen. Sie hatte für ihren Vater nach einem Geschenk gesucht – Roger wollte eins für Trish kaufen, was er ihr natürlich brühwarm erzählen musste! Doch das Schlimmste war, dass Annie die beiden am Silvestertag im Chiverton-Park gesehen hatte. Hand in Hand waren sie völlig versunken an ihr vorbeispaziert. Der Schmerz war kaum auszuhalten gewesen.

„Annie, Kleines, huhu!“ Minnie stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihrem Souvenir-Geschäft und winkte ihr fröhlich zu. Wie üblich trug sie einen altmodischen Faltenrock mit Schottenmuster und einen ihrer legendären Rollkragenpullover, in die sie sich vermutlich täglich hineinschoss, so eng saßen die Teile. Das brachte ihre ohnehin große Oberweite noch mehr zur Geltung, von den üppigen Rundungen ganz zu schweigen. Abgesehen von ihrem etwas eigenartigen Modegeschmack und der Tatsache, dass sie sich bei jedem Verkauf verrechnete – natürlich zu ihrem Vorteil – war Minnie eine warmherzige und liebenswürdige Frau.

„Hallo, Minnie“, grüßte Annie über die Straße hinweg und beschleunigte ihre Schritte. So gern sie Minnie hatte, an ihrer Lustlosigkeit auf ein Gespräch hatte sich in den letzten Minuten nichts geändert.

„Willst du nicht rüberkommen?“

„Keine Zeit“, rief Annie zurück.

„Tatsächlich?“, schmetterte Minnies Stimme über die Straße herüber. „Ich dachte, du bist deinen Job los. Zumindest einen von zwei.“

Peinlich berührt schaute sich Annie um, bevor sie die Straße überquerte. Dabei wickelte sie ihr angebissenes Shortbread in das Papier. „Geht es noch lauter? Und woher verdammt weißt du davon?“, zischte sie, als sie vor Minnie stand.

„Die Wege des Herrn sind unergründlich.“

„Jeremy?“, entsetzte sich Annie und ein Blick in Minnies Gesicht genügte, um Gewissheit zu haben. „Er hat ein Beichtgeheimnis ausgeplaudert!“

„Warst du denn beichten?“, hakte Minnie spitz nach.

„Das nicht gerade … oh, diese alte Tratschtante!“

„Sei ihm nicht böse“, bat Minnie. „Als er mich vorhin anrief und eine neue Schlafmaske bestellte, habe ich sofort gemerkt, dass es ihm nicht gut geht. Du kennst ihn ja. Jeremy trägt das Herz auf der Zunge. Aber er meint es nur gut und macht sich Sorgen um dich, so wie wir alle.“ Prüfend taxierte sie Annie von oben nach unten. „Du solltest übrigens auf süße Leckereien verzichten.“

Genau das hatte Annie noch gebraucht. Vor allem nicht in Anbetracht dessen, dass Trish eine sportliche Frau war mit einer Figur, auf die jedes Mannequin neidisch gewesen wäre.

„Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, Mädchen. Du bist hübsch wie eh. Allerdings sieht man dir die Sorgen an. Geht es deinem Vater noch immer nicht besser?“

Mittlerweile hasste Annie diese Fragen. „Erkundige dich bei Jeremy. Der kann dir sicher eine Antwort darauf geben.“

„Ich möchte sie aber von dir hören.“ Minnie hob die Hände, wie es Annies Onkel beim Predigen oft tat. „Verflucht, habe ich zu Jeremy gesagt, Joseph braucht eine Aufgabe.“ Sie schüttelte den grau melierten Kopf und strich sich über die hochroten Wangen. Minnie hatte ein grobschlächtiges Gesicht und war in armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine Farm im Hinterland betrieben, allerdings hatte Minnie seit ihrer Hochzeit mit Duncan weder zu ihnen noch zu den Geschwistern Kontakt gehabt. Inzwischen waren die Eltern verstorben, doch das hatte nichts am schlechten Verhältnis zu den Geschwistern geändert. „Duncan und Harold sind übrigens derselben Meinung.“

„Ich wüsste nicht, was Vater dazu bewegen könnte, sich gebraucht zu fühlen.“

„Deine Mutter vielleicht?“ In ihrem Blick lag ein seltsamer Ausdruck.

„Hat dich Jeremy angesteckt?“, machte Annie ihrem Unmut Luft.

„Ich lasse mich von niemand beeinflussen, so gut solltest du mich kennen. Da ich aber Marys beste Freundin bin, mache ich mir meine eigenen Gedanken. Insofern bitte ich dich inständig, nicht so hart mit ihr ins Gericht zu gehen. Wir machen alle Fehler.“

 

„Und schubsen andere damit in den Abgrund?“

„Dein Vater ist alt genug. Niemand hat ihn gezwungen, zur Flasche zu greifen.“

„Mag sein, dennoch war es egoistisch von ihr, ihn auf diese Weise zu verlassen. Noch dazu hat sie ihn betrogen!“, wurde Annie lauter, weil sie allmählich das Gefühl hatte, sich ständig verteidigen zu müssen. Davon abgesehen fand sie es ungerecht, dass sich offensichtlich jeder hinter die Mutter stellte. Ganz unrecht hatte ihr Dad demnach nicht gehabt. „Das ist unterste Schublade, gemein, hinterhältig und feige. Verlogen und niederträchtig!“

„Sprechen wir noch über deine Mutter oder bereits von Roger?“

Annie fühlte sich ertappt. „Der Typ kann mir gestohlen bleiben. Ebenso wie Mom.“

„Du musst endlich abschließen. Mit allem.“ Minnie trat einen Schritt näher und beugte sich verschwörerisch zu ihr, nachdem sie sich wie ein Cop umgesehen hatte, der einen Angriff aus dem Hinterhalt befürchtete. „Auch ich musste auf die harte Tour lernen, dass man gewisse Dinge im Leben nicht ändern kann. Rose hat mir sehr dabei geholfen. Geh zu ihr, sie könnte bestimmt dasselbe für dich tun.“

„Du meinst hoffentlich nicht Hokuspokus-Rose?“

Eifrig nickte Minnie. „Rose sieht Dinge, dass einem ganz anders wird und bisher ist alles eingetroffen. Probier es aus, danach kannst du immer noch lästern.“

Annie winkte ab und schaute zur Seitenstraße. Versteckt hinter einer Dattelpalme befand sich Roses kleines Geschäft, die Räucherkerzen, Duftseifen und andere überflüssige Dinge verkaufte. „Das ist nichts für mich, denn die Lösung meiner Probleme findet sich bestimmt nicht im Kaffeesatz.“

„Stimmt, eine Lösung kann sie dir nicht servieren, aber neue Perspektiven.“ Wie ein junges Mädchen eilte Minnie plötzlich zur Tür, zog die Silberkette mit dem Schlüssel unter ihrem Rollkragen hervor und verschloss das Geschäft, wozu sie sich etwas runterbeugen musste. Wie gewohnt hatte man bei solchen Gelegenheiten einen freien Blick auf den Ansatz ihres blanken Hinterteils, da sich der Pulli hochschob und der Rock in die entgegengesetzte Richtung abdriftete. Nicht zum ersten Mal stellte sich Annie die Frage, ob es Minnie mit der Unterwäsche hielt wie die Schotten … ein Gedanke, den sie jedoch sofort vergaß, weil sie energisch an die Hand genommen und in Richtung Seitenstraße gezogen wurde. „Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen.“

„Bist du verrückt?“ Annie riss sich von Minnie los. „Ich will nicht zu dieser Frau.“

„Und ob du willst!“ Minnie stemmte die Hände in die Hüften. „Es sei denn, du kannst allein damit fertig werden, dass dein feiner Roger am Tag des Bolster-Festivals heiratet.“

Annie starrte Minnie an. „Was … was sagst du da?“, stammelte sie den Tränen nahe. Die beiden waren erst seit einigen Monaten zusammen und nun wollte er diese Kuh sogar heiraten?

„Tut mir leid, dass ich mit der Tür ins Haus falle.“ Minnie wirkte nicht, als würde sie das schlechte Gewissen zerfressen. „Aber du kennst mich. Ich fackle nicht lange herum.“

„Nein, besonders sanft bist du tatsächlich nicht.“ Das durfte nicht wahr sein! Roger wollte tatsächlich heiraten? Etwas, das sich Annie immer für sich selbst gewünscht hatte. „Woher weißt du das? Von … von Jeremy?“ War er deswegen so hektisch geworden? Weil er Roger und Trish erwartet hatte?

„Der kleine Hosenscheißer hatte Angst davor, es dir zu erzählen. Allerdings wollten wir, dass du es von uns erfährst. Umso dringender brauchst du jetzt psychologischen Beistand. Wir können unmöglich dabei zusehen, wie du langsam vor die Hunde gehst. Und nun komm. Rose schließt gleich.“

„Diese Frau ist keine Psychologin, ganz im Gegenteil“, schnaubte Annie. „Wenn du mich fragst, hat Rose selbst eine nötig.“

„Dich fragt aber keiner! Hat der saubere Roger auch nicht getan, bevor er mit Trish ins Bett gehüpft ist.“ Minnie nahm ihr das Shortbread aus der Hand, bevor sie Annie wieder an die Kandare nahm, die sich diesmal widerstandslos mitziehen ließ, weil alles in ihr erlahmte. Nur ein Gedanke beherrschte sie und raubte ihr beinahe die Sinne: Roger wollte heiraten! Wie konnte er ihr das antun? Als hätte es die gemeinsame Zeit nie gegeben, legte er sie ab wie einen gebrauchten Mantel, den man möglichst schnell mit einem neuen austauschte. Bei Todesfällen nahm man doch auch nicht sofort den Nächstbesten, sondern ließ aus Anstand etwas Zeit verstreichen! Den schien ihr Ex jedoch nicht zu haben. Oder gab es einen triftigen Grund für die schnelle Hochzeit? War Trish womöglich … schwanger?

Kaum hatte Jack vor der Villa geparkt, sprang Leni aus dem Auto und blickte sich um. Natürlich mit dem Handy in der Hand.

„Das ist der Hammer, Dad. Schau dir bloß die Aussicht an! Ein Traum, oder?“ Ihre großen Ohrringe klimperten wie die vielen Armbänder, die sie neuerdings trug.

Jack verschloss den Geländewagen, der tatsächlich über allerhand Technik verfügte. Sogar mit einem Navi war er ausgestattet. Leider auch mit einem dieser Duftbäumchen. Der künstliche Geruch hatte sich förmlich in seine Nase gebrannt. Sein armer Laptop auf dem Rücksitz würde vermutlich tagelang danach stinken.

„Es ist umwerfend“, schwärmte Leni munter weiter, während er an ihre Seite trat.

Sie hatten einen freien Blick auf St. Agnes und das aufgewühlte Meer. Selbst von hier oben konnte man die Gischt sehen, wenn die Wellen gegen Felsen brandeten. Unten an der Bucht spazierten einige Menschen am Strand entlang. Gelbe Kajaks reihten sich nahe dem Wasser auf, umringt von Leuten in Neoprenanzügen. Zwei von ihnen lösten sich aus der Gruppe und marschierten auf das Beach Café zu, dessen Name Jack entfallen war. Da dieses Grundstück jedoch nicht zum Verkauf stand, konnte er das durchaus verschmerzen. Anders verhielt es sich mit einem alten Zinnwerk und vor allem mit dem Geschäftshaus am Fuße der Küstenstraße, bei dem er kurz angehalten hatte. Wie sich bei der Recherche herausgestellt hatte, gehörte es beinahe der Bank und wirkte in Natura noch baufälliger als auf den Bildern. Ein großer Verlust würde dieser Schandfleck nicht sein. Insofern dürfte es ein Spaziergang werden, die Verantwortlichen auf seine Seite zu ziehen. Notfalls mit Schmiergeldern, die in jeder Branche ein gern gesehenes Zahlungsmittel waren … sogar in Banken. Danach erhöhte diese den Druck auf die Schuldner, denen irgendwann die Luft ausging. So zumindest hatte es ihm der Vater eingebläut.

Zufrieden atmete Jack tief ein und wischte sich über die feuchte Stirn. Für Ende April war es ziemlich warm. Bedingt durch den Golfstrom herrschte in Cornwall mildes Atlantikklima vor, wodurch die Gegend für britische Verhältnisse vergleichsweise sonnenverwöhnt war. Sogar Keulenlilien und kanarische Dattelpalmen hatte er bei der Herfahrt gesehen, die viele Gärten oder Parkanlagen schmückten. „Nicht übel“, ließ er verlauten und erspähte weiter unten an einer Kurve den Möbelwagen, der ihnen kurz vor der Villa untergekommen war.

„Nicht übel?“ Leni blickte ihn an, als wäre sie über seine Aussage enttäuscht, bevor sie sich zur Villa umdrehte. Jack tat es ihr nach und ließ den Bau auf sich wirken. Hier an der Küste schienen viele ein Faible für Weiß zu haben, doch da die Villa ohnehin in einigen Wochen nicht mehr stehen würde, tangierte ihn das nicht weiter. Um die verschnörkelten Säulen war es zwar schade, aber wo gehobelt wurde fielen Späne. So würde auch die großzügige Veranda mit der Rattan-Sitzecke weichen müssen, die Jack an einige Südstaaten-Filme erinnerte, die seine Großmutter früher gerne geschaut hatte.

„Kaufst du das Haus, Dad?“

„Das habe ich vor, ja.“

„Darf ich es mir ansehen?“

„Dazu sind wir hier. Also, lass uns Mister Winter suchen.“

Knapp vor der grün getünchten Tür eilte ihnen ein älterer Herr entgegen, der von der Rückseite der Villa kam. Er trug eine blaue Cordhose, ausgetretene Filzschuhe, ein kariertes Hemd und einen Strohhut. Nachdem er sich als Mister Winter vorgestellt hatte, vertieften sich er und Jack in das Verkaufsgespräch, wobei ihn der alte Herr mit Leni im Schlepptau durch die einzelnen Räume führte. Dabei tat Jack interessiert, da Mister Winter jede noch so unscheinbare Kleinigkeit in den Mittelpunkt rückte. Das war ein klares Indiz dafür, dass er sich mit dem Verkauf schwertat. Deshalb musste Jack Anerkennung heucheln, worin er einer der Besten war. Gelernt war eben gelernt.