Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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Um die Qualität der Enzyklopädie sicherzustellen und ein kontraproduktives Nutzerverhalten zu vermeiden, verfügt Wikipedia über ein System von Kontrollmechanismen. Zur Sicherung der Artikelqualität werden die Artikel in Echtzeit von BotsWikipediagemeinschaft– Bot und erfahrenen Wikipedianern überprüft. Besonders vorbildlichen Artikeln wird in der französischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– französische der Status

article de qualité

 und in der italienischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– italienische

voce in vetrina

 verliehen. Im Jahre 2017 waren dies in der französischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– französische 1.635 der 1.933.435 Artikel und in der italienischen 559 der 1.401.924 Artikel. Eine Stufe darunter werden die Prädikate

bon article

 (2.830 im Jahre 2017) und

voce di qualità

 (395 im Jahre 2017) vergeben. Der Unterschied zwischen den beiden Bewertungen besteht darin, dass die beste Bewertung an Artikel mit einem ausgezeichneten Sprachstil, zahlreichen multimodalen Elementen und einer vertieften Argumentation vergeben wird, während für die Einschätzung als guter Artikel die Erfüllung der Wikipediakonventionen auf einem Basisniveau ausreicht (WPI 2017: s.v.

Wikipedia:Confronto tra voci di qualità e voci in vetrina

). Doch nicht nur die Artikelqualität wird kontrolliert, sondern auch das Nutzerverhalten. Um die produktive Erstellung der Artikel in der Gemeinschaft zu sichern, können Nutzer bei Fehlverhalten temporär blockiert oder ganz gesperrt werden.



Das Funktionieren der Wikipediagemeinschaft, aber auch die Inhalte der Artikel sind das Ergebnis von Aushandlungsprozessen. Die DiskussionsseiteDiskussionsseite der Artikel dient der inhaltlichen Diskussion von Standpunkten. Auch die Regeln der Gemeinschaft werden in Diskussionen ausgehandelt. Ist diese festgefahren, wird ein Meinungsbild (fr.

prise de décision

, it.

sondaggi

) eingeholt und zur Abstimmung gestellt. Das Abstimmungsergebnis ist für die Regelfindung bindend. In der französischen Wikipedia werden beispielsweise Regeln zum Status der Nutzer, aber auch zur Abfassung der Artikel in solchen Prozessen festgelegt. So ist der Titel von Artikeln zu Sprachen normiert, und auch die Regel, die Bezeichnung

états-unien

, wenn möglich, durch

américain

 zu ersetzen, stammt aus einer solchen Abstimmung (cf. WPF 2015: s.v.

Wikipédia:Prise de décision/Titre des articles sur les langues

; WPF 2015: s.v.

Wikipédia:Prise de décision/États-unien

). In der italienischen Wikipedia werden die Regeln für die Gemeinschaft und die Erstellung der Artikel ebenfalls in Abstimmungsprozessen erarbeitet. So finden sich Abstimmungen zur Regelung der Groß- und Kleinschreibung von Toponymen in Vorbereitung (WPI 2015: s.v.

Wikipedia:Sondaggi

).



Bei der Artikelerstellung treten Konflikte auf, die in der Gemeinschaft nicht erwünscht sind, da sie die kollaborative Erstellung der Enzyklopädieartikel behindern. Diese werden verbal auf den DiskussionsseitenDiskussionsseite der Wikipedia ausgetragen (cf. Eiber/Reutner im Druck). Zu diesen Konflikten sind der VandalismusVandalismus, das mutwillige Manipulieren oder Beschädigen von WikipediaartikelnWikipediaartikel zu zählen. Zumeist sind davon Artikel zu berühmten Persönlichkeiten betroffen, aber auch kontroverse historische Ereignisse. Jedoch spielt VandalismusVandalismus in Wikipedia quantitativ gesehen eine relativ geringe Rolle. In der französischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– französische sind 1–2 % (Manson 2015) aller Bearbeitungen als Vandalismus einzuschätzen, in der englischen Wikipedia sind es 5 % (Priedhorsky et al. 2007). Zudem werden die beschädigten Inhalte sehr schnell korrigiert: In der englischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– englische werden Massenlöschungen innerhalb von 2,8 Minuten revertiert (cf. Viégas Bertini/Wattenberg/Dave 2004: 579). Ebenso kontraproduktiv sind BearbeitungskriegeBearbeitungskrieg (

edit wars

), bei denen Bearbeitungen wechselseitig revertiert werden, oder LöschkriegeLöschkrieg (

deletion wars

) zwischen Administratoren, bei denen Artikel wechselseitig gelöscht und wiederhergestellt werden. Untersuchungen zu BearbeitungskriegenBearbeitungskrieg in der englischen Wikipedia zeigen, dass der Editionsprozess zumeist friedlich verläuft und insgesamt nur ein Prozent aller Artikel betroffen sind (Sumi et al. 2011). BearbeitungskriegeBearbeitungskrieg zeugen nicht unbedingt von gegenseitiger Missgunst, sondern können auch aus mangelnder Kommunikation entstehen. Ebenso tragen Bots solche BearbeitungskriegeBearbeitungskrieg unbeabsichtigt aus, weil die Künstlichen Intelligenzen nicht aufeinander abgestimmt sind und so gegenseitig ihre Arbeit wieder rückgängig machen (cf. Tsvetkova et al. 2017: 1). Neben diesen Erscheinungen existieren zusätzlich Manipulationen von Artikelinhalten, aber auch von Abstimmungen, häufig unter Benutzung von Mehrfachkonten, den SockenpuppenWikipediagemeinschaft– Sockenpuppe (fr.

faux-nez

, it.

sockpuppets

).





3.3.3 Kommunikationssituation



WikipediaartikelWikipediaartikel werden kollaborativkollaborativ in einem WikiWiki erstellt, weswegen sich ihre Kommunikationssituation von derjenigen gedruckter Enzyklopädieartikel unterscheidet. Insgesamt unterliegen WikipediaartikelWikipediaartikel zwar mehrheitlich den Bedingungen der DistanzkommunikationDistanzkommunikation, allerdings rückt die Ausprägung einiger Parameter die Diskurstradition tendenziell in die Richtung des nähesprachlichenNähesprachlichkeit Pols (cf. Reutner 2013b: 236). Bei WikipediaartikelnWikipediaartikel handelt es sich um Produkte einer öffentlichen Massenkommunikation, da diese weltweit und kostenlos abgerufen werden können. In den meisten Fällen kennen sich die Autoren und die Rezipienten der Artikel nicht, selbst wenn einige der Autoren Profilseiten mit persönlichen Informationen in Wikipedia angelegt haben und sich ein relativ kleiner Kreis von Wikipedianern gebildet hat, die überproportional aktiv sind und sich zumindest unter Pseudonym kennen. Die Richtlinien fordern, dass beim Erstellen der Artikel die eigenen Emotionen zugunsten einer sachlich-neutralen Darstellung von Fakten zurückgehalten werden, jedoch ist stellenweise trotzdem eine emotionale BeteiligungEmotionalität der Wikipediaautoren zu beobachten (cf. Reutner 2013b: 236f.). Zudem sollen die Inhalte eine situationsunabhängige Gültigkeit besitzen. Der Artikel soll keine Handlungs- und SituationseinbindungHandlungs- und Situationseinbindung aufweisen. Dies trifft auf Themen ohne Aktualitätsbezug zu. Allerdings können WikipediaartikelWikipediaartikel durch ihre einfache Erstellung und schnelle Abänderung auch auf Ereignisse des situativen Kontexts reagieren, wodurch sie in die Nähe zu aktuellen Nachrichten geraten. In solchen Fällen wird häufig der Artikel simultan zum Ereignis angelegt, wobei mit der Darstellung einzelner Abschnitte so lange gewartet wird bis etappenweise gesicherte Informationen zur Verfügung stehen, die dann in den Artikel integriert werden. Ein Beispiel für eine derartige Artikelentstehung ist der Eintrag zum Stichwort

Vol 9525 Germanwings

, der simultan zum Ereignis entstand. Auf diesen Umstand verweist das angebrachte Banner mit der Information „Cet article concerne un événement récent ou en cours“ (WPF 2015: s.v.

Vol 9525 Germanwings

). In den ersten Versionen des Artikels finden sich Vermutungen wie „Dans l’hypothèse d’une absence de survivant, il s’agirait de l’accident aérien le plus meurtrier qui se soit produit sur le territoire français “ (WPF 2015: s.v.

Vol 9525 Germanwings

). Zudem wird im Versionsverlauf ersichtlich, wie Informationen aus Nachrichten in den Artikel integriert und mit zunehmender zeitlicher Distanz einem enzyklopädischen Stil angepasst werden:





 (6) Dès la mi-journée le 24 mars, le président de la République française, François Hollande, annonce que « les conditions de l’accident laissent penser qu’il n’y a aucun survivant » (WPF 2015: s.v.

Vol 9525 Germanwings

, 24. März 2015, 14:16).



 (7) Dès la mi-journée du 24 mars, le président de la République Française, François Hollande, ainsi que le secrétaire d’État aux Transports, Alain Vidalies, ont annoncé qu’il n’y avait aucun survivant (WPF 2015: s.v.

Vol 9525 Germanwings

, 27. Juli 2018, 12:10).





So enthält der erste Beleg durch die Nutzung des Präsens und eines wörtlichen Zitats, das zudem eine vorsichtige Vermutung enthält, einen zeitlich näheren Bezug zum Ereignis als der zweite Beleg, der das

passé composé

 nutzt, das wörtliche Zitat streicht und ein gesichertes Faktum präsentiert. Die Verlässlichkeit der Informationen wird in der VersionsgeschichteVersionsgeschichte kommentiert, wobei das Statement Hollandes aus manchen Versionen mit der folgenden Begründung gelöscht wird:



Questions chiffres, il n’y a encore rien d’officiel pour l’instant; Hollande s’est borné à déclarer qu’il est vraisemblable que tous les occupants sont morts, mais à vrai dire on en sait encore rien personne n’ayant encore accédé au site du crash (WPF 2015: s.v.

Vol 9525 Germanwings

).



Bei einem solchen Prozess kann es vorkommen, dass auf Gegenstände referiert wird, die sich in der Nähe der Sprecher-

origo

Sprecher-

origo

 befinden, insbesondere was die zeitliche Nähe der Ereignisse in einem Jetzt betrifft. Mit zunehmendem Alter des Wikipediaartikels treten jedoch die Bedingungen der kommunikativen Distanz in Kraft und der Artikel bezieht sich auf entfernte Gegenstände. Die Rezeption von Wikipediaartikeln am Bildschirm eines PCs oder am Smartphone bringt es mit sich, dass Produzent und Rezipient in der Regel sowohl zeitlich als auch räumlich getrennt sind, obwohl durch den Aufenthalt in einem gemeinsamen virtuellen Raum ein Gemeinschaftsgefühl entstehen kann. Dies trifft besonders auf registrierte Wikipedianer zu, die aus Rücksicht auf den Artikelautor sehr vorsichtig mit der Abänderung von Artikeln umgehen. Trotz der physischen Distanz der Kommunikationspartner macht die Wikitechnologie eine intensive KooperationKooperation bei der Artikelerstellung möglich, was auch das herausragende Merkmal der Wikipedia darstellt. Die Kooperation über ein WikiWiki dynamisiert den Text und stellt somit das wesentliche Abgrenzungsmerkmal zu gedruckten Enzyklopädieartikeln dar (cf. Reutner 2013b: 236; Mederake 2016, die aufgrund der Überschreibungspraktik von digitalen Palimpsesten spricht). Bezogen auf die Parameter von Koch/Oesterreicher lässt sich zudem sagen: „Kooperationsmöglichkeit definiert Wikipedia geradezu und ist damit das einzige nähesprachliche Merkmal, das komplett zutrifft“ (Reutner 2013b: 236). KooperationKooperation erfolgt in Wikipedia „im Sinne eines parallel erfolgenden, arbeitsteiligen Schreibens“ (Kallass 2015: 324), wobei die Technologie dem Rezipienten erlaubt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt den Bearbeiten-Button zu drücken und selbst an der Gestaltung des Diskurses mitzuwirken.1 Im Gegensatz zum Face-to-Face-Gespräch ist Kooperation jedoch keine Voraussetzung für die Existenz der Diskurstradition, denn ein WikipediaartikelWikipediaartikel könnte theoretisch von einem einzelnen Autor allein verfasst werden, während ein Gespräch ohne die Kooperation des Kommunikationspartners schnell abbricht. Ein Face-to-Face-Gespräch ist jedoch schon aufgrund seines dialogischen Charakters sehr viel stärker auf die Mitarbeit des Kommunikationspartners angewiesen als dies bei einem monologischen Wikipediaartikel der Fall ist. WikipediaartikelWikipediaartikel werden zwar kooperativ erstellt, das Ergebnis soll jedoch nach wie vor ein monologischer Enzyklopädieartikel sein, in dem kein Wechsel der Sprecherrolle stattfindet, und der zudem so wenig wie möglich von der PolyphoniePolyphonie der Autoren geprägt ist. Dementsprechend ist zwar in Wikipedia die kollaborativekollaborativ Beteiligung an der Artikelerstellung möglich, diese reicht jedoch nicht bis zum regelmäßigen, sichtbaren und aufeinander angewiesenen Wechsel der Sprecher im Sinne einer DialogizitätDialogizität, da die KooperationKooperation dazu auch zeitlich zu stark zerdehnt wäre (cf. Reutner 2013b: 236). Die Möglichkeit der kooperativen Erstellung und der Abänderung von Enzyklopädieartikeln kann jedoch dazu führen, dass Modifikationen durchgeführt werden, die eher spontanSpontaneität und weniger sorgfältig geplant erfolgen, obwohl in den Richtlinien die Reflektiertheit bei der Artikelerstellung einen hohen Stellenwert einnimmt (cf. Reutner 2013b: 236f.). Zudem finden sich Artikel im Entwurfsstadium, deren Struktur im Vorhinein nicht vollständig von den Autoren geplant worden ist, sondern die auf Vervollständigung warten. Ebenso kann in WikipediaartikelnWikipediaartikel teilweise ein tendenziell geringerer Grad der ThemenfixierungThemenfixierung als in PrintartikelnPrintartikel festgestellt werden, was erstens daran liegt, dass es für das Thema und dessen Ausführung keine redaktionellen Vorgaben gibt, und dass zweitens mehr Platz für Exkurse zur Verfügung steht, die jedoch in einigen Fällen in selbstständige Artikel ausgelagert werden (cf. Reutner 2013b: 237).

 



Neben den Parametern nach Koch/Oesterreicher (2011) spielt zudem eine Rolle, in welchem hierarchischen Verhältnis der Produzent und der Rezipient eines Wikipediaartikels stehen. Dies lässt sich im Falle der Wikipediaartikel kaum sagen, da eine Vielzahl anonymer Autoren, die unter ihrer IP-Adresse oder einem Pseudonym firmieren, einem noch größeren Kreis anonymer Rezipienten gegenüberstehen. In Wikipedia ist nicht klar, auf welcher Seite sich die Experten oder die Laien befinden, ebenso wird die Grenze zwischen Autor und Leser aufgeweicht, indem jeder Leser auch sofort zum Autor werden kann.





3.3.4 Artikelaufbau



Die MakrostrukturMakrostruktur von WikipediaartikelnWikipediaartikel ist zum Teil durch die Wikitechnologie vorgegeben (cf. Pentzold/Fraas/Meier 2013: 96), weswegen Artikel unterschiedlicher Sprachversionen einen zunächst homogenen Eindruck erwecken. Die Wikifunktionalitäten bleiben in jeder Sprachversion gleich, die Schaltflächen werden jedoch in der jeweiligen Sprache der Version betitelt. So kann im Browser die Artikelansicht (fr.

article

, it.

voce

) im LesemodusLesemodus (fr.

lire

, it.

leggi

) gewählt werden, womit der Enzyklopädieartikel für die einfache Rezeption dargestellt wird. Wird dagegen der BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus gewählt (fr.

modifier

, it.

modifica

), so kann der Artikel in einem visuellen Editor bearbeitet werden. Mithilfe des Modus Quelltext anzeigen (fr.

modifier le code

, it.

modifica wikitesto

) ist es möglich, die Bearbeitungen in Wikicode vorzunehmen. Zusätzlich lässt sich die VersionsgeschichteVersionsgeschichte zum Artikel (fr.

voir l’historique

, it.

cronologia

) anzeigen. Diese enthält sämtliche vorherige Versionen, wobei für eine Version jeweils das Abänderungsdatum, das Pseudonym des Nutzers, ein Link auf dessen persönliche DiskussionsseiteDiskussionsseite und dessen Abänderungen, die Größe der Änderung in Oktetten, und manchmal ein kleiner Kommentar angezeigt werden. Zudem ist der automatische Vergleich zweier Versionen möglich. Mithilfe weiterer Programme können Artikelstatistiken generiert werden. Verknüpft mit der Artikelseite ist die zugehörige DiskussionsseiteDiskussionsseite (fr.

discussion

, it.

discussione

). Da Form und Inhalt der Artikel auf der DiskussionsseiteDiskussionsseite verhandelt werden, spricht Herring (2013: 5) von einer Text-Text-KonvergenzText-Text-Konvergenz, die sich auch in anderen Web 2.0Web 2.0-Anwendungen, wie etwa Kommentaren zu Zeitungsartikeln, zeigt. Auch die DiskussionsseiteDiskussionsseite lässt sich wiederum in den genannten Modi darstellen. Die Darstellbarkeit des Artikels im Lese- und BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus sowie die Verknüpfung mit der DiskussionsseiteDiskussionsseite und der VersionsgeschichteVersionsgeschichte haben zur Folge, dass ein Enzyklopädieartikel nicht nur als Produkt rezipierbar ist, sondern dass auch dessen Entstehungsprozess nachvollzogen werden kann:



Wikis lenken die Aufmerksamkeit nicht nur auf das sich wandelnde Textprodukt, sondern auch auf den Entstehungsprozess, da eine Verschränkung von fließendem Textprodukt, von Diskussionsseiten und einer mehrstufigen Versionsverwaltung Einblicke in die Textentstehung sowie deren Dokumentation erlaubt (Endres 2016: 39).



Obwohl in der vorliegenden Studie der Fokus auf die Artikelansicht gelegt wird, stellt sich die Frage, ob sich diese in Wikipedia überhaupt als eigenständiger Text abgrenzen lässt, oder ob ein WikipediaartikelWikipediaartikel nicht vielmehr aus einem ganzen Geflecht von Texten zusammengesetzt ist, das die Artikelansicht, die DiskussionsseiteDiskussionsseite und die VersionsgeschichteVersionsgeschichte umfasst (cf. Endres 2016: 40; Gredel 2017: 102). Neben den verschiedenen Darstellungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten ist der Artikel über Suchfunktionen auffindbar, welche die hypertextuelle Vernetzung der Artikel vor Augen führen und die zumeist alphabetische MakrostrukturMakrostruktur traditioneller Enzyklopädien weit übertreffen. In Wikipedia existieren ein alphabetischer Zugriff, eine Suche nach Schlagwörtern und ein thematischer Zugriff. Ein weiterer Effekt des Wikisystems ist die Vielzahl von Links zu anderen Wikipediaartikeln, zu detaillierteren Artikeln, externen Quellen oder Seiten der Wikipediagemeinschaft. Die Mindestanforderung an einen WikipediaartikelWikipediaartikel besteht in einem StichwortStichwort und einem Link zu einem anderen Artikel (cf. Pentzold/Fraas/Meier 2013: 93).



Eine größere Variation zwischen Artikeln aus verschiedenen Sprachversionen und zu verschiedenen Stichwörtern zeigt sich an denjenigen Elementen der Artikelstruktur, die nicht durch die Wikisoftware vorgegeben werden. In ihrem Aufsatz analysieren Pentzold/Fraas/Meier (2013: 91–97) den Artikel

Chemnitz

 aus der deutschen Wikipedia und heben insbesondere die deutliche grafische Abtrennung des Lemmas und die horizontalen Überschriften hervor, die die Rezeption des Artikels erleichtern. Das Lemma wird im ausgewählten Artikel von geografischen Koordinaten und Aussprachehinweisen begleitet. Auffällig ist zudem die Vielzahl von Bildern, Landkarten, Tabellen und Diagrammen mit Bildunterschrift. Am Ende des Artikels befinden sich Literaturhinweise, Referenzen und Listen mit Weblinks (cf. Pentzold/Fraas/Meier 2013: 91–97). Ebenfalls einen Artikel aus der deutschen Wikipedia analysieren Fandrych/Thurmair (2011: 106–108), nämlich den Eintrag zum Stichwort

Kritik

. Sie stellen dabei eine mit gedruckten Enzyklopädieartikeln vergleichbare Textstruktur fest, wobei einige Elemente stärker ausgebaut sind. Dazu gehören die ausführlichen etymologischen Angabenetymologische Angabe, das vorgeschaltete Inhaltsverzeichnis und die breite Besprechung allgemeiner Verwendungsweisen von

Kritik

 (cf. Fandrych/Thurmair 2011: 106–108). Der von Liebert/Kohl (2004: 139f.) aus der deutschen Wikipedia gewählte Artikel

Ozonloch

 weist die Elemente Überschrift, Zusammenfassung, Inhaltsverzeichnis, Bild und Artikeltext auf. Auffällig ist auch, dass Fachausdrücke mit einem Link auf den entsprechenden Artikel versehen und nicht weiter erläutert werden. Der Artikel selbst ist kurz, weil über den Hypertext weitere Informationen in andere Artikel ausgelagert werden. Zudem sind unterschiedliche Kapitel in der deutschen und in der englischen Fassung feststellbar (cf. Liebert/Kohl 2004: 139f.).



Den Artikel

Euro

 untersucht Reutner (2013b, 2014a) hinsichtlich der Artikelstruktur in der italienischen, französischen, englischen, spanischen und deutschen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– deutsche der Wikipedia. Als häufig auftretende Strukturelemente identifiziert Reutner das einleitende Resümee, die Infobox, ein Inhaltsverzeichnis, den in Kapitel gegliederten Textkörper, Fußnoten, eine Bibliografie und eine Liste mit Links. Allerdings fehlen im spanischen und deutschen Artikel die Fußnoten und im italienischen Artikel zum Stichwort

Euro

 die Bibliografie, was zeigt, dass die genannten Elemente nicht in jedem Artikel zwingend auftreten müssen. Zudem weisen die Elemente eine unterschiedliche Länge auf. Der italienische Artikel zeichnet sich beispielsweise durch ein besonders langes Resümee aus. Die unterschiedliche Länge der Elemente bewirkt eine Schwerpunktsetzung der Artikel auf jeweils spezifische Themen.1 Ebenso variiert die Frequenz von Bildern, die im italienischen Artikel mehr Platz beanspruchen als im deutschen Artikel.



Den Aufbau von Wikipediaartikeln untersuchen auch d’Achille/Proietti (2011). Ihr Korpus besteht aus jeweils zwölf Artikeln der italienischen, französischen, englischen und deutschen Sprachversion.2 In ihrem Korpus stellen d’Achille/Proietti als häufige Elemente ein kurzes einführendes Resümee fest, das der DefinitionDefinition des StichwortsStichwort dient. Der kürzeste Artikel im Korpus

Anacoluto

 besteht ausschließlich aus einem Resümee und enthält keine weiteren Elemente. In anderen Sprachversionen ist der entsprechende Artikel hingegen deutlich länger. Auf das Resümee folgt in allen Sprachversionen das Inhaltsverzeichnis. Auffällig sind auch die Abschnitte mit Verweisen auf weitere Wikipediaartikel oder Wikimedia-Projekte, externen Links, Fußnoten und die Bibliografie. Diese Elemente sind nicht zwingend bei jedem Stichwort vorhanden. Außerdem gleichen sie in einigen Fällen ungeordneten Listen. Zudem erhalten in den Wikipediaartikeln des Korpus ParatexteParatext wie Bildergalerien ein sehr starkes Gewicht.



Mit der Struktur von Wikipediaartikeln beschäftigt sich auch Tereskiewicz (2010). Sie untersucht sämtliche Artikel der englischen Wikipedia zum Anfangsbuchstaben

U

, was ein Korpus von insgesamt 968 Artikeln ergibt, die sich auf einem Kontinuum von konventionellen über unkonventionelle bis hin zu anti-enzyklopädischen Artikeln anordnen lassen. Die konventionellen Artikel machen 23 % des Korpus aus und zeichnen sich durch einen hohen Grad an logischer Konsistenz, Kohärenz und eine klare Struktur aus. In der Gruppe der unkonventionellen Artikel lässt sich einerseits die Tendenz zu einer mangelnden Strukturierung und andererseits die Tendenz zu einer verstärkten Fragmentierung feststellen. Insgesamt 267 Artikel im Korpus sind durch das Fehlen von Absätzen gekennzeichnet, was jedoch zunächst nur die grafische Gliederung des Artikels betrifft. Allerdings sind auch Artikel zu finden, in denen Teilaspekte ungeordnet aufgezählt werden und keinerlei Abschnitte zu einzelnen Themen feststellbar sind wie im Artikel

Ugaritic language

 (cf. Tereszkiewicz 2010: 105). Obwohl auch in Printenzyklopädien die Artikel keine Absätze aufweisen, so sind sie doch strikt nach Teilaspekten gegliedert. Im Falle einer verstärkten Fragmentierung, die bei 174 Artikeln festgestellt worden ist, werden einzelne Sätze zu Aspekten einfach isoliert nebeneinandergestellt. Dies ist in den Artikeln

Uria

 und

Urs

 der Fall und entsteht durch die Praktik des kollaborativen Schreibenskollaboratives Schreiben:

 



The flow of paragraphs in such articles is abrupt, as successive authors insert new sentences into the structure in a random fashion, without paying at