Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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3.3.6 Zwischenresümee

Im Unterschied zur redaktionellen Erstellung von Artikeln in Printenzyklopädien werden WikipediaartikelWikipediaartikel kollaborativ in einem WikiWiki erstellt. Diese Technologie geht auf Ward CunninghamCunningham, Ward zurück und wurde von Larry SangerSanger, Larry und Jimmy WalesWales, Jimmy ursprünglich als kollaborative Entwicklungsplattform für traditionelle Enzyklopädieartikel verwendet, die sich jedoch aufgrund ihres Artikelwachstums schnell verselbstständigt und zur eigenständigen Enzyklopädie, nämlich der Wikipedia, entwickelt hat. Kennzeichnend für die Technologie ist die schnelle Abänderung von Artikeln, das Anlegen von VersionsgeschichteVersionsgeschichten, aber auch der Austausch über DiskussionsseitenDiskussionsseite.

Auf der Basis dieser technischen Bedingungen bilden sich kommunikative Praktiken und soziale Hierarchien im Wikipediaprojekt heraus, die sich je nach Sprachversion unterscheiden können. Je nach Position, die vom anonymen IP-Adressen-Nutzer bis zum Administrator oder Steward reichen kann, werden unterschiedliche Rechte vergeben. Die Teilnahme an Abstimmungsprozessen ist angemeldeten Nutzern vorbehalten. Durch diese Prozesse gibt sich die Gemeinschaft die DiskursregelnDiskursregel selbst, lediglich die fünf Grundprinzipien gelten als unumstößlich und sind in jeder Sprachversion gleich. Dies hat zur Folge, dass in Wikipedia nicht nur kollaborative Schreibprozessekollaboratives Schreiben zu beobachten sind (Artikelerstellung, Bearbeitung und Korrektur, Vandalismus und edit wars), sondern dass auch die Gemeinschaft selbst die Diskursregeln für die Diskurstradition Enzyklopädieartikel für alle Nutzer in Stilblättern expliziert und in Abstimmungsprozessen an das Projekt anpasst.

Die Einbettung in die Funktionalitäten der Wikisoftware und in die kommunikativen Praktiken der Wikipediagemeinschaft prägen die kommunikativen ParameterwerteParameterwert, die für Wikipediaartikel charakteristisch sind. WikipediaartikelWikipediaartikel sind öffentlich zugänglich, und die Kommunikationspartner sind sich in der Regel fremd. EmotionalitätEmotionalität wird zum größten Teil vermieden, ist jedoch punktuell nachweisbar. In der Regel liegt aufgrund der situationsunabhängigen Gültigkeit der Inhalte Handlungs- und Situationsentbindung sowie referenzielle Distanz vor. Eine Ausnahme bilden Artikel, die simultan zu einem aktuellen Ereignis entstehen und rezipiert werden, wodurch eine referenzielle Nähe in Bezug auf die Zeit gegeben ist. Bei diesen ist mit zunehmenden zeitlichen Abstand vom Ereignis eine Anpassung an die Normen des enzyklopädischen Stils festzustellen. In der Regel sind Produzent und Rezipient sowohl räumlich als auch zeitlich getrennt. WikipediaartikelWikipediaartikel entstehen im Gegensatz zu PrintartikelnPrintartikel durch intensive KooperationKooperation über die Wikisoftware, die jedoch teilweise zeitlich stark zerdehnt stattfindet. Das Resultat des Prozesses ist ein monologischer Text. Die Möglichkeit zur Abänderung lässt einen höheren Grad der SpontaneitätSpontaneität zu, und der Grad der ThemenfixierungThemenfixierung ist etwas niedriger als in PrintartikelnPrintartikel. Zudem ist in Wikipedia, anders als in einer Printenzyklopädie, nicht klar, in welchem fachlichen Verhältnis Autoren und Rezipienten zueinanderstehen, was eine Abkehr vom Expertenprinzip der Printenzyklopädie bedeutet.

Die Erstellung der Wikipediaartikel in einem WikiWiki determiniert zudem sprachübergreifend die technischen Funktionalitäten der Artikel. Ein WikipediaartikelWikipediaartikel verfügt über eine Artikelansicht, einen BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus, die Anzeige und Bearbeitung des Quelltexts, eine VersionsgeschichteVersionsgeschichte sowie über eine mit dem Artikel verknüpfte DiskussionsseiteDiskussionsseite, die sich ebenfalls in unterschiedlichen Modi darstellen lässt. Ein WikipediaartikelWikipediaartikel ist über thematische und alphabetische Suchfunktionen auffindbar und über Links oder die Einsortierung in Kategorien mit anderen Artikeln automatisch verknüpft. Neben Elementen, die auf die Wikisoftware zurückzuführen sind, weist ein WikipediaartikelWikipediaartikel den typischen Aufbau eines gedruckten Enzyklopädieartikels auf, erweitert diesen jedoch um textstrukturierende Elemente. Typische Elemente sind ein grafisch deutlich abgesetztes StichwortStichwort, eine ausformulierte Definition, ein einleitendes Resümee, ein Inhaltsverzeichnis, ein Textkörper mit einzelnen Kapiteln, Fußnoten, eine Bibliografie, Links, Einordnung in Portale und Kategorien, und ein Verweis auf die jeweilige Version. Auffällig sind ebenfalls zahlreiche Tabellen, Grafiken und Diagramme. Des Weiteren wird in WikipediaartikelnWikipediaartikel eine Vielzahl von Quellen angegeben, um die Glaubwürdigkeit der Informationen zu unterstreichen. Aufgrund der kollaborativenkollaborativ Erstellung ist die Abfolge der Themen in Wikipediaartikeln nicht immer stringent und es ergeben sich teilweise zirkuläre oder auch redundante Artikelpläne.

In sprachlich-stilistischer Hinsicht orientieren sich WikipediaartikelWikipediaartikel am Modell der PrintartikelPrintartikel, weichen jedoch in einigen Punkten von diesen ab. Gemeinsam sind Print- und Wikipediaartikeln eine thematische Progressionthematische Progression mit durchlaufendem Thema, die wörtliche Wiederholung des LemmasLemma im Artikel und der weitgehende Verzicht auf pronominale Wiederaufnahmepronominale Wiederaufnahme, ein unpersönlicherUnpersönlichkeit Stil, der beispielsweise auf Frage- und Ausrufesätze verzichtet, sowie Verfahren der sprachlichen KondensationKondensation, die häufig zu einer erheblichen syntaktischen Komplexitätsyntaktische Komplexität führen. Unterschiede ergeben sich dadurch, dass in WikipediaartikelnWikipediaartikel der KopulasatzKopulaverb ausformuliert, das Lemma stets ausgeschrieben wird, und der Artikeltext zumeist weniger sprachlich verdichtet ist, was sich unter anderem am Einsatz von KonnektorenKonnektor zeigt, die in PrintartikelnPrintartikel häufig ausgespart werden. Kennzeichnend sind darüber hinaus überdeutliche Erläuterungen sowie Wortwiederholungen. In den untersuchten französischen Artikeln fallen zudem die geäußerten Vermutungen, sowie die Hervorhebung von Informationen durch die Verfasser auf. In den italienischen Artikeln und im von Tereszkiewicz (2010) untersuchten englischen Korpus treten zudem Verstöße gegen die sprachliche Norm auf, wohingegen die von Elia (2008) und Emigh/Herring (2005) untersuchten englischen Wikipediaartikel kaum Unterschiede im FormalitätsgradFormalität zu den PrintartikelnPrintartikel zeigen. Ein Spezifikum ausgewählter Wikipediaartikel ist zudem die Mischung verschiedener DiskursmusterDiskursmuster, wobei Reutner (2013b: 246) narrative Elemente und Tereszkiewicz (2010: 110) werbende und instruierende Muster in Wikipediaartikeln ermittelt.

3.4 Print- und Wikipediaartikel im Vergleich

Die vergleichende Analyse von Print- und Wikipediaartikeln stellt Veränderungen in der Kommunikationssituation und in der sprachlich-stilistischen Gestaltung der Artikel fest. Vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts der Diskurstradition wird das Zusammenspiel dieser einzelnen Beobachtungen deutlicher. Die Kommunikationsbedingungen prägen den Artikeln ein konzeptionelles Profilkonzeptionelles Profil ein, das bei Wikipediaartikeln im Vergleich zu den gedruckten Artikeln eine Tendenz in Richtung des nähesprachlichen Pols aufweist. Dies hat wiederum Veränderungen der Artikelgestaltung zufolge. Allerdings erklären Unterschiede in der Kommunikationssituation nicht alle Unterschiede zwischen einzelnen Enzyklopädieartikeln. Die Ausprägung einzelner Merkmale wird zudem durch die fachliche Zugehörigkeit von Artikeln, aber auch durch kulturelle Traditionenkulturelle Tradition geprägt.

Abbildung 4:

Print- und Wikipediaartikel (Parameterwerte nach Koch/Oesterreicher 2011: 13; Reutner 2013b: 237)

Im konkreten Fall von Print- und Wikipediaartikeln ergeben sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der KommunikationssituationKommunikationssituation, in die die sprachlichen Erzeugnisse eingebettet sind: Sowohl ein gedruckter Enzyklopädieartikel als auch ein Wikipediaartikel sind größtenteils durch die Parameterwerte der kommunikativen Distanz geprägt. Beide Typen von Artikeln werden öffentlich rezipiert, die Kommunikationspartner kennen einander in den meisten Fällen nicht. Die Inhalte der Artikel sind von der Sprechsituation losgelöst und die Gegenstände, auf die im Artikel verwiesen wird, befinden sich weder in der Nähe des Verfassers noch des Rezipienten. Zudem sind beide Artikel streng monologisch angelegt. Geringfügige Unterschiede bestehen bei den genannten Parameterwerten lediglich, wenn keine weitestgehend abgeschlossenen Artikel betrachtet werden, sondern der Entstehungsprozess von Wikipediaartikeln fokussiert wird, indem beispielsweise die anfänglichen Versionen von Artikeln analysiert werden. In einem solchen Fall ist es möglich, dass sich Verfasser und Rezipient beide über die Wikipediagemeinschaft zumindest unter einem Pseudonym kennen und den Erstellungsprozess durch kollaboratives Rezipieren und Schreibenkollaboratives Schreiben koordinieren. Dieser Umstand würde implizieren, dass in manchen Fällen trotz einer physischen Distanz eine gewisse virtuelle NäheNähe– virtuelle angenommen werden kann. Zudem können Artikel zu aktuellen Ereignissen simultan zu diesen entstehen, womit zumindest ein zeitlich naher Bezug des Textes zum Ereignis gegeben wäre. Da in Wikipedia jedoch im Normalfall ein abgeschlossener Artikel konsultiert, und nicht die Entstehung eines Artikels verfolgt wird, ist davon auszugehen, dass sich Print- und Wikipediaartikel hinsichtlich der Handlungs- und SituationsentbindungHandlungs- und Situationsentbindung sowie der referenziellen Distanz ähneln. Deutlichere Unterschiede ergeben sich beim Grad der EmotionalitätEmotionalität, der in WikipediaartikelnWikipediaartikel punktuell höher liegen kann. Aufgrund der spontanen Abänderbarkeit liegen der Grad der Reflektiertheit,Reflektiertheit sowie der Grad der ThemenfixierungThemenfixierung in Wikipediaartikeln etwas niedriger. Der markanteste Unterschied zwischen Print- und Wikipediaartikeln liegt jedoch in den intensiven KooperationsmöglichkeitenKooperation, die Wikipedia über die WikiplattformWikiplattform geradezu einfordert. An die Stelle einer expertenbasierten Enzyklopädie tritt die Weisheit der Vielen, wobei multiple Perspektiven auf das Wissen auf den Begleitseiten der Artikel verhandelt werden. Die Möglichkeit zur Kooperation rückt WikipediaartikelWikipediaartikel minimal näher an den nähesprachlichen Pol heran, selbst wenn es sich insgesamt um eine Diskurstradition handelt, die nach wie vor von den Bedingungen der DistanzkommunikationDistanzkommunikation geprägt ist.

 

Im Hinblick auf den Aufbau und die sprachlich-stilistische Gestaltung der Artikel lässt sich einerseits eine Orientierung am Modell gedruckter Artikel erkennen, andererseits lassen sich Innovationen finden, die auf die veränderte Kommunikationssituation zurückzuführen sind, wobei diese häufig fach- und kulturspezifisch ausgeprägt sind. Gemeinsam ist beiden Typen von Artikeln, dass ihre Kommunikationsfunktion in der Präsentation eines gesicherten Wissensstandes besteht. Der Aufbau von WikipediaartikelnWikipediaartikel orientiert sich am Modell gedruckter Artikel. Beide Typen enthalten ein grafisch hervorgehobenes StichwortStichwort, eine Definition und einen Textkörper, in dem Teilaspekte eines Themas entfaltet werden. Zudem werden Enzyklopädieartikel häufig in thematische Kategorien eingeordnet und mit Verweisen auf weitere Artikel ausgestattet. Im Hinblick auf die sprachliche Gestaltung sind beide Typen von Artikeln durch eine Progressionthematische Progression mit konstantem Thema gekennzeichnet, indem ein ständiger Bezug zum Lemma hergestellt wird. Dies geschieht durch die wörtliche Wiederholung des Lemmaswörtliche Wiederaufnahme und nicht durch PronominalisierungPronominalisierung. Zudem streben beide Typen von Artikeln einen unpersönlichen StilUnpersönlichkeit an, indem auf Pronomina der 1./2. Person, Frage- und Ausrufesätze verzichtet wird und PassivformenPassivform eingesetzt werden.

Eine Besonderheit des Aufbaus gedruckter Artikel ist, dass die analogen Verweise durch kleine Symbole gekennzeichnet sind und dass am Artikelende teilweise ein Autor genannt wird. Insbesondere in gedruckten französischen Enzyklopädieartikeln sind vermehrt textstrukturierende Elemente wie Inhaltsverzeichnisse, Einleitungen und Zusammenfassungen zu finden, wohingegen italienische, aber auch englische und deutsche Artikel eine kurze und prägnante Darstellung bevorzugen, die teilweise ohne Absätze auskommt. Darüber hinaus gibt in den abschließenden Zusammenfassungen französischer Enzyklopädien häufig ein Experte eine Einschätzung ab, was in Artikeln anderer Sprachen kaum zu finden ist. In der Definition gedruckter Artikel wird das KopulaverbKopulaverb häufig ausgespart, das Lemma wird im fortlaufenden Text in abgekürzter Form wiederholt. Häufig ist die Information in gedruckten Enzyklopädieartikeln durch Einsatz des NominalstilsNominalstil stark verdichtet. Gedruckte Enzyklopädieartikel unterliegen zudem einer strengen redaktionellen Kontrolle, weswegen kaum Verstöße gegen die sprachliche Norm in ihnen auftreten.

Die Spezifika von WikipediaartikelnWikipediaartikel liegen in den für die Wikisoftware typischen Funktionalitäten, welche die Artikelansicht, den BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus, den Quelltext, die VersionsgeschichteVersionsgeschichte und eine DiskussionsseiteDiskussionsseite beinhalten. Diese Funktionalitäten lenken den Blick weg vom statischen Produkt des Enzyklopädieartikels hin zu seiner dynamischen Entstehung und Veränderung. Aufgrund des größeren Platzangebots, aber auch durch die Rezeption am Bildschirm weist ein WikipediaartikelWikipediaartikel mehr textstrukturierende Elemente wie ein einleitendes Resümee, ein Inhaltsverzeichnis oder Tabellen und Grafiken auf. Oft wird lediglich das einleitende Resümee rezipiert, oder Artikel werden kursorisch auf einige Schlagwörter und Daten hin gelesen. Die dynamischen Links erlauben ein schnelles Nachschlagen unbekannter Lexeme. Jeder WikipediaartikelWikipediaartikel besitzt am Ende einen Verweis auf die aktuelle Version. Zudem findet sich häufig eine umfangreiche Bibliografie, die als Nachweis für die Informationen fungiert und die Glaubwürdigkeit der OnlineenzyklopädieEnzyklopädie– Online-~ untermauern soll. In sprachlich-stilistischer Hinsicht fallen in WikipediaartikelnWikipediaartikel der ausformulierte KopulasatzKopulaverb, der Verzicht auf Abkürzung des Lemmas, Wortwiederholungen und überdeutliche Erläuterungen auf. Die Erscheinungen sind zum einen auf ein vermehrtes Platzangebot, zum anderen aber auch auf eine stärkere Leserorientierung der Artikel zurückzuführen. Insbesondere in französischen Wikipediaartikeln nutzen die Autoren Vermutungen und Hervorhebungen. In WikipediaartikelnWikipediaartikel fallen zudem Verstöße gegen die sprachliche Norm auf, wobei diese nicht in jeder Sprachversion gleich stark ausgeprägt sind. Einige englische Artikel weisen durchaus einen mit PrintartikelnPrintartikel vergleichbar hohen Grad an sprachlicher FormalitätFormalität auf, während dies beispielsweise bei italienischen Artikeln kaum der Fall ist.

3.5 Resümee

Die kollaborative Erstellung von Enzyklopädieartikeln in einem WikiWiki dynamisiert die etablierte Diskurstradition und führt dazu, dass sich WikipediaartikelWikipediaartikel sowohl in ihrem konzeptionellen Profil als auch in der Artikelgestaltung von gedruckten Artikeln unterscheiden.

Diese Prozesse sind vor dem Hintergrund des Konzepts und der Dynamik von DiskurstraditionenDiskurstradition zu sehen. Schon der Terminus Diskurstradition verweist auf die Konventionalität von Diskursen, die nicht nur eine einmalige Aktualisierung von Sprache sind, sondern sich in Traditionslinien bewegen und an Modellen orientieren. Diskurstraditionen sind von vornherein auf eine spezifische Kommunikationssituation bezogen, die anhand einer spezifischen Mischung von Parameterwerten charakterisiert werden kann. Diese Konstellation prägt das konzeptionelle Profil der Diskurstradition und determiniert somit zum Teil die Auswahl sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel in konkreten Texten. Von der Tatsache, dass in derselben Kommunikationssituation stets auf das gleiche oder zumindest ähnliche TextmusterTextmuster zurückgegriffen wird, lassen sich Konventionen ableiten, die die Gestaltung der Diskurse leiten. Allerdings ist eine Diskurstradition nicht nur durch die KommunikationssituationKommunikationssituation geprägt, sondern sie folgt zusätzlich kulturellen Konventionenkulturelle Konvention. Deswegen können Diskurstraditionen im konkreten Fall nur in kulturspezifischer Ausprägung beobachtet werden. Diskurstraditionen werden im Gegensatz zu einer Sprache nicht von einer Sprachgemeinschaft, sondern von einer Diskursgemeinschaft getragen, die auch historisch diskontinuierlich existieren kann. Die Diskursmuster sind somit häufig auch sprachübergreifend zu finden, wenn auch teilweise mit leichten Modifikationen. Diskurstraditionen stellen einen Teil einer kulturellen Tradition dar und unterliegen dem Wandeldiskurstraditioneller Wandel. Veränderungen bei Diskurstraditionen können beispielsweise auftreten, wenn sich Veränderungen im Medium ergeben, wobei hier zu unterscheiden ist, ob sich nur der Code, oder das TrägermediumTrägermedium selbst verändert. Zudem ist zu überprüfen, ob die Veränderungen im Medium auch zu Verschiebungen im konzeptionellen Profilkonzeptionelles Profil beitragen, denn lediglich in diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass sich im neuen Medium eine neue Diskurstradition entwickelt. Dieser Wandeldiskurstraditioneller Wandel findet in der Regel nicht abrupt statt, sondern kann als Anpassungsprozess an das neue Trägermedium modelliert werden. So ist davon auszugehen, dass zunächst eine sehr ähnliche Diskurstradition in einer neuen medialen Umgebung vorliegt, dann leichte Anpassungen vorgenommen werden und dass sich mit der zunehmenden Adaptation an das neue Medium und der Ausschöpfung neuer Funktionalitäten die Diskurstradition komplett vom etablierten Modell ablöst und auf diese Weise eine neue Diskurstradition entsteht.

Der Vergleich von Print- und Wikipediaartikeln zeigt, dass sich Wikipedia am Modell der PrintartikelPrintartikel orientiert und gleichzeitig neue Funktionalitäten nutzt. Das herausragende Merkmal der Wikipedia besteht in der kollaborativen Erstellung der Artikel über die WikiplattformWikiplattform. In WikipediaartikelnWikipediaartikel ist aufgrund der leichten Abänderbarkeit ein etwas höherer Grad der SpontaneitätSpontaneität möglich, punktuell kann ein erhöhter Grad an EmotionalitätEmotionalität auftreten. Dadurch, dass die Themen der Artikel nicht von einer Redaktion vorgegeben werden und es auch keine inhaltlichen Vorgaben gibt, ist der Grad der Themenfixierung etwas niedriger als in Artikeln der Printenzyklopädien. WikipediaartikelWikipediaartikel sind ebenso wie PrintartikelPrintartikel öffentlich einsehbar, die Kommunikationspartner sind einander fremd und beide Typen von Artikeln sind monologisch. Die Vielzahl der Stimmen in Wikipediaartikeln soll nicht auf der Textoberfläche sichtbar werden. Ebenso streben WikipediaartikelWikipediaartikel eine situationsunabhängige Gültigkeit ihrer Inhalte an, weswegen Handlungs- und Situationsentbindung, sowie referenzielle Distanz vorliegen. Die leichte Abänderbarkeit erlaubt es jedoch, unverzüglich auf aktuelle Ereignisse oder Erkenntnisse zu reagieren, was in gedruckten Werken nur mit größerer Verzögerung möglich ist.

Die Makrostruktur von WikipediaartikelnWikipediaartikel selbst wird zum einen sprachübergreifend durch die Wikisoftware vorgegeben. Zum anderen orientiert sich der Artikelaufbau an traditionellen PrintartikelnPrintartikel, die über ein grafisch abgesetztes StichwortStichwort, eine Definition und einen Textkörper mit Kapiteln verfügen. Im WikipediaartikelWikipediaartikel erleichtern ein einleitendes Resümee, ein Inhaltsverzeichnis, Listentexte und grafische Elemente den Überblick und die schnelle Lektüre. Zudem weisen die Artikel zahlreiche Verlinkungen auf. Die Glaubwürdigkeit der Informationen wird durch eine Vielzahl von Nachweisen untermauert. In PrintartikelnPrintartikel finden sich dagegen häufig keine textstrukturierenden Elemente und in manchen Werken wird gänzlich auf Absätze verzichtet. Ebenso entfallen häufig die Quellenangaben, da für die Korrektheit der Informationen der Autor, der zumeist ein Experte des Faches ist, bürgt. Allerdings ist der Artikelaufbau auch bei PrintenzyklopädienEnzyklopädie– Print-~ sowohl fach- als auch kulturspezifisch geprägt, da beispielsweise Bibliografien eher in Fachenzyklopädien, aber auch in französischen UniversalenzyklopädienEnzyklopädie– Universal-~ zu finden sind.

Die kollaborative Artikelerstellung in Wikipedia wirkt sich teilweise auf die sprachlich-stilistische Gestaltung der Artikel aus. Wikipedia- und Printartikel verfolgen das Ziel, sachlich-neutral einen gesicherten Kenntnisstand zu präsentieren. Es wird daher ein unpersönlicher StilUnpersönlichkeit bevorzugt, der auf Pronomina der 1./2. Person verzichtet und PassivformenPassivform zur DeagentivierungDeagentivierung einsetzt. Allerdings spielen in PrintartikelnPrintartikel sprachliche Verfahren der Kürze und Verdichtungnominale Verdichtung eine stärkere Rolle als in Wikipediaartikeln. Deswegen ist in Printenzyklopädien die Definition häufig elliptischEllipse und das Lemma wird im fortlaufenden Text in abgekürzter Form wiederaufgenommen. WikipediaartikelWikipediaartikel sind tendenziell länger als gedruckte Artikel, decken aber teilweise dennoch nicht alle Aspekte des Themas ab. In den untersuchten Wikipediaartikeln befinden sich häufig Wortwiederholungen und überdeutliche Erläuterungen, die die Rezeption für ein Laienpublikum erleichtern. Außerdem ist bei den Artikeln der OnlineenzyklopädieEnzyklopädie– Online-~ teilweise eine Mischung verschiedener Diskursmuster erkennbar, wie an werbenden und unterhaltsamen Elementen ersichtlich wird. Zudem sind Abweichungen von der Standardsprache in WikipediaartikelnWikipediaartikel feststellbar, die je nach Stichwort, aber auch nach Sprachversion variieren können.

 

Insgesamt lässt sich festhalten, dass WikipediaartikelWikipediaartikel unter veränderten Bedingungen produziert werden und dass die Möglichkeit zur Kooperation die Diskurstradition tendenziell in die Richtung des nähesprachlichen PolsNähesprachlichkeit bewegt. Die Abänderung von Parameterwerten im konzeptionellen Profil der Diskurstradition schlägt sich zudem in einer veränderten Gestaltung der Artikel nieder. Da veränderte Parameterwerte die Variation bei der Auswahl sprachlicher Formen jedoch nicht gänzlich erklären können, stellt sich im Falle der Wikipediaartikel die Frage, welche Rolle die Zugehörigkeit des Stichworts zu einem Fach, die medialen Bedingungen, aber auch die kulturellen Traditionen, in denen der jeweilige Artikel steht, spielen.