Der Geheimbund der 45

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Kapitel 2

Es war ein extrem frostiger und deswegen auch ungemütlicher Dezembertag des Jahres 1042. Aber dies hatte den Konstanzer Bischof Eberhard I. nicht davon abgehalten, die schwere Mühsal trotz des schlechten Wetters auf sich zu nehmen, mit großem Gefolge ins noch kältere Allgäu zu reisen, um dort eine wichtige Mission zu erfüllen. Aber kaum in villa Ysinensi angekommen, sollte sein Vorhaben so holprig beginnen, dass er dies sogar als unheilbringendes Omen betrachtete. Denn schon am oberen Tor, durch das er ins Dorf gelangen wollte, musste er aus seiner Kutsche heraus auf ein Pferd steigen – der hölzerne Durchlass war für das breite Gefährt zu schmal gewesen. Wegen seiner durch den Matsch nass gewordenen Beinlinge fluchte der hochrangige Mann Gottes still vor sich hin, anstatt den herzlichen Empfang der hiesigen Bevölkerung zu genießen und ihr würdig zuzuwinken.

»Gott, was sind das nur für einfache Bauern«, grummelte er seinem klugen Adlatus in despektierlichem Tonfall zu.

Der Konstanzer Diakon, der bei Reisen immer an der Seite des Bischofs war, nutzte die Gelegenheit, um seinen Herrn dahingehend aufzuklären, dass er den hiesigen Menschenschlag nicht unterschätzen dürfe. In dieser hügeligen Gegend wuchsen nicht nur Dinkel und Hafer, sondern zudem wurde äußerst erfolgreich Flachs angebaut und verarbeitet, weswegen gerade die Bauern gute Abgabenzahler seien. »Was glaubt Ihr, weswegen deren Grundherr eine Kirche gestiftet hat, obwohl er ein Potentat alter Schule ist?«

»Er wird schon gewusst haben, weshalb er dies getan hat. Wahrscheinlich sind die Abgaben entgegen Eurer Meinung doch nicht so hoch, dass sie ihn zufriedenstellen.«

»Oder die Leute hier begehren gerne auf. Die Allgäuer sind ja bekannt dafür, ein streitbares Völkchen zu sein«, mutmaßte der junge Geistliche, der die braune Kutte der Benediktiner trug.

»Schon gut, mein Freund! Lasst uns lieber dafür sorgen, dass wir uns schnellstens aufwärmen und unseren Hunger stillen können, bevor wir uns zu unseren Schlafstätten begeben. Für die morgige Zeremonie müssen wir ausgeruht sein! Die Reise war lang und anstrengend, außerdem ist es teuflisch kalt!«

»Aber, aber, Euer Exzellenz!«, rügte der treu ergebene Kirchenlehrer, der gleichzeitig auch Domschatzmeister war, den Bischof für das Unwort, das der soeben in den Mund genommen hatte.

*

Die geplante Kirchen- und Glockenweihe hätte eigentlich am Tag des heiligen Nikolaus stattfinden sollen. Aber wegen eines gewaltigen Schneesturms, der über das Mare Brigantium hinweggefegt war, hatte die Delegation des Bischofs von Konstanz ihre Abreise um vier Tage verschieben müssen – für die Bevölkerung von villa Ysinensi eine gefühlte Unendlichkeit. Letztlich waren sie aber froh gewesen, noch etwas Zeit gewonnen zu haben, um ihre Siedlung herausputzen und alles für die Gäste des Grafen vorbereiten zu können. Und dazu hatte gehört, dass über den größten baumlosen Platz der Siedlung Planen gespannt wurden, unter denen die etwa einhundert erwarteten Gäste verköstigt werden konnten. Und für diejenigen, die erst am Tag nach der kirchlichen und weltlichen Feier ihren Rückweg antreten würden, sollte ein Zeltdach zur Verfügung stehen, unter dem sie ihre Häupter niederlegen konnten.

Rundherum hatten reisende Händler aus nah und fern, die im Laufe des Jahres von dieser Kirchenweihe erfahren hatten, ihre rollenden Verkaufsbuden aufgestellt. Weil sich der feierliche Anlass auch unter anderen mehr oder weniger ehrlichen Berufsgruppen herumgesprochen hatte, war neben Gauklern, Komödianten und Musikanten auch ein Heer von Falschspielern und Taschendieben angelockt worden. Sogar ein paar wandernde Gunstgewerblerinnen erhofften sich mit Gottes Hilfe gute Geschäfte, weswegen auch sie dem Tross des Bischofs von Konstanz aus hinterhergereist waren – selbstverständlich in gebührendem Abstand. Um ihrem Gewerbe ungestört nachgehen zu können, hatten sie ihren weich gepolsterten und reichlich mit Schaffellen ausgestatteten Planwagen etwas abseits der anderen Fahrzeuge abgestellt.

So etwas hatten die Einheimischen noch nie miterleben dürfen. Kein Wunder also, dass sie irritiert und völlig aus dem Häuschen waren – insbesondere, weil sich der Himmel gnädig zu zeigen schien und zum ersten Mal seit mehreren Wochen wärmende Sonnenstrahlen durch die sich zunehmend teilende Wolkendecke schickte.

*

Anderntags war es endlich so weit und der kurzerhand zum Mesner bestallte Sargmacher durfte erstmals die von der Insel Reichenau stammende gusseiserne Kirchenglocke läuten, die Hermannus Contractus tatsächlich spendiert hatte. Dass auf der Glocke das Amtswappen des ehemaligen Reichenauer Abtes Pirminius mit eingegossen war, der das Inselkloster vor über dreihundert Jahren gegründet hatte, störte Gerold Eberz nicht im Geringsten. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul! Hauptsache, er wiehert gut«, hatte er zufrieden schmunzelnd von sich gegeben, nachdem ihm die Bedeutung dieses Wappens erklärt worden war.

Alles war vorbereitet, die Menschen hatten sich und ihre Siedlung ins bestmögliche Licht gesetzt und waren guter Laune. Sicherheitshalber hatten sie ihre Nutztiere eingesperrt. Damit wollten sie vermeiden, dass bei den auswärtigen Besuchern Begehrlichkeiten geweckt wurden und sie nach dem Ende dieses Spektakels nicht versehentlich eine Ziege mehr im Stall vorfinden würden.

Als der Bischof von Konstanz zusammen mit vierzehn Klerikern des Ordens vom Heiligen Benedikt feierlich in die Kirche einzog, erstrahlte das Gotteshaus in bescheidenem Glanz. achtundneunzig der wichtigsten Männer des Umlandes hatten die Kirchenbänke bis auf den letzten Platz gefüllt. Die allesamt gespannten Ehrengäste waren nicht nur aus den umliegenden Orten Christazhofen, Eisenharz, Engerazhofen, Enkenhofen, Friesenhofen, Leutkirch, Ratpoticella, Rohrdorf, Trauchburg, Urlau und Wangen gekommen, sondern waren auch aus den etwas ferneren Orten Aulendorf, Baienfurt, Ravensburg, Waldsee, Weingarten, Wurzach und natürlich auch aus Altshausen angereist wie Delegationen aus weiten Teilen des Allgäus und aus Lindau. Vom Grafen ausgesandte Boten zu Ross hatten dafür gesorgt, dass alle seiner Einladung Folge leisteten. Dementsprechend voll war die kleine Kirche, die nun ihre Bewährungsprobe bestehen musste.

Die ersten beiden Bankreihen waren dem Grundherrn, Wolfrad II. Graf von Altshausen und Herrn der Burg sowie des Landes Trauchburg, seiner Familie und deren Gefolgschaft vorbehalten. So war seine Gemahlin Hiltrud das einzige weibliche Wesen in der Kirche. Die Frauen der anderen mussten sich – ebenso wie die hiesige Bevölkerung – damit begnügen, sich vor der Kirchentür zu versammeln, die trotz der Kälte geöffnet war. Auf persönlichen Wunsch des Grafen und seiner gnädigen Gemahlin war die Weihe kurzfristig auf den Tag der Gedächtnisfeier zum Tod ihres kleinen Sohnes Luitpold gelegt worden, weswegen die Kirchenstifter der Zeremonie wohl mit gemischten Gefühlen beiwohnen würden.

Rechter Hand vor dem Altarraum hatte der Bischof einen mitgebrachten Katheder aufstellen lassen, wie ihn die Mönche in den Klöstern benutzten, um im Stehen Schriften zu vervielfältigen. Dieses wunderschöne und wertvolle Pult würde er als sein persönliches Geschenk für die Bevölkerung von villa Ysinensi in dem Gotteshaus zurücklassen, damit der hiesige Dorfpfarrer bei den Liturgien an Sonn- und Feiertagen darauf die Missale platzieren und vor der versammelten Kirchengemeinde daraus lesen oder die Manuskripte für seine Predigten drauflegen konnte.

Dieses Stehpult ist ein von meinem Adlatus wohldurchdachtes Geschenk, dachte sich der Bischof, nachdem er festgestellt hatte, dass das aus seiner Sicht primitive Gotteshaus über keine Kanzel verfügte. Allerdings fiel ihm auch auf, dass der Rest des bescheidenen Kircheninventars nicht zu diesem kunstvoll geschnitzten Katheder passte … oder umgekehrt.

Ungeachtet der Gedanken seines Bischofs hatte Pater Bernardus, einer der bischöflichen Kuttenträger, hinter dem Stehpult Aufstellung genommen, um mit frisch gespitztem Federkiel alles fein säuberlich mitschreiben zu können. Mit Bruder Bernardus hatte der Bischof seinen besten Schreiber ausgewählt, von dem er wusste, dass er alles akribisch Wort für Wort für die Ewigkeit festhalten würde. Seine Aufschriebe würden zur Lagerung in verschiedenen kirchlichen Bibliotheken vervielfältigt werden und er würde sie zudem auch noch eigenhändig mit kunstvoll gemalten Initialen verzieren.

Alle Kirchenbesucher einte, dass sie möglichst viel von dem mitbekommen wollten, was gleich passieren würde. So waren es denn verzaubernde Augenblicke, die sich nicht zuletzt auch Dank der aus Konstanz mitgebrachten Kerzen tief in die Herzen der Gläubigen gruben. Die blütenweiß gebleichte Leinendecke auf dem Altar, in die von mehreren Frauen die Symbole der Dreifaltigkeit in blutrotem Garn eingestickt worden waren, schien die Leuchtkraft der Kerzen zu verdoppeln. Ansonsten war das zu beiden Seiten des geschnitzten Herrgotts drapierte Tannenreisig der einzige Schmuck. Aber dies machte nichts; solch einen erhebenden Moment der inneren Einkehr hatte es in dem beschaulichen villa Ysinensi noch nie gegeben – dementsprechend glücklich waren die Bewohner an diesem großen Tag für ihre geliebte Heimat und für sich selbst. Und der Prunk städtischer Kirchen oder einer der Kathedralen, wie es sie auch in Konstanz oder im fernen Aachen gab, war den meisten von ihnen sowieso fremd.

*

Ein eigenartig gewandeter Mann, der in einem gewissen Abstand des Geschehens auf einer Anhöhe im Sattel seines Pferdes saß, betrachtete das Schauspiel mit einem Verlangen in den Augen, das die Mordgelüste in seinem Innersten widerspiegelte. Dass die vermummte Gestalt dem Bischof von Konstanz aus sicherer Entfernung hinter dem Planwagen der Gunstgewerblerinnen bis hierhergefolgt war, hatten nicht einmal die weltlichen Wachen des hochrangigen Klerikers bemerkt. Und weil die unheimliche Gestalt bis jetzt nicht gesehen worden war, konnte auch von niemandem bemerkt worden sein, dass sie nichts Gutes im Schilde führte. Weil alle Blicke in Richtung des neuen Gotteshauses gerichtet waren, nahm niemand Notiz davon, dass ihnen der Mann mit gezogenem Schwert eine zornige Verwünschung zurief, bevor er davonritt und im Nichts dieses Wintertages verschwand.

 

*

Nach dem Schlusssegen der ersten heiligen Messe im neuen Gotteshaus nahm sich der erst vor wenigen Tagen durch den Grafen bestallte neue Mair das Wort. Gerold Eberz war sichtlich stolz darauf, als erste Amtshandlung hier in der neuen Kirche von villa Ysinensi nicht nur zu den Seinen, sondern auch zu den hochrangigsten Leuten im großen Umkreis sprechen zu dürfen. Und dies tat er, ohne sich die innere Unruhe anmerken zu lassen, die ihn auf einen Schlag zu übermannen drohte. Zuerst begrüßte er im Namen der Bevölkerung von villa Ysinensi die Anwesenden, bevor er sich mit etwas zu schmalzig geratenen Worten beim Initiator und Finanzier dieses Kirchenprojektes bedankte.

Nachdem auch der »wohledle« Stifter eine Rede gehalten hatte, die allerdings mehr ein Aufruf an die Bevölkerung von villa Ysinensi gewesen war, auch im tiefsten Winter auf die Gesundheit zu achten, damit »… nach altem Brauch und Herkommen …« im Frühjahr die Arbeit auf den Feldern und an den Webstühlen wieder aufgenommen werden konnte, trat abermals der Bischof vor, um etwas zu sagen:

»Unsere lieben Mitbrüder und -schwestern im Herrn! Trotz der winterlichen Beschwernisse sind Wir im Dezember, der im römischen Kalender der zehnte Monat des Mondkalenders gewesen ist, gerne hierher ins kalte Allgäu und zu euch nach villa Ysinensi gekommen, um eure neue Kirche mitsamt der dazugehörenden Glocke einzuweihen und …«

*

Der liturgische Teil war bereits zuvor beendet und die Kirche den Heiligen Georg und Jakobus dem Älteren geweiht worden. Nach der bewegenden Rede des hochrangigen Kirchenmannes trauten sich jetzt die Menschen, ihren Glücksgefühlen freien Lauf zu lassen und sich beim Bischof und beim Grafen mit einem kräftigen Handgeklappere zu bedanken. In ihrer Begeisterung entwich dem einen oder anderen sogar ein lauter Pfiff, während anderen ein paar Tränen des Glücks herunterliefen.

Der Bischof ließ sie so lange gewähren, bis es ihm zu viel wurde und er wieder das Wort an sich zog: »Nun aber, meine lieben Gläubigen im Herrn, möchten Wir, Bischof Eberhard I. von Konstanz und von Gottes Gnaden, dem gottgefälligen Kirchenstifter für seine Großzügigkeit danken und ihm zum ewigen Zeichen unserer Verbundenheit etwas überreichen, das aus fernen Zeiten aus einem fernen Land den Weg nach Konstanz …« Er räusperte sich, bevor er weitersprach: »… und vermutlich nach vielen Irrwegen zu Uns gefunden hat! Tretet vor, edler Wolfrad Graf von Altshausen, und lasst Euch erklären, was Wir für Euch mitgebracht haben!«

Während der großgewachsene Mann mit dem gepflegten Vollbart aufstand und nach vorn ging, durchdrang ein solches Getuschel das Kircheninnere, dass es bis nach draußen zu hören war. Unser Grundherr ist eine imposante Erscheinung, dachte sich der eine oder andere. Insbesondere die schwere silberne Halskette mit dem mehr als handgroßen Familienwappen derer von Veringen vor seiner Brust ließ ihn genauso respekteinflößend aussehen wie das Schwert und der Dolch an seinem breiten Ledergürtel, die ihn ebenfalls als Adeligen auswiesen.

»Wohlan …«, begann der Bischof aufs Neue und hielt etwas in die Höhe, »weil Wir Uns viel mit den Gestirnen und dem Wechsel von dunkelster Nacht auf die heilbringende Helle des Tages befassen, können Wir Euch und allen anderen erklären, was es mit diesem Amulett auf sich hat!«

Als der Bischof das rote Samtkissen mit dem daraufliegenden mattbräunlichen Amulett noch höher hielt und den Gläubigen entgegenstreckte, ging erneut ein Raunen durch die Kirche, was den Laudator allerdings nicht irritierte. Unverdrossen, nunmehr mit einem beschwörend klingenden Tonfall in der Stimme, fuhr er fort: »Auf einer Seite dieses Amuletts befindet sich ein Quadrat, auf dem sich die Summe der Zahlen aller drei Zeilen, aller drei Spalten und auch der beiden Diagonalen gleicht! Stets ist sie fünfzehn.«

Kaum ausgesprochen, bekreuzigten sich die meisten der vor der Kirche ausharrenden Menschen. Denn mit dem, was sie soeben gehört hatten, konnten sie nicht nur nichts anfangen, es ängstigte sie sogar. Rechnen war den meisten von ihnen noch fremder als Lesen und Schreiben.

»Das ist Teufelswerk«, flüsterte einer seinem Nachbarn zu, während ein anderer zu der Feststellung gelangte, dass der Bau dieser Kirche vielleicht doch unter keinem guten Stern stehe.

»Beruhigt euch!«, fuhr der Bischof, der die aufkommende Unruhe außerhalb der Kirche bemerkt hatte, harsch dazwischen. Er wusste, dass lediglich der Graf, dessen Gemahlin und vielleicht ein paar andere hochrangige Gäste etwas von dem verstanden, was er soeben von sich gegeben hatte. Also versuchte er, die beiden Inhalte auf dem Amulett so einfach wie möglich zu erklären: »Es handelt sich nicht um Teufelswerk, sondern um Arithmetik, eine der sieben freien Künste! Die ›artes liberales‹ …« Als er merkte, dass er nun auch noch weltliches Latein zu sprechen begonnen hatte, anstatt die Sache vereinfacht zu haben, hüstelte er verlegen und wechselte zu einer anderen Erklärung über: »Keine Sorge: Die Fünfzehn ist lediglich eine ›Mondzahl‹, die den Tag der vollen Rundungen des Mondes benennt! Diese magische Zahl bekam ihre Bedeutung, weil es sich um eine dreifache Fünf handelt und die Fünf …«, während er fortfuhr, erhob der Bischof Zeigefinger und Stimme, »…. eine heilige Zahl ist, die Zahl der Ischtar und der Venus! Unabhängig dieses ›Magischen Quadrates‹ ergibt die Summe der ersten fünf Zahlen die Zahl Fünfzehn!

Als der Bischof merkte, dass er mit seinen Erklärungsversuchen immer noch auf allseitiges Unverständnis stieß, schlug er mit veränderter Stimmlage eine völlig andere Richtung ein: »Vom Leinengarn her kennt ihr doch die Maßeinheit ›Mandel‹, oder etwa nicht?«

Na also, endlich kann ich mich dem unbelesenen Volk gegenüber verständlich machen, dachte sich der hochrangige kirchliche Würdenträger, nachdem er ein allseitiges Kopfnicken hatte feststellen können. »Auch dabei spielt die Fünfzehn eine maßgebliche Rolle, denn fünfzehn Garben Getreide sind eine ›Mandel‹, … oder? Ihr verkauft sogar die Eier eurer Hühner zu jeweils fünfzehn Stück!« Er hob eine geöffnete Hand in die Höhe und sagte mit den dazugehörenden Fingerbewegungen in beschwörendem Ton: »Drei Hand voll sind eine ›Mandel‹!« Sogar der Rosenkranz umfasst in drei Fünfergruppen fünfzehn Geheimnisse!« Das hatten nun auch die am einfachsten gestrickten unter diesen Menschen verstanden. Endlich hatte er sie bei sich und deswegen auch ihr Interesse geweckt! Also konnte er fortfahren, ohne auf weiteres Unverständnis zu stoßen: »Wie ihr alle wisst, unterscheiden wir den freudenreichen, den glorreichen und den schmerzhaften Rosenkranz! Im ›freudenreichen‹ werden die wichtigsten Stationen im Leben Mariens vergegenwärtigt, im ›schmerzhaften‹ wird die Passion Christi angerufen und im ›glorreichen‹ stellen wir die österlichen Geheimnisse in die Mitte! … Die fünfzehn Geheimnisse des Rosenkranzes machen uns darauf aufmerksam. Und nun kommen Wir auf das zurück, was Wir zuvor schon angesprochen hatten – dass die Zahlensymbolik der Ischtar und der Venus auf die Marienverehrung übertragen wurden! Ihr braucht also weder Furcht vor der Fünfzehn, noch vor diesem Amulett zu haben! Es sei denn …«

Ohne den Satz beendet zu haben, bekreuzigte sich der Bischof, was ihm die Kirchenbesucher nachmachten, ohne zu wissen, weshalb sie dies taten.

»Sein Wort in Gottes Ohr«, flüsterte die nachdenklich gewordene Gräfin ihrem Banknachbarn Hezelo von Entringen zu, einem Mitglied der Reichenauer Vogtfamilie.

Während der Bischof das Bildnis und die Symbole auf der anderen Seite des Amuletts zu deuten versuchte, dies aber mangels Wissen um die wahren Hintergründe dieses grausigen Motivs nur leidlich hinbekam, wurde es im ohnehin schon stillen Gotteshaus noch stiller. Selbst die Gebildeten unter ihnen wussten mit dem, was ihnen der Bischof mit gestenreich unterstrichenen Worten zu sagen versuchte, nicht umzugehen. Die abschließende Warnung des Bischofs verstanden aber alle: »Deswegen wagt es ja nicht, ins Innere des Menschen einzudringen und ihm die Seele zu nehmen!«

*

Nachdem der Graf das eigenartige Geschenk des Bischofs angenommen und sich dafür bedankt hatte, war von ihm die Zeremonie in der Kirche für beendet erklärt worden und alle Gäste schritten zum vorbereiteten Festmahl auf den großen Platz unterhalb des Kirchenhügels.

In der Wahrnehmung der einfachen Bevölkerung war es ein unbeschreiblich grandioses Fest, bei dem zu mitternächtlicher Stunde auch noch eines dieser seltenen Feuerspiele gezündet werden sollte – trotz des Winters ein gefährliches Unterfangen. Die Menschen fürchteten außer bösen Geistern und den winterlichen Dämonen, die Nachts aus den Wäldern kamen, um ihre Kinder zu entführen oder ihr Vieh zu stehlen, nichts so wie eine Feuersbrunst. Wegen der vielen Feuerkörbe, die der Graf aufgrund der Kälte um den überdachten Festplatz herum und sogar unter der Zeltplane hatte aufstellen lassen, war die Gefahr eines Brandes groß, sodass der Mair ein paar Männern aufgetragen hatte, die wärmespendenden Feuerkörbe nicht aus den Augen zu lassen. Auch den vom Grafen eingesetzten Feuerknechten, die für den Holznachschub verantwortlich waren, redete er ins Gewissen. Um sicherzugehen, dass nichts passieren konnte, ließ er abwechselnd vier männliche Dorfbewohner um das Festgelände herum Posten beziehen. »Achtet dabei auch darauf, dass sich keiner unserer Gäste an unserem Eigentum vergreift! Seid in jeder Hinsicht wachsam, hört ihr?«, hatte er die Männer beschworen, bevor er sich wieder zur gut gelaunten Gesellschaft gesellte.

Unter den fröhlichen Klängen von Fidel, Scheitholt und Trommel wurde gezecht, geprasst und gelacht, wie es in dieser harten Zeit nur äußerst selten und in villa Ysinensi noch nie der Fall gewesen war. Während die Musikanten fröhlich aufspielten und die Frauen sich über jeden einzelnen Tanz freuten, schlichen sich nach und nach einige der Männer heimlich davon, um etwas davon zu holen, was sie sich mehr als hart verdient und mühsam beiseitegelegt hatten. Aber so mancher kehrte enttäuscht an seinen Tisch zurück, um sich volllaufen zu lassen. Denn das Geld, das er in seiner Behausung aus dem Versteck geholt hatte, war zu wenig gewesen, um sich zumindest über das Viertel einer Stunde hinweg mit einer der drallen Gunstgewerblerinnen vergnügen zu können.

So wie dies von niemandem bemerkt wurde, fiel im Verlauf der bier- und weinseligen Nacht auch niemandem auf, dass sich mitten unter ihnen ein Fremder so ungeniert bewegte, als wenn er dazugehören würde. Wenn sich der eine oder andere auch über dessen Kapuzengewandung wunderte – die anders aussah als die der Mönche – und über das eigenartige Schwert an seinem Gürtel staunte, dachte sich niemand ernsthaft etwas dabei. Und den Mann anzusprechen, traute sich sowieso niemand, weil ihn allein schon die Tatsache, dass er eine Waffe tragen durfte, als einen Mann von hoher Herkunft auswies – egal woher er gekommen sein mochte. Außerdem waren sich die Wenigsten von ihnen vor diesem Fest persönlich begegnet, also konnte auch kaum jemand beurteilen, wer dazu gehörte und wer nicht. Lediglich die in blutroter Farbe auf den weißen Umhang gestickte Zahl Eins, die von einem ebenfalls roten Quadrat umrandet war, gab Anlass zu tuschelnden Spekulationen verschiedenster Art.

Irgendwann entfalteten die aufpeitschende Kraft der Musik und insbesondere der Alkohol ihre volle Wirkung. Nicht nur die meisten Dorfbewohner waren stark angetrunken, auch dem Bischof und dem Grafen fiel das Sprechen zunehmend schwerer. Bevor er ganz betrunken zu werden drohte, winkte der Herr über villa Ysinensi den neu bestallten Mair zu sich. »In deiner Eigenschaft als erster Mann deines Dorfes vertraue ich dir dieses wertlose Amulett an. Nimm es an dich!«, tuschelte er ihm zu.

»Was … was soll ich damit?«, wunderte sich Gerold Eberz, der bisher noch mit keiner vergleichbaren Aufgabe betraut worden war.

Der Graf winkte ihn jetzt so nahe zu sich, dass der Mair den Alkohol aus dessen Mund riechen konnte. »Dieses Amulett besteht aus minderwertigem Metall und ist für mich nicht von Bedeutung«, flüsterte ihm der Graf vertrauensvoll zu und ergänzte, dass es immerhin ein Geschenk des Bischofs von Konstanz sei und er es deswegen nicht verlieren dürfe. »Gib es mir morgen früh wieder zurück, wenn sich die Geister des Weins verzogen haben! Und jetzt verschwinde!«

 

Dass das Gespräch von dem Fremden beobachtet worden war, hatten die beiden Männer nicht bemerkt. Dennoch erschien es dem Ortsvorsteher zu viel Verantwortung zu sein, die ihm der Graf aufgebürdet hatte. Als er die Gelegenheit nutzte, um sich die Vorderseite des Amuletts zu betrachten, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er suchte den Pfarrer, um das gute Teil, und somit auch die Zuständigkeit, an ihn weitergeben zu können. Aber er fand ihn einfach nicht.

Durch das Hin und Her des Mairs verlor ihn der Unbekannte kurzzeitig aus den Augen.

»Verdammt; wo hat sich unser Pfaffe nur verkrochen?«, fragte sich Gerold Eberz selbst, während er zur Kirche schlurfte, um dort nachzusehen. Und tatsächlich; der Priester hatte wohl so viel getrunken, dass er auf einer der Kirchenbänke seinen Rausch ausschlafen musste. Weil es keinen Zweck hatte, ihn zu wecken, steckte ihm der Ortsvorsteher kurzerhand das Amulett in eine seiner Jackentaschen. »Ich hole es mir morgen früh wieder!«, sagte er mehr zu sich selbst als zum laut schnarchenden Pfarrer, der vermutlich selig davon träumte, wie er seinen ersten eigenen Gottesdienst in der neuen Kirche gestalten konnte.

Zufrieden mit sich und seinem Gedanken, das Amulett aus genau demselben Grund weitergegeben und somit geschützt zu haben wie der Graf, ging der Mair zielstrebig zum Festplatz zurück, um sich noch ein Bier zu gönnen oder auch zwei.

Am nächsten Morgen fand man Gerold Eberz mit durchgeschnittener Kehle und einer Eins in die Stirn geritzt kopfüber an einem Baum hängen.

»Wo ist mein Amulett?«, interessierte den Grafen offensichtlich mehr als der unnatürliche Tod seines Mairs.

*

Anstatt mit Freuden an all das zurückzudenken, was sie gemeinsam geschafft hatten, und sich der gelungenen Feierlichkeiten zu erinnern, befand sich die Bevölkerung von villa Ysinensi noch Wochen später in einer lähmenden Starre. Weil niemand etwas vom wahren Mörder ahnen konnte, verdächtigten sich die Männer so lange gegenseitig des Mordes an ihrem Standesgenossen, bis einer auf den Gedanken gekommen war, dass es der Fremde gewesen sein musste, auf dessen Kutte die gleiche Eins zu sehen gewesen war, wie sie der Mörder in die Stirn des bedauernswerten Mordopfers eingeritzt hatte. Der Grund für die Unruhe im Dorf lag aber auch darin, dass der Graf – allerdings erst, nachdem die Konstanzer Delegation abgereist war – alle Behausungen nach dem Amulett hatte durchsuchen lassen, das fortan mit dem Mord in Verbindung gebracht wurde. Bei der Leibesdurchsuchung war dann einer seiner Wachsoldaten fündig geworden. Der Pfarrer hatte zu diesem Zeitpunkt derart mit seinen Kopfschmerzen zu tun gehabt, dass er nicht darauf gekommen war, die Taschen seiner Jacke selbst abzutasten, bevor dies einer der Soldaten des Grafen tun würde. Somit hatte er immer noch nicht bemerkt, dass er das Amulett bei sich trug.

Seit dem Tod des Dorfvorstehers war in villa Ysinensi nichts mehr wie es gewesen war. Dennoch musste das Leben weitergehen. Dass Gerolds Witwe mit einer aus ihrer Sicht großzügigen Entschädigung für den Tod ihres Gatten bedacht worden war, rechnete sie dem Grafen hoch an, obwohl das Geld ihren Mann nicht zurückbringen würde. Ihr Sohn Michael schwor aus diesem Anlass heraus dem Grafen ewige Treue.

*

Aus der ehedem offenen Siedlung war zwar ein mit einem Zaun umfriedetes Dorf mit eigener Kirche entwachsen, weswegen die Bewohner stolz in eine bessere Zukunft gehen konnten. Die Gedanken aber an das »tragische« Amulett, das ausgerechnet hier in villa Ysinensi ein Opfer gefordert hatte, ließ sie nicht mehr los und würde sie wohl auch noch über Generationen hinweg begleiten. Denn dass es nur das tödliche Zahlenwerk und der bekrönte Leichnam auf dem Amulett gewesen sein konnten, weswegen man den Ortsführer ermordet hatte, war für alle eine klare Sache.

»Das nächste Mal gibt es sicher zwei Tote!«, mutmaßte Michael Eberz seiner Mutter gegenüber, als sie eines Abends zur letzten Mahlzeit des Tages zusammensaßen und die Mutter gerade das Tischgebet gesprochen hatte.

»Versündige dich nicht!«, schimpfte die Mutter und bekreuzigte sich.

»Wie meinst du das?«, mochte hingegen Hulda, eine der Schwestern des neuen Familienoberhauptes wissen.

»Na ja«, antwortete ihr ältester Bruder. »Drei, vier, fünf … fünfzehn!«

»Ich habe dir gerade gesagt, dass du dich nicht versündigen sollst!«, schrie ihn die Mutter an und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, bevor sie erneut das Kreuz schlug und aufstand, um vor dem kleinen Hausaltar für das Seelenheil ihres Sohnes und für die anderen Familienmitglieder zu beten.