Tödlicher Orient

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»Auch für mich war es eine große Ehre und ein großes Vergnügen, mit Ihnen gesprochen zu haben, teuerste Margaret. Auch ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen. Bitte richten Sie meine besten Grüße an Franz von Koppental aus und kommen Sie sicher und gesund nach Tal-Halaf«, erwidert Otto.

Mit einer leichten Verbeugung und einem vollendeten Handkuss verabschiedet er sich von Margaret, die schwungvoll das Abteil verlässt.

Wie recht zumindest Margaret mit ihrem Wunsch haben sollte, weiß Otto zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auf dem Weg zu ihrem Abteil denkt Margaret, Dschidda, wie interessant. Da passt doch einiges zusammen. Im Sonderauftrag Seiner Hoheit des Sultans. Ha, ha, wer soll das denn glauben? Sie, Margaret, jedenfalls nicht. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Sie hat genug gehört. Dann muss sie heute Nacht jedenfalls nicht aktiv werden und ihre Wege können sich erst einmal trennen. Gut so.

Als der Zug endlich in der Bahnhofsstation von Burgulu zum Stehen kommt, bleibt Otto noch einige Zeit in seinem Abteil. Sollen doch erst einmal die anderen Reisenden sich drängen und aussteigen. Als er die Menschentraube auf dem Bahnsteig fast gedankenversunken betrachtet, bleibt sein Blick an einer Frau haften. Sie wiederum schaut mit leicht geneigtem Kopf und einem dezenten Lächeln im Gesicht in Richtung seines Abteils. Als sie sieht, dass Otto zu ihr hinüberschaut, hebt sie ihren rechten Arm und winkt ihm mit ihrer Hand fast unauffällig zu. Ottos Blick bleibt fasziniert an ihrem Gesicht hängen und er meint ein »Auf Wiedersehen« auf ihren Lippen ablesen zu können. Wie gerne doch, Margret, formuliert er in seinen Gedanken. Nach einigen Sekunden gibt er sich einen Ruck, steht auf und verlässt als letzter den Zug, während auf dem Bahnsteig sein Diener Ali schon mit dem Gepäck geduldig wartet.

Die umfangreichen und schwierigen Tunnelbauten durch das über dreitausend Meter hohe Taurus- und Amanusgebirge erweisen sich bisher als ein kaum zu überwindendes Hindernis für die Ingenieure. Also geht es für die Reisenden, die sich den Strapazen dieser Landschaft aussetzen müssen, am nächsten Morgen mit Wagen, Ochsen und Maultieren weiter.

Selbst um diese Jahreszeit kann Otto auf den Gipfeln des Taurus noch Schneereste entdecken. Tagelang schleppt sich Ottos Karawane mühselig über schmale Passstraßen durch die Gebirgslandschaft, immer auf und nieder, stundenlange Ritte auf den Maultieren. Wie auch für die meisten der Mitreisenden ist es auch für Otto von Wesenheim ungewohnt, auf Maultieren zu reiten. Schon nach kurzer Zeit schmerzt sein Hinterteil und er hat fast überall Muskelkater. Allerdings lassen sich die Maultiere ohne Probleme führen und suchen sich fast immer selber den richtigen Weg.

Schließlich zieht die Karawane über die Kilikische Pforte, die trotz einiger Verbreiterungen immer noch der enge Pfad geblieben ist, über den seit Jahrtausenden eroberungssüchtige Heere gezogen sind. Darunter natürlich auch das Heer von Alexander dem Großen. Nur nach unten gucken darf Otto von Wesenheim nicht, denn ihm würde sonst schwindlig werden. Auf seiner rechten Seite geht es steil nach unten in karstige Schluchten. Wenn man abstürzt, gibt es keine Rettung. Doch daran will Otto nicht denken.

Von der wilden Schönheit der Landschaft bekommt Otto von Wesenheim kaum etwas mit. Fast wie in einem Traum und in Trance erlebt Otto die strapaziöse Reise. Dabei greift er von Zeit zu Zeit immer wieder in die Innentasche seines Anzugs und vergewissert sich, dass der Brief nicht verloren gegangen ist. Die Neugier auf des Rätsels Lösung lässt ihn die Strapazen ohne allzu großes Wehklagen ertragen, bis er endlich in Damaskus ankommt.

Kapitel 4

Die weitere Etappe von Damaskus nach Medina kann Otto wieder mit dem Zug bestreiten. Aber auch diese Strecke hat es in sich. Bis zur Endstation Medina sind über eintausenddreihundert Kilometer in ungefähr fünfundfünfzig Stunden zu bewältigen. Immerhin ist die Bahn eine wesentliche Erleichterung. Erst 1908 und zwar genau am 1. September, dem Jahrestag der Thronbesteigung von Sultan Abdülhamid II., konnte die Bahnlinie in Medina feierlich eingeweiht werden. Acht Jahre dauerte der mühselige Bau.

Natürlich, sagt sich Otto mit Genugtuung, konnte der Sultan keinen anderen als einen deutschen Ingenieur, nämlich Meißner Pascha, damit betrauen. Mit Grauen denkt Otto an die Zeit vor der Fertigstellung der Strecke. Zwischen vierzig und fünfzig Tage dauerte damals die Reise in einer Kamelkarawane nach Medina und Mekka. Heutzutage unvorstellbar.

Frühmorgens geht es zum Bahnhof El-Kadem in Damaskus. Schon von weitem kann Otto erkennen, dass er mit Wallfahrern auf Reisen gehen wird. Die eigentliche Wallfahrt, die »Hadsch«, orientiert sich am islamischen Kalender und findet nur einmal im Jahr statt. Hier handelt es sich vielmehr um die »Umra«, quasi einen Besuch, der sich auf die Gebetsstätte in Mekka beschränkt und zu jeder beliebigen Jahreszeit unternommen werden kann. In großer Zahl stehen Freunde, Verwandte und Nachbarn am Bahnsteig, um die Wallfahrer zu verabschieden. Gepäckstücke und Proviant werden in die Waggons gereicht. Bauchladenverkäufer mit Zigaretten und Zigarren preisen ihre Waren vor den Fenstern der Waggons an. Noch schnell ein letztes Geschäft machen.

In dieses Gewirr und Gewusel hinein ertönt plötzlich ein Glockenton. Er verkündet die Abfahrt. Die Türen knallen zu. Die grün gestrichene Dampflokomotive aus der Fabrik von Richard Hartmann aus Chemnitz zischt und prustet; dann gibt es einen Ruck, der Zug setzt sich gemächlich in Bewegung und rollt langsam aus dem Bahnhof hinaus. Begleitet wird er von winkenden und jubelnden Kindern. Eine ganze Weile rennen sie neben dem Zug her, bis sie schließlich ermüden und zurückbleiben. Hinter der Lokomotive ist ein Güterwaggon mit aufmontiertem Wassertank angehängt. Ein Hinweis darauf, was den Zugreisenden auf der langen Wegstrecke erwartet: eine wasserlose raue Gegend. Anschließend kommen weitere Niederbordgüterwagen ohne Bänke und ohne Dach für die Masse der Pilger. Am Zugende laufen drei geschlossene Wagen für das Begleitpersonal, die betuchteren Reisenden und die Fracht; Waggons aus der Gothaer Maschinen- und Waggonfabrik.

Mit Gepolter geht es über Weichen, vorbei an dem rußigen Bahndepot mit Kohlenhaufen und Wasserkränen. Allmählich steigert sich der Lärm der Räder auf den Schienen zu einem laut hallenden Dröhnen. Rauchgeruch dringt unangenehm ins Abteil. Im grellen Sonnenlicht schiebt sich der Zug vorbei an kleinen Bahnstationen. Während der gesamten Fahrt wird der Zug nur eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde erreichen.

Die Reisenden haben sich schnell miteinander bekannt gemacht und beginnen zu schwatzen. Einer liest mit halblauter Stimme den Koran, ein anderer, und das ist Otto, schaut unentwegt fasziniert auf die vorbeiziehende Landschaft.

Schon bald beginnt die Sonne erbarmungslos zu brennen. Mit Hilfe von Stangen und Decken versucht man in den offenen Waggons provisorische Sonnendächer zu errichten, während der Zug ruckelnd Kilometer um Kilometer gen Süden zurücklegt. Über Deraa, wo die Zweigstrecke nach Haifa ans Mittelmeer abgeht, geht es nach Amman und schließlich erreicht er nach Mitternacht Maan, vierhundertachtundfünfzig Kilometer von Damaskus entfernt.

Sobald der Zug im Bahnhof eingefahren ist, stürzen die Reisenden aus den Waggons, um sich die Beine zu vertreten und ihre Notdurft zu verrichten. Auch Otto ist froh, aussteigen zu können, und schlendert den Bahnsteig entlang. Er sieht, wie sich Gruppen von Reisenden gemeinsam neben den Gleisen niederlassen, um ihr Gebet nach Mekka hin gewandt zu sprechen.

Aus der Nachbarschaft strömen Einheimische herbei, um Erfrischungen, Fladenbrot, verschiedene Sorten Datteln, Zitronen und saure Milch anzubieten. Das Zugpersonal klopft währenddessen die Radlager ab und kontrolliert die Bremsen. Die Lokomotive fasst neues Wasser.

Plötzlich gibt es einen Ruck und der gesamte Zug macht eine stoßartige Bewegung nach vorne. Otto ist erschrocken. Hat er das Abfahrtssignal überhört? Fährt der Zug etwa ohne ihn weiter? Nein, zum Glück nicht. Es werden nur weitere Niederbordgüterwagen angekoppelt. Anschließend marschiert ein Trupp osmanischer Soldaten heran, die sich mit Marschgepäck und Waffen auf die Wagen verteilen.

Eine Routineangelegenheit oder gibt es Hinweise auf eine drohende Gefahr?, fragt sich Otto noch, als er einen Glockenton hört, das Zeichen zur Abfahrt. Er ist recht froh, dass es weitergeht, denn die Nacht im eintausenddreihundert Meter hoch gelegenen Maan ist ausgesprochen kalt. Otto begibt sich wieder in sein Abteil. Er sitzt noch gar nicht ganz, da setzt sich der Zug auch schon ruckelnd Richtung Medina in Bewegung. Man fährt die ganze Nacht hindurch.

Wieder schaut Otto aus dem Fenster, mittlerweile seine Lieblingsbeschäftigung. Unter dem sternenübersäten Nachthimmel kann er die trockene Steinwüste mit ihren seltsam gestalteten Felsformationen und die zahlreichen ausgetrockneten Wadis erkennen, die eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellen. Nach heftigen Regenfällen verwandeln sie sich in reißende Ströme, die einen Bahndamm mit Leichtigkeit wegzureißen vermögen. Auch deshalb hat Meißner Pascha auf der gesamten Strecke über eintausendfünfhundert sogenannte technische Kunstbauten wie Brücken, Durchlässe und Tunnel errichten lassen.

Ganz so angenehm wie Otto haben es die Wallfahrer in ihren offenen Waggons nicht. Mit Überwürfen und Decken versuchen sie sich, so gut es geht, gegen die empfindlich kalte Nachtluft zu schützen. Gegen Morgen wird an einer kleinen Station gehalten, damit der Zug Wasser aufnehmen kann und die Gläubigen ihr Morgengebet sprechen können.

Schon bald weicht die Kälte der Nacht wieder der erbarmungslosen Hitze des Tages. Fünfundfünfzig Grad Celsius wird das Thermometer bald anzeigen! Der Himmel ist strahlendblau, verziert mit ein paar Schönwetterwolken. Die Sonne sticht brutal, noch brutaler als vor ein paar Minuten.

 

Und dann sieht er sie, diese armen Kerle. Ein Trupp von Arbeitssoldaten ohne spezielle Arbeitskleidung bessert das Gleiswerk aus. Nur in weißen Leinenanzügen mit einer Kufiya, einem arabischen Kopftuch, auf dem Kopf sind sie der glühend heißen Sonne ausgesetzt. Bis auf zwei Stunden in der Mittagshitze schuften sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fünf Tage die Woche. Am Donnerstag, üblicherweise der Waschtag, ist frei und am Freitag, dem »türkischen Sonntag«, auch. Sie führen ein entbehrungsreiches und körperlich anstrengendes Leben. Zu beneiden sind sie wirklich nicht.

Wie ein nach Luft schnappender Fisch lehnt sich Otto immer wieder aus dem Fenster, um sich abzukühlen. Das hält aber nicht lange vor. Unerklärlicherweise beginnt er kurz darauf zu frieren. Bei dieser Hitze. Und dann diese Kopfschmerzen, urplötzlich. Merkwürdig, denkt er sich. Etwas erschöpft fühlt er sich schon. Hat er sich etwa eine Erkältung zu gezogen? Das fehlt ihm gerade noch.

Doch dann schaut er wieder voller Faszination auf die vorbeiziehende Wüstenlandschaft hinaus. Kann er seinen Augen trauen? Auf dem Wüstenboden zeichnen sich große Wasserflächen ab, die ihre Form aber verändern, wenn sich der Zug ihnen nähert oder an ihnen vorbeifährt. Schließlich zerfließen sie ganz. Es sind nur Luftspiegelungen. Davon hat Otto schon mehrfach gehört, es aber nicht so recht glauben können.

Dann sieht er grüne Flächen in der Ferne. Schon wieder Luftspiegelungen? Nein, man nähert sich der Oase Tabuk, sechshundertzweiundneunzig Kilometer von Damaskus entfernt. Hier gibt es eine Eisenbahnstation mit Lokomotivschuppen, Wasser- und Bekohlungsanlage. Zudem finden die Reisenden eine Moschee und ein Krankenhaus vor.

In Tabuk erfolgt eine etwas längere Rast, bevor man die Reise in der Gluthitze fortsetzt. Die Bahnstrecke steigt nun bergan und man durchquert einen einhundertsechzig Meter langen Tunnel. Danach geht es kurvenreich durch von Sandsteinbergen eingerahmte Täler, bis man endlich nach neunhundertachtundfünfzig Kilometern in die Station Mada’in Saleh einfährt.

Mit der Palmenoase Al-Ula ist die Grenze für Nichtmuslime erreicht. Von hier an liegen Leitung und Betrieb der Hedschasbahn vollständig in muslimischen Händen. Alle fünfundneunzig Stationen an der Strecke sind nach einem Muster gebaut. Sie ähneln eher einer Festung als einer Bahnstation und sind mehr als Reparatur- und Wachstation gedacht und nicht als Bahnhof.

Auf einem quadratischen Grundriss steht ein rotbrauner, zweistöckiger Sandsteinquaderbau mit vier Räumen und einem zentralen Innenhof für die Mannschaften. Zahlreiche Fenster, die wie Schießscharten aussehen, sind in das Mauerwerk eingelassen. Über dem Eingang erkennt man eine Sandsteintafel mit dem Stationsnamen und das Jahr der Errichtung. Hier nun verlassen die Soldaten den Zug und lösen die Wachmannschaft ab. Müde, mit schmutzigen und mehr oder weniger gut geflickten Uniformen trotten die abgelösten Soldaten, einige von ihnen sogar barfuß, zu den bereitstehenden Waggons und steigen ein. Ein Gefühl der Sicherheit will bei ihrem Anblick nicht so recht aufkommen. Aber was soll’s, sagt sich Otto. Bisher ist ja alles gut gegangen und nun steht die letzte Etappe bevor.

Als offizieller Gelehrter des Orients verfügt Otto von Wesenheim über eine Sondererlaubnis, von Seiner Hoheit dem Sultan-Kalifen Mehmed V. persönlich signiert. Aber etwas mulmig ist ihm schon. Wird man hier im weit entfernten Randgebiet seines Herrschaftsbereichs diese auch anerkennen? Tatsächlich, Otto darf in seinem Abteil bleiben und erleben, wie man wieder durch die ausgetrocknete Steinwüste mit ihren Felsenbergen fährt. Zweihundertfünfzig Kilometer bis Medina, also nur noch zehn bis zwölf Stunden Fahrt!

Bald ist es soweit und die elende Zugfahrt hat ein Ende, spricht ein erschöpfter Wesenheim zu sich selbst. Gemächlich fährt der Zug durch die Wüstenlandschaft. Plötzlich spürt Wesenheim eine gewisse Unruhe aufkommen. Gleichzeitig verlangsamt der Zug seine Fahrt. Was ist los? Als er aus seinem Fenster hinausschaut, sieht er eine große Staubwolke auf sich zukommen. Unruhe macht sich im gesamten Zug breit. Die Staubwolke kommt immer näher. Otto meint in ihr Umrisse von Gestalten auf Kamelen zu erkennen.

Ein langgezogener Pfeifton ertönt und die ersten Reisenden fangen an zu schreien. Auch Otto ergreift eine gewisse Panik. Sind das Beduinen, vor denen man ihn schon in Konstantinopel gewarnt hat? Raue und unbarmherzige Gesellen sollen das sein. Sie erkennen keine Autorität an, selbst nicht die des Sultan-Kalifen. Nur ihren Stammesältesten fühlen sie sich verpflichtet. Immer wieder attackieren sie die Züge der Hedschasbahn, plündern sie aus, töten und verletzen die Reisenden, manchmal, so heißt es, nehmen sie auch Geisel. Nur gegen viel Geld lassen die Beduinen sie wieder frei; zumindest die Glücklicheren von ihnen. Andere verschwinden in der Wüste und tauchen nie wieder auf.

Oh je, denkt Otto, wenn die mich entdecken, dann bin ich geliefert. Entweder töten sie mich auf der Stelle, da ich mich als Ungläubiger in diesem ausschließlich muslimischen Gebiet aufhalte – das Schreiben des Sultan-Kalifen wird nicht viel helfen, wenn sie denn überhaupt lesen können. Oder ich bin bestenfalls eine begehrte Geisel. Keine sonderlich beruhigende Alternative.

Schon sind die Reiter klarer zu erkennen. Mit weißen Burnussen gewandet, elegant auf den Kamelen reitend, nähern sich ungefähr vierzig bis fünfzig Bewaffnete dem Zug. Mit schrillem Kreischen ziehen nun die Bremsen an, die Reisenden werden aus ihren Sitzen gerissen und durcheinander gewirbelt, einige schlagen mit den Köpfen gegen die Waggonwände und bluten aus ihren Wunden. Gleise sind ausgerissen. Kommt der Zug noch rechtzeitig zum Stillstand oder wird er entgleisen? Otto versucht, so gut es geht, sich in seinem Sitz zu halten. Mit großer Mühe gelingt es ihm. Schließlich kommt der Zug – anscheinend noch rechtzeitig – zum Stehen.

Für Sekunden, die Otto aber sehr viel länger vorkommen, herrscht vollkommene Ruhe. Doch dann sind Gewehrschüsse zu hören. Rotes Mündungsfeuer zerreißt die gespannte Ruhe. Menschen beginnen zu schreien und Panik macht sich breit. Raus aus dem Zug, so die spontane Reaktion. Aber wohin nur? Ringsherum gibt es nichts als Wüste und eine unbarmherzig brennende Sonne. Aber das ist den Menschen egal. Schwankend und mit weichen Knien, genauso wie damals während des Erdbebens, hebt sich Otto aus seinem Sitz und verlässt den Salonwagen.

Nun ist neben den Gewehrschüssen auch das Schreien der heranreitenden Beduinen zu hören. Markerschütternd! Das Rattern der Gewehrfeuer wird immer lauter. Otto spürt den Luftzug im Gefolge der vorbeizischenden Kugeln. Die Kugeln sind sehr real. Otto hört den dumpfen Einschlag des Geschosses, als ein Mitreisender getroffen wird. Der Mann greift zum Loch in seinem Bauch und sieht Otto mit einem Ausdruck gekränkten Erstaunens an, als wolle er fragen, ob ihm dies wirklich passiere. Dann schreit er auf vor Schmerz. Der Mann wird sterben und es gibt nichts, was Otto für ihn tun kann.

Was soll nur werden? Unwillkürlich gleitet seine Hand in seine Reisetasche, die er mit festem Griff umklammert hält, und er holt seine Pistole der Marke Luger P 08 heraus. Immerhin, auch das deutsche Wertarbeit. Mit seiner Dienstpistole in der Hand, geladen mit acht 9 mm Parabellumgeschossen, fühlt er sich schon gleich wohler. Sie wird ihm so oder so gute oder auch letzte Dienste leisten. Eigentlich sind viele der Reisenden unbewaffnete Pilger, die nichts anderes im Sinn haben, als die Kaaba, ihr Heiligtum in Mekka, aufzusuchen, eine leichte Beute also.

Friedliche Menschen. Diese Beduinenbande scheint nicht einmal auf gläubige Muslime Rücksicht zu nehmen. Wie wird es dann erst dem ungläubigen Otto ergehen? Otto wirft sich hinter den Bahndamm in Deckung und sieht, wie sich die Beduinen immer weiter nähern. Eine hoffnungslose Lage. Nur noch wenige Minuten, dann liegt sein Schicksal in anderen Händen. Wichtig ist, so schießt es Otto durch den Kopf, dass er noch eine Patrone in seiner P 08 aufspart. Für alle Fälle.

Plötzlich hört er Schüsse. Schüsse, die aus einer anderen Richtung kommen. Dann entdeckt er die Mündungsfeuer. Aus Richtung des Zuges. Natürlich, Gott sei es gedankt oder sollte er lieber Allah sei gedankt sagen? Die Soldaten, dieser eher zerlumpte müde Haufen, scheinen den Ernst der Lage erkannt zu haben. Otto schaut vorsichtig über den Bahndamm und kann erkennen, wie die Soldaten aus den Waggons springen. Mit ihren Gewehren in Anschlag eröffnen sie das Feuer auf die heranstürmenden Beduinen. Auch sie wissen, dass sie keine Gnade zu erwarten haben.

Anscheinend waren die Beduinen nicht auf die Anwesenheit der Soldaten vorbereitet oder aber sie haben die Entschlossenheit der Truppe unterschätzt. Nicht immer ist die Kampfmoral der Soldaten gerade in den Randgebieten des Reichs intakt, hat man in Konstantinopel des Öfteren gehört. Sich ergeben und auf Allah hoffen, ist häufig das Motto. Aber hier haben sich die Angreifer gründlich getäuscht. Die osmanischen Soldaten, vielleicht auch angetrieben von den grauenhaften Geschichten, die über die Gefangennahme kursieren, sind anscheinend gewillt, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Denn wer möchte schon mit seinem eigenen Geschlechtsteil im Mund enden?

Mit Erleichterung und auch Respekt sieht Otto, wie sie Salve auf Salve auf die Beduinenbande abfeuern. Die ersten Kamele wie auch ihre Reiter sind getroffen und schlagen auf den Wüstenboden auf. Das aber macht die anderen nur wütender. Noch entschlossener reiten sie auf den Zug zu. Nur noch wenige Meter trennen sie von den Reisenden. Da trifft sie noch einmal eine Gewehrsalve. Die Kugeln zischen förmlich an Otto vorbei.

Ihr Anführer wird regelrecht aus dem Sattel seines stolzen Kamels geworfen und schlägt in einer Sandwolke auf den Boden auf. Wie auf ein unsichtbares Kommando, so scheint es, machen die anderen Reiter daraufhin kehrt und preschen im Eiltempo davon.

Erleichtert steht Otto auf. Er ist noch ganz beeindruckt von der Disziplin und Kampfmoral der Soldaten des Sultans, als sich vor ihm eine einstmals weiß gekleidete, nun aber mit roten Blutspuren versehene Gestalt mit gezücktem Krummdolch aufrichtet. Einen Moment lang herrscht Stille. Das Folgende nimmt Otto nur bruchstückhaft wahr.

Die Gestalt stolpert und taumelt auf Otto zu, um mit einem vor Wut oder Schmerz verzerrten Gesicht seinen Dolch in den Ungläubigen zu bohren. Eine kurze Schrecksekunde verharrend, sieht Otto, wie sich der Dolch seinem Hals nähert. Ausweichen oder feuern?

Bruchteile einer Sekunde entscheiden über Leben oder Tod. Da hört Otto, als ob er unbeteiligt ist, einen Schuss, sieht, wie der Beduine ihn mit offenem Mund anstarrt, in seiner Stellung verharrt, seinen Arm mit dem Dolch senkt, sich leicht nach rechts dreht und dann zu Boden sinkt. Eine Blutlache breitet sich schnell aus. Otto, noch mit seiner Luger in der Hand, vermag es nicht zu glauben. Spontan hat er das Richtige getan und auch noch getroffen.

Erst jetzt macht sich Erleichterung breit. Der Spuk ist überstanden. Derweil die Verletzten, so gut es geht, versorgt werden, machen sich die Soldaten und Bahnbediensteten unterstützt von Freiwilligen der Reisenden daran, die Schienen wieder in ihre Gleise zu verlegen. Nach einiger Zeit und viel Schweiß gelingt es tatsächlich. Die Reise kann weitergehen. Erst allmählich begreift auch Otto, was vorgefallen ist, und Erleichterung macht sich bei ihm breit. Das erste wirkliche orientalische Abenteuer ist überstanden. Das Ziel der Reise ist vor Augen. Medina.

Zwischen felsigen Hügeln hindurch fährt der Zug durch ein geöffnetes Tor in den von einer Mauer eingegrenzten Bahnhof, der dem von Damaskus gleicht, ein. Vor dem Gebäude des Kopfbahnhofs kommt er dann zum Stehen. Jeder ist froh, endlich wohlbehalten angekommen zu sein. Alle Glieder schmerzen, die Gesichter und die Kleidung sind verdreckt und verschwitzt. Die Wallfahrer sind beglückt, endlich so nahe an Mekka zu sein, danken Allah für die unversehrte Ankunft, stimmen das Lied »Gott sei gelobt« an und klatschen dazu rhythmisch in die Hände. Menschenmassen säumen den Bahnsteig und empfangen die Reisenden. Glücklicherweise ist man gerade rechtzeitig zum Maghrib angekommen, dem Gebet, das die Gläubigen zwischen Sonnenuntergang und dem Ende der Dämmerung verrichten. An diesem Ort bleibt man im Regelfall für einige Tage, bis man weiter nach Mekka reist. Die Burschen der Hausbesitzer, die Unterkünfte vermieten, zerren an den Reisenden, um sie zu der vermeintlich »besten« und »saubersten« Unterkunft ihres Lebens zu locken.

 

Auch Otto verweilt zunächst einmal hier, um sich kurz auszuruhen. Nach einiger Zeit gelingt es ihm in dem Menschengewimmel seinen Diener Ali zu finden, der bereits mit dem Gepäck auf seinen Herrn wartet. Bei ihm ist ein junger Bursche, der Otto zu seiner Unterkunft begleiten soll. Das Gepäck wird auf einen Esel geladen und los geht es. Na, sagt sich Otto, das scheint ja von unserem V-Mann in Dschidda ganz gut vorbereitet zu sein. Es ist genau dieser Heinrich Voss, von dem der Botschafter gesprochen hat. Allerdings hat Otto nicht allzu viel Gutes von Voss gehört. Auch ein Grund, warum Otto nach Dschidda reisen soll. Voss soll, so heißt es in Konstantinopel, neben Frauengeschichten auch ein Alkoholproblem haben. Wie verlässlich ist also dieser Voss?

Doch zunächst ist Otto ganz zufrieden. In seinem Quartier, das zwar nicht sonderlich feudal ist, kann er aber zumindest ein erstes Duschbad nehmen. Obwohl das Wasser dafür nur aus Krügen kommt, ist es für ihn eine reine Wohltat.

Dann geht es auf zur letzten Etappe. Mit der Karawane wird er sicherlich fünfzehn bis zwanzig Tage benötigen, um nach Dschidda zu gelangen. Diese Strecke ist weitaus beschwerlicher als die Fahrt mit der Hedschasbahn.

Die ganzen letzten Tage fühlt sich Otto schon nicht wohl. Übelkeit, Kreislaufprobleme, auch Fieber. Das werden wohl die Strapazen der Reise sein, beruhigt er sich. Schließlich ist er solche Abenteuer nicht gewohnt. Aber was tut man nicht alles, wenn das Vaterland ruft. Auch deshalb ist er froh, als die Karawane endlich in Dschidda eintrifft.

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