Spanische Lexikologie

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Spanische Lexikologie
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Bernhard Pöll

Spanische Lexikologie

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0105-9

Inhalt

  Vorwort

 1 Lexikologie – eine Disziplin mit unscharfen Rändern1.1 Der Gegenstandsbereich der Lexikologie1.2 Exkurs: Zum Begriff des mentalen Lexikons1.3 Zusammenfassung und Vorausschau auf die folgenden Kapitel

 2 Die Einheiten des Wortschatzes2.1 Wörter und Lexeme2.2 Komplexe und mehrgliedrige Lexeme: Phraseologie2.3 Satzwertige Phraseologismen und Sprichwörter

 3 Zur Formseite des Wortschatzes: Wörter und ihr innerer Aufbau3.1 Allgemeines3.2 Grundbegriffe: Morphem, Allomorph, Basis etc.3.2.1 Konstituentenanalyse: ausgewählte Beispiele3.2.2 Typen von Morphemen3.3 Verfahren der Wortbildung3.3.1 Derivation3.3.2 Komposition3.3.3 Andere Verfahren3.3.4 Produktivität, Aktivität, Blockierungen3.4 Wortfamilien3.5 Zusammenfassung: Formelemente des Lexikons

 4 Die Inhaltsseite des Lexikons4.1 Semasiologie, Onomasiologie, Semantik4.2 Was ist eigentlich Bedeutung?4.3 Strukturalistische Bedeutungsbeschreibung (“strukturelle Semantik”, “Lexematik”)4.4 Prototypensemantik4.5 Paradigmatik4.5.1 Wortfeld4.5.2 Hyponymie und Hyperonymie4.5.3 Synonymie4.5.4 Antonymie4.5.5 Polysemie und Homonymie4.6 Syntagmatik4.6.1 Lexikalische Solidaritäten4.6.2 Eingeschränkte Kombinatorik: Kollokationen, lexikalische Funktionen, Funktionsverbgefüge und Verwandtes

 5 Zur diasystematischen Schichtung / Struktur des spanischen Wortschatzes5.1 Historische Schichtung5.2 Diaphasische, diastratische und diamesische Variation5.3 Diatopische Variation

 6 Wörter und Wortschätze im Vergleich: Kontrastive Lexikologie6.1 Grundlegendes6.2 Methodischer Ausgangspunkt: das tertium comparationis6.3 Typen von Kontrasten6.3.1 Unterschiedlicher Referenzbereich / unterschiedliche semantische Struktur6.3.2 Morphologischer Aufbau und Lexikalisierungsmuster6.3.3 Syntaktische Eigenschaften6.3.4 Unterschiedliche Polysemie6.3.5 Situationsabhängige Eigenschaften und konnotative Unterschiede6.4 Gibt es “lexikalische Lücken”?6.5 Versteckte Kontraste: Falsche Freunde

 7 Lexikologie und ihre anwendungsorientierten Nachbardisziplinen I: Terminologie7.1 Fachsprache und Gemeinsprache7.2 Terminus – Wort – Fachwort7.3 Bildung von Termini und Fachwörtern

 8 Lexikologie und ihre anwendungsorientierten Nachbardisziplinen II: Lexikographie und Metalexikographie8.1 Vorbemerkung8.2 Zum Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie8.3 Marksteine der spanischen Lexikographie8.4 Grundkonzepte der Metalexikographie: Bauteile von Wörterbüchern8.4.1 Zur Struktur von Wörterbuchartikeln: die Mikrostruktur8.4.2 Makrostruktur8.5 Arbeitsbereiche der spanischen (Meta-)Lexikographie in Auswahl8.5.1 Phraseologie im Wörterbuch8.5.2 Diatopische Variation im Wörterbuch: zur Lexikographie der Amerikanismen8.5.3 Lernerlexikographie

 9 Bibliographie9.1 Forschungsliteratur9.2 (Sprach-)Wörterbücher9.3 Verzeichnis der Internetadressen

  10 Deutsch-spanisches Glossar

  Verzeichnis der Abkürzungen und Symbole

Vorwort

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Bandes im Jahre 2002 sind 16 Jahre vergangen. Dies machte für die vorliegende Neuauflage vor allem eine bibliographische Aktualisierung notwendig, die sich jedoch auch im Text selbst niederschlägt. An den grundlegenden Zielsetzungen dieses Studienbuches hat sich jedoch nichts geändert: Es richtet sich primär an Studierende, die bereits über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen, aber mit diesem konkreten Bereich der hispanistischen Sprachwissenschaft bislang nicht oder nur am Rande konfrontiert waren. Es ist für das Selbststudium (z.B. zur Prüfungsvorbereitung) konzipiert, eignet sich aber auch als Begleitlektüre zu einschlägigen (Pro-)Seminaren.

Eine Einführung zu schreiben, ist wohl für jeden Forscher,1 dessen Herz auch für die wissenschaftliche Lehre schlägt, eine Herausforderung, gilt es doch, gesicherte, aber dennoch komplexe Wissensbestände einer Disziplin auf gut verständliche Weise Lesern zu vermitteln, deren Vorkenntnisse nicht immer ganz leicht abzuschätzen sind. Bei jedem Kapitel, bei jedem Abschnitt muss entschieden werden, was banal ist und als bekannt vorausgesetzt werden darf und was die potentiellen Rezipienten nicht wissen (können). Ob mir dieser Spagat immer gelungen ist, mögen meine Leser und Rezensenten entscheiden. Verbesserungsvorschläge sind in jedem Fall willkommen und werden hoffentlich in eine dritte Auflage einfließen können.

Viele haben auf die eine oder andere Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen; nachdrücklich gedankt sei an dieser Stelle Kathrin Heyng vom Gunter Narr Verlag sowie insbesondere Karoline Wurzer, die den Band mit viel Umsicht und Geschick zum Druck vorbereitet hat.

Dass es dieses Buch in der vorliegenden Form überhaupt gibt, geht auf die Initiative von Franz Josef Hausmann zurück (bis 2008 Ordinarius für Angewandte Sprachwissenschaft/Romanistik an der Universität Erlangen). Ohne seine Empfehlung hätte ich wohl nicht die Gelegenheit gehabt, dieses Buch zu schreiben. Es sei ihm daher ganz herzlich gewidmet!

Salzburg, im März 2018 Bernhard Pöll

1 Lexikologie – eine Disziplin mit unscharfen Rändern
1.1 Der Gegenstandsbereich der Lexikologie

In der für die romanistische Linguistik maßgeblichen Romanischen Bibliographie (Online-Datenbank)1 finden sich in der Rubrik “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ u.a. Arbeiten mit den folgenden Titeln:2

1 “Apuntes sobre lexicocronología española”

2 “Características lexico-semánticas de los verbos prefijados con ‘des-’ en DRAE 1992”

3 “El léxico indígena en el español hablado en Puerto Rico: variables socioculturales.”

Hier geht es – soweit sich dies ohne die genaue Kenntnis dieser Aufsätze sagen lässt – um Fragen der chronologischen Schichtung des spanischen Wortschatzes, um die Spezifika von Verben mit einem bestimmten Präfix wie sie im Wörterbuch der Real Academia Española (DRAE) beschrieben sind, und um die sozial bedingte Verwendung von indigenen Lehnwörtern im gesprochenen Spanisch von Puerto Rico.

In der darauffolgenden Rubrik, die den Titel “Semantik. Pragmatik” trägt, taucht erneut der Aufsatz über die präfigierten Verben im DRAE auf, daneben erscheinen hier aber auch

1 “Apuntaciones críticas sobre el diccionario de Cuervo. A propósito de los artículos fabricar, fácil y facilitar.”

2 “Die Bedeutung von spanisch silla.

und viele andere mehr.

Zu Recht darf man sich fragen, ob den Verfassern da nicht Fehler unterlaufen sind: Sollte man (4), weil es ja um ein Wörterbuch3 geht, nicht besser unter “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ eintragen? Gehört (3) nicht in eine ganz andere Kategorie, etwa Soziolinguistik? Hätte es nicht gereicht, (2) nur unter “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ zu verzeichnen? Hat (5) nicht auch etwas mit Lexikologie zu tun?

 

Der Fairness halber wird man die Autoren der Bibliographie vom Vorwurf der Schlampigkeit oder des unüberlegten Handelns freisprechen müssen, denn solche Unsicherheiten, Doppelzuordnungen oder Überschneidungen sind symptomatisch für eine sprachwissenschaftliche Subdisziplin, in deren Gegenstandsbereich – dem Wortschatz – letztlich alle Fäden zusammenlaufen: Die Einheiten des Wortschatzes – nennen wir sie vorläufig einmal Wörter – haben Bedeutungen, und diese Bedeutungen bedingen sich oft gegenseitig, sie sind aus kleineren, isolierbaren Einheiten aufgebaut und lassen sich z.B. chronologisch nach ihrem Auftreten ordnen. Darüber hinaus ist ihre Verwendung, ihr Vorkommen in der Rede von vielfältigen u.a. geographischen, sozialen und individuellen Faktoren abhängig. Schließlich sammelt man sie auch mit verschiedenen Zielsetzungen und Ordnungskriterien in Inventaren – es entstehen Wörterbücher. Mit diesen wenigen Zeilen sind nicht einmal ansatzweise die Kernbereiche der Lexikologie beschrieben, im besten Falle haben wir eine Paraphrase der Titel unserer vorhin genannten Aufsätze. Die Ränder bleiben jedenfalls unscharf.

Dass der Aufgabenbereich der Lexikologie nicht ein für allemal fixiert ist, zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich der in den letzten Jahrzehnten für verschiedene Einzelsprachen erschienenen Einführungen in die Lexikologie4 und ihrer jeweiligen Konzeptionen:

 WUNDERLI, Peter (1989): Einführung in die französische Lexikologie. Tübingen: Niemeyer.Im Bewusstsein des interdisziplinären Charakters der Lexikologie greift der Autor in verschiedene relevante Bereiche aus: historische Schichtung, Entlehnung, Wortbildung, Translation (verstanden als syntagmatische Ausweichverfahren, um Schwächen der Wortbildung auszugleichen), Semantik (wird hier mit “struktureller Semantik” bzw. “Lexematik” [cf. Kapitel 4.3 dieses Bandes] gleichgesetzt).

 SCHIPPAN, Thea (1992): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer.Das 306 Seiten starke Werk behandelt sehr umfassend die folgenden Aspekte: Wort als sprachliche Einheit, Wortbildung, lexikalische Bedeutung, lexisch-semantisches System der Sprache (Bedeutungsbeziehungen; unter Einbeziehung psycho- und soziolinguistischer Aspekte), soziale Gliederung des Wortschatzes (mit Terminologie), neuere Entwicklungen im deutschen Wortschatz (Bedeutungswandel, Entlehnungen usw.). Einführende Kapitel versuchen den Gegenstandsbereich der Lexikologie zu umreißen, situieren die Lexikologie gegenüber “Nachbarwissenschaften” und geben allgemeine Informationen zur Schichtung und diatopischen Verbreitung des deutschen Wortschatzes.

 LUTZEIER, Peter Rolf (1995): Lexikologie. Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Stauffenburg.Um Formalisierung bemüht, fußt diese hauptsächlich auf das Deutsche abgestellte Einführung ebenfalls auf den Grundgedanken des Strukturalismus. Aspekte wie die kognitive Relevanz der von der Linguistik aufgedeckten lexikalischen Strukturen werden berücksichtigt (Stichwort: mentales Lexikon). Die Perspektive ist dominant synchronisch.

 HALLIDAY, M.A.K./YALLOP, Colin (2007): Lexicology. A Short Introduction. London/New York: Continuum.Der schmale Band beschäftigt sich, ausgehend von Überlegungen zum Wortbegriff, primär mit grundlegenden Fragen der Semantik (denotative Bedeutung, Zusammenhang zwischen Wörtern und der Welt etc.). Überlegungen zu Etymologie, Lexikographie (insbesondere die Geschichte englischer Wörterbücher) und zum Vergleich von Wortschätzen unterschiedlicher Sprachen werden punktuell eingeflochten.

 LEHMANN, Alise/MARTIN-BERTHET, Françoise (42013): Introduction à la lexicologie. Paris: Colin.Den Autorinnen zufolge sind die “domaines constitutifs” der Lexikologie die “sémantique lexicale” (lexikalische Semantik) und die “morphologie lexicale” (Wortbildung). Dem entspricht die Zweiteilung des Buches, wie sie in der Erstauflage (1998) vorgenommen wurde. Spätere Auflagen beinhalten auch ein umfangreiches Kapitel zur Lexikographie des Französischen. Im Bereich der Semantik werden auch neuere Ansätze (Prototypen, Stereotypen) behandelt.

 HARM, Wolfgang (2015): Einführung in die Lexikologie. Darmstadt: WBG.Auf etwas mehr als 160 Seiten werden in diesem germanistisch ausgerichteten Band – wie auch in anderen Werken vom Konzept Wort ausgehend – die Form- und Inhaltsseite des Wortschatzes (Wortbildung und Modelle der Bedeutungsbeschreibung), Sinnrelationen zwischen Wörtern (paradigmatisch und syntagmatisch), die diasystematische Schichtung des Wortschatzes und der lexikalische Wandel sowie die Lexikographie behandelt.

Wir haben vorläufig als Gegenstand der Lexikologie den Wortschatz und seine vielfältigen Strukturierungen genannt. Intuitiv kann sich jeder etwas darunter vorstellen, weil dieser Begriff auch zur Alltagssprache gehört: Man hat einen großen, reichen, kleinen, differenzierten Wortschatz, etwas gehört nicht zu unserem aktiven Wortschatz, manche Wörter gehören überhaupt nicht zu unserem Wortschatz – oder zumindest behaupten das manche, um die Sprachreinheit besorgte Beobachter –, wenn es sich nämlich um Fremdwörter handelt.

Mit dieser alltagssprachlichen Verwendung ist nur ein Teil, wenngleich ein sehr wichtiger, des Interesses der Lexikologie abgedeckt, nämlich der individuelle Sprachbesitz wie er sich in Form von Wörtern und dem damit verbundenen semantischen, phonetisch-phonologischen, syntaktischen und pragmatischen Anwendungswissen manifestiert.

Um die damit nicht beschriebenen Bereiche zu umreißen, kommen wir nicht umhin, einen zusätzlichen, in hohem Maße mehrdeutigen (= polysemen) Begriff einzuführen: Lexikon.

Damit meinen wir

1 in Bezug auf die Sprache: den Wortschatz in Opposition zur Grammatik. Wer z.B. eine Fremdsprache lernt, eignet sich in diesem Sinne einerseits Lexikon und andererseits grammatische Regeln (= Grammatik) an.5

2 in Bezug auf das Individuum: lexikalische Kompetenz im Sinne der Fähigkeit zur Rezeption und Produktion. In der kognitiven Linguistik und in der Psycholinguistik spricht man vom mentalen Lexikon als dem Sitz dieser Kompetenz.

3 im Rahmen einer Sprachtheorie: eine Komponente des Sprachsystems in Form eines Inventars von Einheiten, auf das phonologische und syntaktische Regeln angewandt werden.

4 das konkret vorliegende, aufgrund von im Vorhinein fixierten Kriterien erstellte Inventar, d.h. ein Wörterbuch. Je nach Ausrichtung handelt es sich eher um ein Sprachwörterbuch oder um ein Sachwörterbuch, das Informationen zu den von den Wörtern bezeichneten Sachen angibt (cf. Lutzeier 1999, 16).6

In der weiter unten stehenden Tabelle versuchen wir, diese komplexe terminologische Situation wieder aufzulösen. Was darin als getrennt erscheint, wird in der Praxis jedoch häufig nicht so scharf geschieden.

Lag in der strukturalistisch geprägten Lexikologie das Hauptinteresse auf dem Lexikon 3, so haben sich seit den 1970er Jahren deutliche Verlagerungen ergeben: Die zentralen Bereiche der Lexikologie hängen heute am Lexikon 2 und Lexikon 3. Mit der sog. kognitiven Wende der 1960er und 1970er Jahre trat das mentale Lexikon als Erkenntnisobjekt neben das modelllinguistische Lexikon (= Lexikon 3).


Objektbereich Lexikon 1 (auch: Wortschatz) Lexikon 2 (auch: mentales Lexikon) Lexikon 3 (auch: Lexik) Lexikon 4 (auch: Wörterbuch)
Element Wort (oder größere Einheit, z.B. Redewendung) Wort (oder größere Einheit, z.B. Redewendung) Lexem (und seine Komponenten) Wörterbucheintrag (auch: Lemma)
Reihenfolge bzw. Struktur der Anordnung der Elemente ? theorieabhängig abhängig von Konzeption (alphabetisch, nach Lautung etc.)
Status schriftlich, mündlich mental theoretisch klassifiziert und beschrieben schriflich fixiert, definiert
Rolle des Elements Bestandteil einer Zeichenkette Komponente eines (individuellen) Reservoirs Komponente eines (überindividuellen) Reservoirs Komponente eines Reservoirs
wissenschaftliche Prozeduren Erforschung der Struktur, der Art des Zugriffs usw. Deskription Deskription und/oder Kodifikation
Abhängigkeit des Objektbereiches nach Umfang und Struktur von Lernprozess und Sprachbeherrschung von einer bestimm-ten Sprachtheorie von benutzerabhängigen Zielvorgaben
wissenschaftliche Disziplinen u.a. Sprachdidaktik, Lexikologie Psycho-/Neurolinguistik, kogn. Linguistik, Spracherwerbsforschung, Lexikologie theoretische Lin-guistik, Semantik, Terminologie, Lexikologie Metalexikographie, Lexikographie, Terminographie

1.2 Exkurs: Zum Begriff des mentalen Lexikons

Faktisch liefert das mentale Lexikon – über den Wortschatz, der uns in geschriebenen und gesprochenen Texten entgegentritt – das Material für linguistische Theoriebildung und den Versuch, Strukturen des Wortschatzes (= Lexikon 3) aufzudecken. Die von der Lexikologie entdeckten Strukturen (siehe Kapitel 4) sollten sich im Idealfall mit jenen des mentalen Lexikons decken. Das Fragezeichen in der Tabelle soll andeuten, dass damit eine große Unbekannte angesprochen ist, denn es bleibt trotz unzähliger empirischer Untersuchungen weitgehend eine black box, wenngleich seit vielen Jahren hoher Forschungsaufwand dazu betrieben wird. Die relevanten Disziplinen für die Erforschung des mentalen Lexikons und damit in Zusammenhang stehender Fragen der menschlichen Sprachverarbeitung sind neben der Linguistik i.e.S. vor allem die Psychologie sowie die Psycho- und Neurolinguistik.

Die folgenden Ausführungen gelten heute als einigermaßen gesicherte Erkenntnisse über das mentale Lexikon:

1 Man darf sich das mentale Lexikon als jenen “Teil unseres Langzeitgedächtnisses vorstellen, in dem das Wissen über alle Wörter einer Sprache gespeichert ist” (Schwarz 1992, 70), allerdings sind Konzepte und Wortformen wahrscheinlich getrennt gespeichert. Diese Sicht wird durch zahlreiche Erkenntnisse der Erstspracherwerbsforschung und der Psycho- bzw. Neurolinguistik (z.B. Priming-Experimente, cf. Rummer/Engelkamp 2005) gestützt. So erwerben z.B. Kinder Konzepte von Quantität oder räumlichen Dimensionen, bevor sie sie versprachlichen können. Alltägliche Erscheinungen wie das “tip of the tongue”-Phänomen, bei dem zwar das Konzept, aber nicht die dazugehörige Wortform präsent ist, weisen ebenfalls in diese Richtung. Auch der Umstand, dass wir mental Kategorien bilden, bevor wir sie bezeichnen (können), spricht für eine getrennte Speicherung und Verarbeitung. Daraus ergibt sich, dass die von Saussure postulierte untrennbare Verbindung von signifiant (Ausdruck, Form) und signifié (Inhalt, Bedeutung) eine Idealisierung darstellt, zu der uns die normalerweise problemlos funktionierende Sprachproduktion/ Sprachrezeption verleitet (cf. Börner/Vogel 1997, 1f.). Schließlich dürften aber auch die phonologische und die morphologische Komponente eines Eintrags im mentalen Lexikon getrennt gespeichert sein, wie Ergebnisse der Aphasie-Forschung suggerieren.

 

2 Das im mentalen Lexikon gespeicherte Wissen hat deklarative und prozedurale Komponenten, m.a.W. es handelt sich einerseits um eine Art Faktenwissen, andererseits um in jedem Fall unbewusstes Handlungswissen (motorische Muster, Artikulationsprogramme usw.), das auf Basis des deklarativen Wissens funktioniert.

3 Neben mehrgliedrigen Einheiten, deren Bedeutung nicht (mehr) transparent ist, also formelhaften Ausdrücken oder idiomatischen Wendungen wie z.B. (dar) carta blanca ‘(jmd.) freie Hand (lassen)’, cada oveja con su pareja ‘gleich und gleich gesellt sich gern’, con su permiso ‘wenn Sie gestatten’ oder (no tener) ni son ni ton ‘weder Hand noch Fuß haben’, sind wahrscheinlich auch zahlreiche transparente und aktuellen syntaktischen Regeln gehorchende Ausdrücke als solche im mentalen Lexikon gespeichert, da sonst flüssiges Sprechen vermutlich nicht möglich wäre (cf. Coulmas 1985). Solche Einheiten dürften (bei Muttersprachlern) in Form von prozeduralem Wissen vorliegen, das konzeptuell aktiviert wird (cf. Möhle 1997, 47f.). Aus der Annahme, dass solche Ausdrücke im mentalen Lexikon gespeichert sind, ergibt sich, dass linguistische Modelle, die eine scharfe Trennung von lexikalischer und grammatikalischer Komponente anstreben, den Prozessen der tatsächlichen Sprachverarbeitung nicht vollständig gerecht werden.