Was Luther angerichtet hat

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Das weltliche Renaissance-Wesen mit seinen freieren Sitten, mit seinem Kult der schönen Künste, fiel in der Stadt, die gerne als die geistige Hauptstadt von ganz Renaissance-Italien bezeichnet wird, in Misskredit. Es wurden Scheiterhaufen errichtet, auf denen allerlei herbeigeschleppte Gegenstände des Lebensgenusses verbrannt wurden, z. B. Karnevalsmasken, Spielkarten, Parfümfläschchen und Musikinstrumente, ebenso Gemälde, wo Frauen unter mythischen oder historischen Vorwänden freizügig abgebildet waren. Denn Savonarola als eingefleischter Mönch hielt alles für überflüssig, was nicht dem Seelenheil diente. Der Herzog von Ferrara, woher Savonarola stammte, hielt es für angebracht, bei sich zu Hause ebenfalls eine strenge Reinigung der Sitten anzuordnen.

Ob der Mönch ausgerechnet aus Florenz eine stramme Theokratie hätte machen können, wie es später Jean Calvin in Genf unternahm, ist sehr wohl fraglich. Aber der, wenn auch nur kurzfristige, Erfolg seines Wirkens (1498 wurde er als Ketzer hingerichtet) zeigte, dass auch in Italien, dessen religiöses Leben so oft der Oberflächlichkeit und des puren Formalismus bezichtigt wurde (und von frommen Fremden immer noch wird), eine Substanz vorhanden war, die aktiviert werden konnte, sobald sich erst in der Kirche der Wille durchgesetzt hatte, den Kampf mit der Reformation auch geistlich aufzunehmen.

Savonarola kann in großer Gesamtschau als ein Vorläufer der Reformation gelten. Denn er hatte natürlich auch gegen den moralischen Verfall der Kirche und gegen deren Verweltlichung gewettert, sowie gegen die Oberherrschaft des Papstes überhaupt. Als er von Alexander VI. (1492 – 1503) exkommuniziert worden war, appellierte er an das Urteil Gottes selbst, das war noch radikaler als der Appell an ein reformatorisch gemeintes Konzil. Auch Jeanne d’Arc hatte in dem Ketzerprozess, der ihr 1431 in Rouen aufgenötigt wurde, ihren göttlichen Auftrag als über der kirchlichen Hierarchie stehend verteidigt. Nach Mario Ferrara zeigte Savonarola noch kurz vor seinem Tode als Bußfertiger „eine radikale Vernichtung seiner selbst in der Unendlichkeit Gottes und ein liebendes Streben nach der Wiedergeburt des gesamten lebenden Körpers der Kirche“.

Noch ein Wort zu den damaligen „Humanisten“ (die Benennung stammt erst aus dem 19. Jahrhundert). Das waren die Philologen, die über den wiederbelebten antiken Texten brüteten. Sie verfielen, bei allem Verdienst um die Neuschaffung eines edlen lateinischen Stils, dabei oft in grammatikalische Quisquilien oder in sterile stilistische Nachahmung etwa von Livius und Cicero, wandten ihr Motto „Zurück zu den Quellen“ (ad fontes) aber auch auf den Text der Bibel und auf die alten Kirchenväter an. Das konnte Unannehmlichkeiten mit der Kirche nach sich ziehen. So kam Johannes Reuchlin (1455 – 1522) über seine Hebräisch-Studien zur Erschließung des Alten Testamentes in Freiheit gegenüber der amtlichen lateinischen Übersetzung in der „Vulgata“.

Der Gang „zurück zu den Quellen“ barg für die Amtskirche die Gefahr, dass ihre für verbindlich erklärte Tradition, die sich erst in all den Jahrhunderten nach dem Auftauchen der „Quellen“ gebildet hatte, in ihrer Berechtigung bezweifelt wurde. Das hatte man schon dem Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz als Irrtum angerechnet, in der Formulierung der Konzilsväter: „Die kirchliche Obödienz ist eine solche gemäß der Erfindung der Priester der Kirche gegen die ausdrückliche Autorität der Schrift.“

Das geistige Kampfmaterial, das Luther zum Bruch mit der Papstkirche verwendete, lag schon länger bereit. Weltgeschichtliche Wirkung ist allerdings weniger eine Sache der Originalität, die Luther damit nicht einfach abgesprochen werden soll, als eine der definitiven Durchsetzung.

Luthers Eingriff in die Diskussion um den Ablasshandel begann von Anfang an, die päpstliche Autorität infrage zu stellen. Die Kirche begründete ihre Kraft, den Ablass zu erteilen, aus dem übergroßen Schatz der Gnade Christi, der Apostel und der Heiligen, der in sie als den „mystischen Leib Christi“ eingegangen war. Formuliert war diese Auffassung zum ersten Mal durch eine Bulle des Avignon-Papstes Clemens VI. vom Januar 1343 worden, der damit das 1350 bevorstehende Jubel-Jahr, das von der großzügigen Gewährung von Sündenablass lebte, untermauern wollte. Luther bestritt das im Grundsatz nicht, jedoch das Recht des Papstes, aus diesem Schatze auszuteilen. Die Hauptsache dabei sei die persönliche Reue. Das hatten auch die geschäftstüchtigsten Ablasshändler niemals geleugnet, aber Luther vertiefte das Thema, indem er sagte, über die Echtheit der Reue könne kein anderer entscheiden, nicht einmal der Sünder selbst. Da liegt der Gedanke zugrunde, dass der Einzelne seinem Gott unmittelbar gegenübersteht, der allein die Reue zutreffend beurteilt, womit der Weg offen wird zur Leugnung kirchlicher Vermittlungsfähigkeit und Vermittlungsnotwendigkeit zwischen Gott und dem Einzelnen. Das war die Axt an der Wurzel des Heils-Monopols der Kirche (siehe den Satz „extra ecclesiam nulla salus“ – das Heil ist nur innerhalb der Strukturen der Kirche zu erlangen). Thomas von Aquin hatte sich einst für das Recht des Papstes entschieden, den Gnadenschatz der Kirche auszuteilen. Die Kirche aber war nach Luther eine mystische Gemeinschaft der Gläubigen, an deren Schatz ein jeder ohne Weiteres Anteil habe. Das ist ein Hinweis auf eine spiritualistische Auffassung von Kirche, die der offiziellen Hierarchie schon immer missfallen hat, auch schon in den Äußerungen von Wiclif und Hus.

Da Luthers Standpunkt den Ablasshandel problematisierte, kam er dem Landesherren von Wittenberg entgegen, dem Kurfürsten Friedrich „dem Weisen“. Denn der befürchtete, ganz weltlich und zu Recht, dass damit die Finanzkraft seiner Untertanen geschmälert werde. Die auf der Sammlung von 1501 in seinen Landen zusammengebrachte Summe hatte er einbehalten und 1502 zur Gründung seiner Universität Wittenberg verwendet. Dass er selbst seinen Ehrgeiz in eine umfangreiche Reliquiensammlung setzte, die ebenfalls eine Quelle von Ablass sein konnte, stand auf einem anderen Blatt. Aber den Luther ließ er frei gewähren.

Dieser brachte zur Verbreitung seiner 95 Thesen für das allgemeine Publikum im März 1518 seinen „Sermon von Ablass und Gnade“ heraus. Der erlebte bis 1521 wenigstens 26 Auflagen – ein erstes Zeichen, dass Luther ein befähigter Schriftsteller war, der noch dazu den Nerv der Zeit traf, und dass der Erfolg der Reformation durch die Buchdruckerkunst ungemein gefördert wurde.

Rom hatte den Augustinerorden beauftragt, Luthers Ablassthesen genauer zu klären. Deshalb fand im April 1518 an der Universität Heidelberg unter Luthers Leitung eine Disputation statt, die ihm Gelegenheit gab, erneut seinen grundsätzlichen Standpunkt zu verkünden: Der Mensch erlangt das Heil nicht durch „gute Werke“, zu denen auch die Zahlung der Ablasssumme gehören würde, sondern allein durch seinen Glauben (sola fide), der ihm die rechtfertigende Gnade Gottes verschafft. Das beeindruckte besonders die Studenten und Magister, legte also den Samen für die weitere Ausbreitung von Luthers Gedankengut. Unter den Hörern waren nämlich auch unter anderen Martin Bucer(ius), der spätere Reformator in Straßburg und im Elsaß, und Johannes Brenz, der ab 1534 der Reformation im Herzogtum Württemberg und auch anderswo in Süddeutschland zum Durchbruch verhalf.

Am 30. Mai 1518 schickte Luther eine rechtfertigende Abhandlung an den Papst selbst, denn auch in Rom hatte man, wie von der mit Wittenberg konkurrierenden Universität Frankfurt an der Oder aus (1506 gegründet), gegen Luther geschrieben. Seine Epistel war im Ton gemäßigt. Er wolle sich den von der Kirche akzeptierten großen Lehrern (Thomas von Aquin, die Leuchte des Dominikaner-Ordens, war allerdings nicht darunter) unterwerfen, und auch den päpstlichen Dekreten. Im Sommer 1518 eröffnete Rom den Inquisitionsprozess gegen ihn, wohl mit der flankierenden Anregung des Kurfürsten Albrecht von Mainz, des Hohenzollern, der in Solidarität zu seinem Bruder, dem Kurfürsten von Brandenburg, und zu dessen neuer Universität Stimmung gegen Friedrich den Weisen, den wettinischen Konkurrenten, zu machen versuchte, da dieser Luther gewähren ließ.

Der wurde nach Rom vorgeladen, doch sein Kurfürst setzte es durch, dass er stattdessen kaiserliches Geleit zugesichert bekam und in Augsburg verhört wurde, durch den theologisch versierten Kardinal Cajetan (Tommaso de Vio aus Gaëta, bis 1518 Ordensgeneral der Dominikaner). Cajetan, der in der Theologie des Thomas von Aquin lebte und webte, forderte schlicht Widerruf, während Luther einen „herrschaftsfreien Diskurs“ erwartet hatte. Er machte sich beizeiten aus dem Staube und appellierte „an den besser zu informierenden Papst“. Cajetan verlangte weisungsgemäß von dem Kurfürsten die Auslieferung Luthers, oder zumindest dessen Ausweisung aus Sachsen-Wittenberg. Die Universität erteilte Luther auf Nachfrage Friedrichs des Weisen ein Unbedenklichkeitszeugnis, denn so weit war die Solidarisierung schon gediehen. Also lehnte Friedrich die Auslieferung und Ausweisung ab. Konnte er zugeben, dass seine nagelneue Universität einen Ketzer beherbergte? Luther legte nach, indem er sich nunmehr auf ein zukünftiges Konzil berief. Das roch doch etwas nach der Überordnung des Konzils über den Papst und konnte daher in Rom nicht anders als übel ankommen.

Aber die Kurie hatte zunächst für die Sache wenig Eifer, auch wenn Cajetan dem Kurfürsten gedroht hatte, man werde die Sache nicht fallen lassen. Am 9. November 1518 erging ein päpstliches Dekret, das die Berechtigung des Pontifex zum Ablass aus dem Gnadenschatz der Kirche heraus einfach wiederholte, ohne auf Luthers Gedanken einzugehen. Wie die Dinge in Deutschland mittlerweile standen, war das viel zu wenig.

Doch Leo X. trug Bedacht, den sächsischen Kurfürsten zu schonen. Denn bei der offenkundigen Hinfälligkeit Maximilians I. stand eine Kaiserwahl bevor. Der Papst wollte dabei keinen habsburgischen Sieger, denn in Italien stand bereits das Königreich Neapel unter spanisch-habsburgischer Herrschaft, die auch noch auf das Herzogtum Mailand als altes Reichslehen aspirierte, was den Kirchenstaat derart in die Zange genommen hätte, dass er unter habsburgische Abhängigkeit hätte fallen müssen. Das war ein altes Trauma der Päpste, das in dieser Form schon ihren Kampf gegen Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen bestimmt hatte. Also setzte Leo X. nach dem Tod Maximilians (Januar 1519) auf die Kandidatur des französischen Königs Franz I. (1515 – 1547), und hielt es für klug, Kurfürst Friedrich in Reserve zu halten, um die wahlberechtigten deutschen Kurfürsten dem Hause Habsburg, als dessen Kandidat Karl I. auftrat, König von Spanien, Herr der Niederlande und Enkel Maximilians, abspenstig zu machen. Währenddessen waren Friedrich und dessen Schützling Luther zu schonen.

 

Daraus wurde nichts. Friedrich nahm die insinuierte Kandidatur nicht an, und am 28. Juni 1519 wurde Karl gewählt. Damit fiel für Rom zwar die Schonung des Kurfürsten weg, aber es waren auch lange Monate vergangen, in denen der geschützte „Ketzer“ seine Publikumswirksamkeit in Deutschland noch mehr hatte zur Geltung bringen können.

Wenige Tage nach Karls Wahl, am 4. Juli, disputierte Luther öffentlich in Leipzig mit dem katholischen Theologen Johann Eck über das damals heikelste der kirchenpolitischen Themen: ob der Primat des Papstes aus der Bibel („Du bist Petrus, der Fels …“) hergeleitet werden könne oder ob er spätere menschliche Erfindung sei. Luther negierte die biblische Herleitung und sagte weiter: Die griechische Kirche und deren Kirchenväter, etwa Gregor von Nazianz und Basilius der Große, wüssten nichts vom Primat des Papstes, seien aber niemals zu Ketzern erklärt worden. Eck konterte: Der Primat sei auch von Wiclif und Hus geleugnet, von den Päpsten und den allgemeinen Konzilien, die doch vom Heiligen Geist erleuchtet seien, aber bekräftigt worden. Luther: Unter den Artikeln des Hus, die in Konstanz verdammt worden seien, gebe es auch einige unbedenkliche. Das ärgerte auch den streng katholisch gesonnenen Herzog Georg von der albertinischen Linie der Wettiner (Kurfürst Friedrich gehörte der ernestinischen Linie an), auf dessen Territorium sich Leipzig befand. Luther fragte sogar rhetorisch, womit man beweisen wolle, dass ein Konzil nicht irren könne. Dann durfte er allerdings auch nicht gegen den Papst an ein Konzil appellieren, wie er es nach dem Gespräch mit Kardinal Cajetan verkündet hatte; die hierarchischen Autoritäten waren für ihn abgetan.

Am 16. Juni 1520 erging daraufhin die päpstliche Bannbulle gegen ihn. 41 seiner Sätze wurden darin inkriminiert, falls er nicht innerhalb von 60 Tagen widerrufe, solle die weltliche Gewalt, die seiner habhaft würde, ihn nach Rom ausliefern. Doch die Universität von Wittenberg beschloss, die Bulle nicht zu veröffentlichen, und Kurfürst Friedrich lehnte sie ebenfalls ab.

Im Juni 1520, während in Rom die Bulle erging, hatte Luther seine Abhandlung „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ verfasst, Erstauflage 4000 Exemplare, für damalige Verhältnisse sehr hoch, nach zwei Wochen schon vergriffen. Der Inhalt war revolutionär: Alle Christen seien zum Priesteramt berufen, also nicht nur Schluss mit dem Sakrament der Priesterweihe, sondern generelle Aufhebung der Trennung zwischen Klerus und Laien, dem Lebensgesetz der Amtskirche. Alle waren aufgefordert, „des christlichen Standes Besserung“ in die Hand zu nehmen. Die Christen seien der Obrigkeit unterworfen, die zu ihrer (wegen der Erbsünde erforderlichen) Bändigung das Schwert führe. Die Institution des Papsttums darf mit beschränkten Kompetenzen, also ohne Primat und auch ohne Superiorität über das Kaisertum, bestehen bleiben. Landeskirchen sind zu bilden, die niederen Geistlichen sollen heiraten dürfen. Damit waren die weltlichen Instanzen des Reiches aufgerufen, die Sache Luthers in ihre Hand zu nehmen. So deutete sich bereits 1520 die enge Verbindung zwischen evangelischer Kirche und Staatsgewalt an.

Zweiter publizistischer Schlag, auf Lateinisch, Oktober 1520: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, ein Angriff auf die kirchliche Lehre von den sieben Sakramenten, wobei nur die Taufe, die Buße und die Eucharistie (Abendmahl) übrigblieben, denn nur die seien aus der Heiligen Schrift heraus zu begründen. Nachdem Papst und Konzil nicht mehr als Autoritäten galten, blieb nur noch die Bibel als Quelle der Wahrheit übrig. Diese Art von Zurückgehen „ad fontes“ wurde zu einem starken Appell an religiöse Ernsthaftigkeit.

Dritte Schrift aus demselben Jahr: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, mit der bekannten typisch lutherisch-wirkungsvollen Formulierung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Das bezeichnet eine Trennung des Lebens des Leibes von der Seele und ist daher ein Haupttext der spezifisch deutschen Kultur der Innerlichkeit (der Seele), die die Äußerlichkeit (den „Leib“, das Leben) gering achtet, weil es zum Seelenheil (sola fide!) auf die Innerlichkeit ankommt. Solche inwendige Religiosität hatte es im späten Mittelalter, angeregt von den großen Mystikern deutscher Zunge, prononciert gegeben: Man fasste sie unter dem Begriff der devotio moderna zusammen, der Gläubige huldigten, die mit der Welt in größtmöglichem Frieden leben wollten, um ihrem Lebensideal zu folgen: der Nachahmung und Nachfolge des sanftmütigen Christus. Dazu brauchten sie keine Papstkirche, und Luther hatte Sympathien für ihre Denkweise. Alle drei seiner Schriften bahnten den Weg für die weitere Entfaltung des Luthertums: den politisch-organisatorischen, den theologischen und – sagen wir – den mentalitären.

Mit Rom war auch auf diese Weise endgültig gebrochen. Am Morgen des 10. Dezember 1520 verbrannte Luther auf dem Schindanger vor den Toren von Wittenberg, nachdem die in der Bulle gesetzte Frist von 60 Tagen schon abgelaufen war, eben diese Bulle und päpstliche Dekretalen, Rechtsetzungen, die in Buchform zusammengefasst waren. Am nächsten Tag soll Luther gesagt haben: „Hoch vonnöten wäre es, dass der Papst, d. i. der Römische Stuhl samt allen seinen Lehren und Gräueln, verbrannt würde.“

Es war nun so viel von Luther die Rede, dass die Frage auftauchen mag: Wird hier nicht an einer Heldenlegende der Geistesgeschichte gewoben, nach dem Motto, dass Männer (was einzelne Frauen nicht ausschließen muss) die Geschichte machen? Der reißende Strom, in den sich die reformatorische Bewegung nach 1518 steigerte, ist in der Tat ohne Luther, dessen auch in der Öffentlichkeit wirksame Charakterstärke und konsequente Unbedingtheit, auch ohne dessen stilistisches Talent nicht denkbar. Er ist aber ebenso undenkbar ohne den, in zusammenfassender Verkürzung gesagt, gegen Rom oppositionellen Untergrund der Zeit in Deutschland, sowie ohne die gerade herrschende politische Konjunktur, und auch nicht ohne den neuartigen Buchdruck. Der Genius hatte seine Zeit gefunden, die Zeit ihren Genius. Siehe auch Goethe, Faust II, 1. Akt, Mephistopheles in der kaiserlichen Pfalz: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein …“

Kapitel zwei:
Die Reformation behauptet sich
Kaiser Karl V.

Da Luther nicht widerrufen hatte, wurde er am 3. Januar 1521 exkommuniziert. Kurfürst Friedrich hielt aber weiter zu ihm und setzte sich für ihn auch bei Karl V. ein, dem frisch erwählten „Römischen Kaiser“, wie dieser sich nannte. Am 27. Januar 1521 wurde zu Worms des Kaisers erster Reichstag eröffnet. Karl besaß das Königreich Spanien, das Königreich Neapel und die gesamte habsburgische Erbschaft im Reichsverband: die Niederlande, Luxemburg, die Freigrafschaft Burgund, Länder am Oberrhein und rund um Basel, Tirol, Ober- und Niederösterreich, Steiermark, Kärnten und Krain. Er sprach nur Spanisch und Französisch, Deutsch nicht. Die Erwartungen an ihn waren schier unermesslich. In Spanien wurde er als direkter Nachfolger des politischen Urvaters der abendländischen Christenheit, Karls des Großen, begrüßt. Er würde die westliche und östliche Christenheit wieder vereinigen, damit sich das Wort des Johannes-Evangeliums (10,16) erfülle: „[…] und wird eine Herde und ein Hirte werden“. Sein Mentor und Großkanzler Mercurino Gattinara suggerierte ihm, er habe den Auftrag zur Weltherrschaft, und wies ihm gar die Rolle des Kaisers der Endzeit zu, wie sie in apokalyptischen Visionen des Mittelalters vorgesehen war. Der Tag der Reichstagseröffnung galt als der Todestag Karls des Großen (der starb aber genau am 28. Januar 814).

Was als ein Nachklang des mittelalterlichen Universalismus daherkam, hatte tatsächlich durch die unerhörte Machtansammlung des Hauses Habsburg, die die letzten Jahrzehnte gesehen hatten, eine gewisse neue, materiell unterstützte Plausibilität gewonnen. Außerdem wurden gerade große Teile der von Kolumbus ab 1492 entdeckten „Neuen Welt“ der spanischen Krone unterworfen, mit einem ungeheuren Ertrag an Silber und Gold, der in die europäische Politik investiert werden konnte.

Wir wissen jedoch, dass gerade die Herrschaft Karls V. (bis 1556) das Auseinanderbrechen der westlichen Christenheit brachte. Des Kaisers Bestreben musste es lebenslang sein, dies zu verhindern, denn eine universale Herrschaft brauchte nach damaligem Verständnis eine universale Glaubenseinheit, da die Autoritäten von Kaiser und Papst seit Karl dem Großen eng aufeinander bezogen waren. Die Kaiserwürde war auch eine sakrale Größe. Karl V. hat sich der Sicherung der Glaubenseinheit im Abendland mit großem Bemühen gewidmet, teils politisch taktierend, teils in kriegerischer Aggressivität. Dass er am Ende scheiterte, lag nicht nur an der unbezwingbaren Glaubensstärke der sich immer mehr entfaltenden evangelischen Welt, sondern auch an den vielen Konflikten, die er sich eben dadurch zuzog, dass seine Herrschaftsinteressen fast ganz Europa, das Mittelmeer und den Atlantik umfassten.

Die evangelisch gewordenen Reichsfürsten waren die eine Potenz, die ihm widerstand. Diese war stets in taktischem Zusammenhang mit den beiden anderen mächtigsten Widersachern des Kaisers zu sehen, dem König von Frankreich und dem osmanischen Sultan. Frankreich kämpfte gegen die Umklammerung durch habsburgische Territorien, die Sultane waren sich tendenziell die Welteroberung schuldig, und neben der Wahrung der Glaubenseinheit bestand die heiligste Pflicht des Kaisers darin, die Christenheit gegen den Ansturm der „Ungläubigen“ zu schützen. Karl trug über alle drei Siege davon, aber sie blieben stark genug, um die Revanche nicht aufzugeben und ihn dadurch zu hindern, die Idee von der Universalherrschaft mit praktischem Leben zu erfüllen.