Gustave Flaubert: Goldenes Meer

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Gustave Flaubert: Goldenes Meer
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Bernd Oei

Gustave Flaubert: Goldenes Meer

Grenzgänger zwischen Philosophie und Poesie, Band 3

Bernd Oei

Gustave Flaubert

Das goldene Meer

Literaturwissenschaft

„Wenn ich lebe, bin ich nur Narr, wenn ich schreibe, bin ich ein Gott.“

Flaubert an Sand, September, 1869

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Bernd Oei

Umschlag: © 2021Copyright by Belinda Helmert

Verantwortlich

für den Inhalt: Bernd Oei

Malerstr. 63

28207 Bremen

kontakt@berndoei.de

Inhalt

Prolog: Versuch einer Annäherung 7

I. Flaubert und seine Zeit 10

I. 1. Ein Grenzgänger – Analogien zu Camus 10

I. 2. Sartre: Flaubert - der Idiot der Familie 16

I. 3. Nietzsches Flaubert-Rezeption 27

II. Der Schriftsteller Flaubert 36

II. 1. Das Herz eines Irren – Mémoires d´un fou 36

II. 2. Flaubertismus 48

II. 3. Briefwechsel mit Louise Colet 56

II. 4. Briefwechsel mit George Sand 69

II. 5. Briefwechsel mit Iwan Turgenjew 78

III. Flauberts Romane 90

III. 1. Die Schule des Herzens 90

III. 2. Madame Bovary 108

III. 3. Salambô - Die Orientreisen 147

III. 4. Die Erziehung des Gefühls 170

III. 5.Die Versuchung des Heiligen Antonius 212

III. 6. Bouvard und Pécuchet 236

IV. Erzählungen : Trois Contes 268

IV. 1. Ein schlichtes Herz 268

IV. 2. Die Legende vom Heiligem Julian 287

IV. 3. Herodias 296

Epilog 317

Literaturverzeichnis 320

1 Prolog: Versuch einer Annäherung

Zu den Grenzgängern zwischen philosophischen Anspruch und poetischer Verarbeitung zählt zweifellos der vielleicht größte Stilist des 19. Jahrhunderts, Gustave Flaubert. Mit seinem Stil wird eine künstlerische Reaktion auf die Märzrevolution ersichtlich, ein autopoietisches Konzept der Moderne, das unter dem Phänomen der Tod des Autors1(Blanchot) eine neue Rezeptionsästhetik begründet. Exemplarisch veranschaulicht dies „Bouvard und Pécuchet“, ein philosophisches Experiment, das die zeitgenössische Wissenschaft belletristisch verarbeitet und hinterfragt. Die omnipräsente Stellung der Desillusionierung als Leitmotiv Flauberts ́ wirft erkenntnistheoretische Fragen auf und führt ihn über die phänomenologische Methode zum Genre des philosophischen Romans, der als Vorbild u.a. für Proust, Malraux und Camus diente.

Kaum ein Schriftsteller investiert mit ähnlich viel Aufwand Recherchen für einen Roman. Echt zu sein ging Flaubert über alles. Beispiellos erscheint die Akribie für einen perfekten Satz. Obschon Flaubert keinem Beruf nachging, schrieb er ein verhältnismäßig überschaubares Werk, klein gegenüber denen von Balzac, Zola oder Hugo, das allerdings seinen Fingerabdruck hinterließ. Für die meisten seiner Werke benötigte er durchschnittlich sieben Jahre.

Auf das Publikum bzw. seinen Geschmack verzichtete Flaubert freiwillig. Er sah sich allein dem Anspruch seiner Ästhetik verpflichtet und wirkte in diesem Sinn als erster Prophet der l´art pour l´art, zeitgleich mit seinem lyrischen Pendant Baudelaire, mit dem ihm nicht nur ein Prozess um die Sittenwidrigkeit ihrer Literatur und eine lose Freundschaft verband, sondern vor allem die gleiche ästhetische Gesinnung, die das Tor der literarischen Moderne aufstieß.

Die zwei Orientreisen für „Salambô“ und die lange Genesis des Ehedramas und Sittengemäldes „Madame Bovary“ verdeutlichen den Bildungsaufwand und die Vielzahl an Querverweisen auf den Kanon der Poesie und Philosophie.

Der Roman „Die Erziehung des Herzens“ zeigt, wie sehr die politischen Umstände das Konzept des Schreibens verändern und die Form der Karikatur zeitigen. Das mehrfach umgestaltete Lesedrama „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ als Flauberts persönliches Lebensthema bewegt sich im Grenzbereich von poetischem, religiösem und philosophischem Diskurs: ohne entsprechende Vorkenntnisse bleibt sie unverständlich.2 Paradigmatisch steht der Antonius für ein eigenes Genre: das handlungsarme Drama, dessen Leitmotiv die Kraft der Illusion an sich ist. Für genau das hält Flaubert auch die Religion: eine kreative vergoldete Blase.

Der Großteil der Arbeit beruht auf textinterner Werkinterpretation, ergänzt durch biografisches Material (Briefe und Tagebuchnotizen), hauptsächlich in seiner Korrespondenz mit Sand3, Colet und Turgenjew. Die Romane bieten Vergleiche an mit seinen Vorgängern Stendhal und Balzac und seinen Nachfolgern Zola Maupassant und Roth.

Nietzsche sprach vom Fruchtbarwerden des Hasses auf die Bourgeoisie, der nicht konstruktiv zu werden vermag.4 Thomas Mann unterschied prinzipiell Romane, die etwas über das Leben des Autors aussagen, weil sie vorwiegend von Selbstdarstellung getragen sind, von jenen, die wenig über den Autor verraten und stattdessen ein Kaleidoskop der Zeit sind, wozu er Flaubert zählte.

„Moderne“ ist eine unpräzise Terminologie; paradoxerweise fühlten sich ihre wichtigsten Vertreter nicht wohl in ihr und müssten daher als Kritiker der Moderne bezeichnet werden, zumal Flaubert zu konservativen Ansichten neigte, obgleich er stilistisch mit zahlreichen Tabus brach. Seine immer wieder zitierte Selbstaussage: Madame Bovary c´est moi entbehrt nicht der tragischen Ironie, da ihr Schöpfer ein erklärter Feind der Emanzipation war und Sentimentalität verachtete. Begrifflich aber steht seine Literatur zwischen dem Realismus Balzacs, dem Psychologismus Stendhals und dem Naturalismus Zolas. Daher hat man, hierin Kafka vergleichbar, einen eigenen Gattungsbegriff erfunden: den Flaubertismus. Denn der Traum spielt die dominante Rolle in seiner Kunst und er währt mitunter über seine Entzauberung hinaus.

Zu den prägenden Begegnungen Flauberts, die ihn träumen ließen, gehörte auch Elisa Foucault (Madame Schlésinger), die als Frauenideal wesensbestimmend und leitmotivisch sein gesamtes Werk bestimmte, indem sie die innere Realität des Autoren besetzte. Illusionen erweisen sich in seinem Werk als realer und dauerhafter als die objektive Wirklichkeit. Flaubert: „Man muß sich daran gewöhnen, in den Menschen um uns herum nur Bücher zu sehen.“5

Zu den Grenzgängern zwischen Philosophie und Literatur gehört auch Rilke, der sich zu Flaubert bekannte: „Sie lesen Balzac. Ich habe mich immer an Flaubert gehalten. So las ich eine wunderbare frischere Fassung der Education Sentimentale, die mit dem späteren Roman kaum etwas gemein hat... unbesonnenes Herzwesen kommt darin nur in köstlicher Übersetzung vor.“6 Dem Zitat ist zu entnehmen, dass Rilke beide Versionen von „Die Erziehung des Gefühls“ kannte: um die Versionen leichter unterscheidbar zu machen, wird die erste Version „Die Erziehung des Herzens“ tituliert.

Wie für alle großen Stilisten gilt: Flaubert zu übersetzen ist nahezu unmöglich, seine Virtuosität geht immer verloren. Flaubert selbst rezipierte - vorwiegend antike Literatur - im Original, weil er um den substanziellen Einfluss der Grammatik wusste. Lesen bedeutet ihm, „Literatur machen“. Walter Benjamin sah sich durch seine Übersetzung Prousts zur Auseinandersetzung mit Flaubert genötigt; er merkte in seinen „Literarischen Notizen“ an, Flaubert habe neben Baudelaire das Konzept des Flaneurs und Voyeurs wie kein anderer umgesetzt und die „Verwichenheit der Naivität“ von dem Autoren genommen. Analog kommentierte Theodor Adorno, Flaubert wäre von „unverwelkter Aktualität“. Sartre unterschied in den Dienst der konkreten Veränderung der Gesellschaft stellen (littérature engagée) von jener Flauberts indifferenten Haltung (littérature desengagée), die sich in purem Ästhetizismus verliere und ohne gesellschaftlichen Wert bleibe, im Gegensatz zu Victor Hugo.

Sartre irrte, denn mit Flaubert setzte ein Bewusstsein dafür ein, dass sie sich keinesfalls ideologisieren lassen dürfe. Hugo schreibt über die Wissenschaft, Flaubert, der ihn einen Dilettanten heißt, schreibt mit wissenschaftlicher Akribie. Hugo macht Verlag und Verleger und dem Publikum zuliebe zahlreiche Kompromisse - Flaubert weigert sich, nur einen Satz für den Erfolg zu ändern - „nicht ein Komma“, schreibt er seinem Verleger Michel Lévy. Für die Autonomie der Kunst nimmt er Scheitern billigend in Kauf: eine solche Haltung ist politisch, auch wenn sie keine Partei ergreift.

Die vorliegende Monografie beginnt mit den historischen. politischen und biografischen Rahmen für die Kunst des Romanciers; dem sich die Kritiken Nietzsches und Sartres anschließen. Sie führt zur Interpretationen seiner sechs Romane, komplettiert durch drei Erzählungen. Jedes Werk wird mit mindestens einem anderen verglichen. Kommentare Flauberts aus seiner Briefkultur bringen eine weitere Facette Flauberts zum Vorschein.

1 I. Flaubert und seine Zeit

1 I. 1. Ein Grenzgänger – Analogien zu Camus

Grenzgänger zwischen den Epochen und fernab von Klischees „müssen ankämpfen gegen die neurotische Furcht, nicht perfekt zu sein – erinnern Sie sich an Flaubert, der seine Salambô mit neun Jahre Studium verdarb. Geschichte kann man nie genau reproduzieren-wer weiß denn die Wahrheit – wir müssen sie erfinden.“7 Stefan Zweigs Zitat verrät drei Elemente des Flaubertisme: das akribische Arbeiten, das neurotische Streben nach Vollkommenheit im Stil und den Zwang, es nächstes Mal besser zu sagen. Zweig, für den Balzac das Maß aller Dinge unter den französischen Romanciers beinhaltet, unterteilt in seinen drei Monografien über jeweils drei literarische „Baumeister der Welt“ in dämonisch-mephistophelische und faustisch-tellurische Figuren; dabei stellt er eine dionysische Grundhaltung bei Flaubert fest, die ihn in Nähe von, Kleist, Dostojewski, Hölderlin und Nietzsche rückt. Einen „kalten Romantiker“ heißt ihn Camus.

 

Zweig wird wie Rilke oder die Mannbrüder in jene Zeit der Moderne und des Realismus hineingeboren, die in Flauberts Werken gründet. Im Mittelpunkt seines Realismus steht nicht äußere Erfahrung, sondern das innere Erlebnis. Das Ringen um den wahrhaftigen Ausdruck seelischer Vorgänge tritt an die Stelle der Gesellschaftsbeschreibung und ihrer Veränderung.

Flauberts Grenzgänger-Persönlichkeit ist gespalten in einen melancholisch träumerisch veranlagten Teil und einen kulturkritischen Visionär, der „die Geschichte der Kunst als die des Fortschritts ihrer Autonomie begreift“ und Illusionstechnik induziert : „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft."8 Er destruiert die Kulturindustrie und deren Behaglichkeit.

Flaubert lebt in der Industrialisierung; Telegrafen und Fotografen revolutionieren die Welt, die Eisenbahn verdrängt das Pferd. Raum und Zeit wachsen ineinander; das Gesicht Paris wandelt sich während der Hausmannisierung unter Napoleon III, so dass es der aus dem Exil zurückgekehrte Hugo nicht wiedererkennt. Ein Leitmotiv Flauberts bildet die zunehmende Entfremdung durch schrumpfende Entfernung, das Auseinanderklaffen von Lebenszeit und historischem Bewusstsein, die perspektivische Verlangsamung der Zeit durch rasende Beschleunigung. Mit Hegel und Hurra oder Glanz und Gloria zieht man in Kriege und erobert Kolonien, weil alles machbar ist und darum auch erlaubt erscheint. Nationen ersetzen Reiche, Erfindungen zerstören Traditionen. Kein Gebäude, keine Institution bleibt vom Wandel verschont. Soziale Brennpunkte führen zu Massenaufständen in Frankreich im Namen der Freiheit, doch was progressiv beginnt, endet in Restriktion und Restauration. Flaubert erkennt den Zusammenhang von Massengesellschaft, Massenvernichtung und Massenmobilität. Gegen so viel Realitätssinn setzt er die Einbildungskraft: „Imaginieren genügt, damit der die erträumte Gestalt sich vage verzehrt.“9

Bataille untersucht in seinem Werk die Wechselwirkung von Traum, Fantasie und Utopie. Er sieht in Flauberts Poesie den einzigen Weg zur Wiederherstellung des verlorenen Glücks: „In der Glückseligkeit der inneren Bewegungen ist die Existenz im Gleichgewicht. Das Glück verliert sich in der atemlosen, lange vergeblichen Suche nach dem Objekt.“ Das Sein ist nirgendwo und gleichzeitig überall und jederzeit. „Die Erfahrung erreicht schließlich die Verschmelzung von Objekt und Subjekt, indem sie als Subjekt Nichtwissen ist, als Objekt das Unbekannte.“ Flauberts Helden handeln passiv und fatalistisch, doch gleichen sie mehr Sisyphos als Prometheus. Nicht zu handeln muss nicht Aufgabe oder Gleichgültigkeit bedeuten, sondern Skepsis gegenüber der Fortschrittsideologie. Camus ist der optimistische Skeptiker, Flaubert der Misanthrop.

Camus' Maxime: „Ich bin, also empöre ich mich, aber wir sind allein10 trifft auch auf Flaubert zu. Daher nimmt der Gedanke der Erziehung des Herzens einen großen Raum in ihrer beider Literatur ein. Das Herz wird zur terra incognita als die unbekannte, verdrängte oder unbewusste Natur unseres Wesens. Sie zu erforschen ist nur über den Umweg der Beobachtung und des Selbstexperiments möglich, um die Einstellung zu verändern und polymorph zu gestalten. Drei Wege stehen zur Wahl: Mit dem Floß lässt man sich treiben, bleibt den Kräften der Natur ausgeliefert. Mit dem Segelschiff lernt man, auf Umwegen, doch mit Einflussnahme ans Ziel zu gelangen. Mit dem Motorboot gelangt man linear ans Ziel, entwickelt sich dabei aber nicht. Dialektik des Stillstands.

Nicht zufällig findet Flaubert im Maghreb, in der Wüste, seine ideale Landkarte (mind map). Das Licht ist seit der Antike Metapher für Erkenntnis, die Wüste die Geburtsstätte aller großen Weltreligionen, äußere Armut sieht sich häufig mit innerem Reichtum verbunden. Die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf Glück und Freiheit wird als Les Lumières bezeichnet. Camus und Flaubert beschreiben, wie das Licht die Vernunft den Menschen blendet, wie die Hoffnung täuscht, die Freiheit verkommt. Sein, Haben und Vorstellung machen den Unterschied.

Auf beide Autoren trifft Schopenhauers Aphorismus zu: „Der Mensch gleicht einem wilden Tier. Wir kennen ihn bisweilen nur im domestizierten Zustand.11

Was Flaubert das „paradoxe Schreiben“ heißt, weil die Erkenntnis erst Leiden erzeugt, nennt Camus das „Aushalten des Absurden“. Die Veränderbarkeit betrifft allein die innere Wirklichkeit, die Pascal als die Vernunft des Herzens bezeichnet. Man erreicht nie ans Ziel, aber man gelangt auf einen Weg. Für die wahre Erkenntnis wird Täuschung notwendig und der Irrtum erweist sich als die tiefere Wahrheit. Die Geschichte stilisiert häufig den Weisen (den Einäugigen unter den Blinden) zum Außenseiter. Flaubert ist ein Prophet ohne Lehre und konventionelle Moral. Die äußere Erscheinung trügt; dieselbe Erkenntnis vermag zu zerstören oder gebiert neues Leben. Er zwingt sich zu einer vorurteilsfreien Betrachtung und konfrontiert unablässig verklärende Romantik mit pragmatischer Sachlichkeit und unitaristischer Nüchternheit. Die Bewertung überlässt er dem Leser, nur so verbleibt die Reflexion rein. In seinen Tagebüchern und Briefkorrespondenzen dagegen kehrt er nostalgische oder sentimentale Seite hervor.

Das Absurde, so Camus besteht darin, mit logischen Mitteln die Irrationalität zu erforschen. Ein Gefühl der Ohnmacht ist beiden Autoren zu eigen. Zwei Willensformen, reduziert auf den zum Schein (Illusion) und zur Wahrheit (Desillusionierung) ringen miteinander. Dies führt zu einem Konzept der Täuschung, verbunden mit der Negation des Ideals. Für Flaubert liegt in einem Ideal wie Freiheit keineswegs Befreiung vor, sondern das Gegenteil, die Enttäuschung. Die Sehnsucht nach Einsamkeit ist gleichzeitig ein Erbe der Romantik (Kult des Genies und des Individuums) als auch real erlebter Kränkungen. Das Auseinandertreten von biografischen und künstlerischem Selbstentwurf ist unausweichlich: Schreiben ist nur in der Einsamkeit möglich.

Etwa hundert Jahre nach Flaubert erlebt Camus die dreifache historische Desillusionierung einer großen Idee (der Gerechtigkeit) und eines Ideals (der Freiheit) im Kommunismus, im Humanismus und im Existenzialismus. Die Tyrannen siegen, der Krieg hat das letzte Wort, seine Heimat versinkt im Terrorismus. Unentwegt solidarisiert er sich der Seite der Verlierer. Wie Flaubert während der Pariser Commune erlebt er ein okkupiertes Paris unter Deutschen, fühlt er sich als Chronist des Niedergangs, spürt den Verlust menschlicher Werte, wird zum Kritiker unbequemer Wahrheiten, ringt um den Wert von Freundschaft und ist tief bestürzt von dem politischen Verrat an seiner Generation. Camus und Flaubert verbindet die Ablehnung aller Dogmen und Vulgarität.

Bezüglich ihrer Ästhetik finden sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede. „Kunst ist eine Bewegung, die gleichzeitig bejaht und verneint ... eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichkeit.12

In „Kunst und Revolte“ bezeichnet Camus den Schriftsteller als Revolutionär und Schöpfer, der vor allem dem Stil und der Glaubwürdigkeit gegenüber verpflichtet ist: „In der Kunst, sagt Flaubert, soll man die Übertreibung nicht fürchten. Aber er fügt hinzu, die Übertreibung müsse stetig und im Verhältnis zu sich selbst sein. Wenn die Stilisierung übertrieben ist und sichtbar wird, ist das Werk reine Sehnsucht: die Einheit, die sie zu gewinnen sucht, ist dem Konkreten fremd. Wenn die Realität dagegen im Rohzustand geliefert wird und die Stilisierung unbedeutend ist, wird das Konkrete ohne Einheit dargeboten. Die hohe Kunst, der Stil, das wahre Gesicht der Revolte liegt zwischen diesen beiden Ketzereien.“

Der Widerspruch liegt darin, dass der Mensch die Welt ablehnt, aber nicht zurückweist, so dass er, wenn er sich empört und damit revoltiert, sich zur Stimme dessen macht, was gesagt und gehört werden muss und damit zum Anwalt der Gerechtigkeit. Er darf niemals die Gegner mit den gleichen Waffen der Gewalt unterdrücken, dem Ressentiment erliegen. Camus sieht in Flaubert einen expressiven „van Gogh der Sprache“. Einen Künstler, der den Schöpfer nicht nach der Welt beurteilt, die er hinterlassen hat, sondern nach jener Sphäre des Möglichen und des Traums. Ein „Rembrandt, der zwischen Schatten und Licht“ steht und diese Dissonanz für sich künstlerisch gestaltend zu nutzen versteht. In „Die Heilige Versuchung des Antonius“ liegen drei Aspekte zugrunde: Die Hölle ist die stete Versuchung des Schriftstellers, weil das Schöne die Moral nicht kennt. Doch diese Hölle des inneren Exils, der Verbannung, währt nur kurz. Nicht die Qual am Bewusstsein, sondern die Qual am Selbst ist die wahre Hölle menschlicher Existenz, denn sie inkludiert die Unfähigkeit zu lieben. Die Negation der politischen und historischen Epoche des Nihilismus führt dazu, dass er an nichts mehr glaubt und sich für nichts engagiert.

Der zweite Aspekt besteht in der Diskontinuität; wer sich selbst treu bleiben will, muss sich beständig wandeln, doch zumeist obsiegt die permanente Selbstverleugnung. Bei Flaubert wird deutlich: Die Kunst der Imagination tritt an die Stelle der Religion und des allwissenden Gottes. Sicherheit verkommt zur Zerstreuung und zur Zerfallenheit, doch in der Kunst vollzieht sich Neugeburt des Menschlichen. „Wer die Küste ablehnt, muss doch mit dem Meer übereinstimmen.“ Auf jede Negation folgt eine neue Affirmation, auf den Tod Gottes ein neuer Götze. Die Kunst, so Camus, tritt in Wettstreit zu Gott.

Es ist kein Zufall, dass Flauberts intensivste Freundschaft Turgenjew gilt. Beider Kritik entzündet sich am Nihilismus, den die Wissenschaften auslösen. Obgleich Flaubert erkennt, dass Kultur nur dort möglich ist, wo der Nihilismus überwunden wird, bleibt er im eigenen Ressentiment gefangen. Besonders deutlich macht dies die Figur des Homais aus „Madame Bovary“ – weil der Apotheker in seiner maßlosen Vergottung des Wissens sich am Menschen vergreift und ohne es zu merken zum philisterhaften Esel wird. Sein vergoldetes Messingschild und der amputierte Gehilfe erscheinen als symbolische Absage an den Szientismus, dem Flaubert doch selbst unterliegt.

Politisch kann Flaubert die Wunden der gescheiterten Märzrevolution nie verschmerzen, während Camus´ Widerstand nicht erlahmt. Weder zieht sich nicht in die Isolation zurück, noch resigniert er und öffnet sich dem Neuen, während sich Flaubert dem kategorisch verschließt.

Flauberts´ größter Feind, die Langeweile ist ein Symptom der zunehmenden Dekadenz des Bürgertums im späten 19.Jahrhunderts. Camus´ inneres Exil bleibt fruchtbar, weil er trotz aller Enttäuschung immer den Dialog sucht und weil der Atheist Gott leugnet, niemals aber die Schöpfung, den Zauber der Natur. Der Katholik Flaubert, invers, glaubt an Gott, aber nicht an seine Schöpfung; der Mensch ist nur Makel oder Irrtum für ihn. Hinter allem steht mangelnde Selbstannahme und Selbstwertgefühl, die méchant, die bösartig macht und keine Lösungen mehr sucht, sondern nur Auswege. Während Flaubert den Menschen samt seiner Zukunft auf-und preisgibt, demzufolge in Pessimismus verfällt, nutzt Camus seine Skepsis, um mit dem Absurden, das sich aus der Welt nicht tilgen lässt, umzugehen. Er erkennt die Krisis als Chance zur Umkehr, nimmt die Katastrophe wörtlich als Umkehr hin zu eine, wie er es nennt, mediterranen Denken. Solche Inseln des Glücks kennt Flaubert nicht. Ein Satz wie „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“ kommt Flaubert nicht über die Lippen. Stattdessen formuliert er: „Es gibt Momente, … in denen ich getrost zusehen kann, wie die Menschheit untergeht.“13

1 I. 2. Sartre: Flaubert - der Idiot der Familie

Es muss überraschen, dass die detaillierteste Monografie über Flaubert von seinem Kritiker Sartre stammt, die sich auch in ihrem provokanten Titel niederschlägt. In seine fünfbändigen Studie, auf dreitausend Seiten „Flaubert-der Idiot der Familie“, schreibt Sartre im Sinn des historischen dialektischen Materialismus, er könne einen Autoren nur verstehen, wenn er alles über seine Zeit und die ihn prägenden Umstände wisse und bezeichnet dies als Totalisierung des Objekts. Als Summe aller ablaufenden Handlungen und prozessualer Verlauf der Bewusstwerdung „So ist also Dialektik totalisierende Aktivität ... als Einheit der totalisierenden Handlung, welche alle Prozesse einschließt, welche diese Handlung ermöglichen und bedingen und begrenzen.“ 14

 

Bereits in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ äußert sich Sartre zum Fall Flaubert: „Madame Bovary erklärt Flaubert und nicht umgekehrt.“ Der Schriftsteller wird zur Projektionsfläche einer Selbstinszenierung und Fallbeispiel für einen gescheiterten Lebensentwurf. „Der Mensch ist niemals ein Individuum, sondern ein Allgemeines von seiner Epoche totalisiertes Wesen.“ Flaubert ist anti-hegelianischer „Schöpfer des modernen Romans ... am Kreuzpunkt aller heutigen literarischen Probleme.“

Sartre macht, wie auch in seiner Studie über Baudelaire, die extrem unglückliche Kindheit Flauberts verantwortlich für seinen Trotz und infantile Sturheit. Die Ablehnung des Vaters und Lieblosigkeit der Mutter prägen nicht nur seine Kindheit, sondern auch seinen missgünstigen Blick auf die Menschen. Sartre zentriert die Angst vor dem Wahnsinn als Ausgangspunkt für Flauberts wiederkehrende Selbstmordfantasien, die bis ins hohe Alter anhalten. Geprägt von Inferioritäts-und Minderwertigkeitsgefühlen, in den Augen seiner Familie nur der idiotische Versager und Stotterer zu sein, verkörpert Flaubert laut Sartre – angelehnt an la servitude volontaire den freiwilligen passiven Gehorsam, wie bei einem Sklaven, der sich nicht gegen seinen Herren empört. Indem er seinen Vater nicht anerkennt, verleugnet er zugleich sich selbst. In dieser doppelt negativen Negation hat Leiden Sinn und totalen Unterwerfung wird zum Selbsterhaltungstrieb. Flaubert will, sein Subjekt (das Ich des Kindes) durch Aneignung des Objekts (die Eltern) wiedergewinnen. Wenn Zustimmung und Revolte, wie in seinem Fall gleichermaßen unmöglich sind, bleibt die Unselbständigkeit zurück.

Gehorsam ist für Sartre zugleich Nicht-Sein der eigenen, verweigerten Existenz und Sein in Form von Selbstbestimmung, welche auf sich genommen wird und gesteigert in das Verlangen nach Selbstmord führt. Der Theorie nach nährt die Romantik diesen Trieb bzw. die Sehnsucht nach Auslöschung des Ichs. In seinem Frühwerk, exemplarisch in „Das Herz eines Irren“ thematisiert Flaubert den Freitod und auch „Die Verführung des Heiligen Antonius“ (drei Fassungen) inkludiert ihn in einer Version. Der imaginäre Suizid stellt die Kulmination der Zerstörung dar und diese ist nur die Folge einer negativen Schöpfung. Da jede Negation eine Affirmation voraussetzt hätte es aktiven Widerstands bedurft, um engagierte Kunst zu erzeugen.

Flaubert macht die Erfahrung, sein Traum als auch die Poesie bleiben von der Herrschaft ausgespart. Der Rückzug ins Innere wird so zu seinem übersteigerten Raum der Freiheit. „Auf dem Umweg eines möglichen Selbstmordes gewinnt das Kind seine Existenz aus sich selbst.“15 Suizidfantasien transformieren sich mit der Zeit in sexuelle Unterwerfung, die sich in lethargischen männlichen Protagonisten und dominanten Frauentypen widerspiegelt Flaubert, der „ständig von der Revolte träumt“, schiebt sie durch seine Passivität nur auf.

Die Erlösung folgt durch die unheilbare Krankheit der Epilepsie; das traumatisierte Individuum flüchtet sich in diese Krankheit. In der autobiographisch gefärbten Erzählung „November“, fallen Sätze wie: „Er dachte einen Augenblick daran, ob er nicht Schluss machen sollte“ Flaubert transformiert seine Selbstentfremdung in eine „unaufrichtige Unterwerfung“; er kokettiert mit dem Suizid als eine Freiheit, an die er im Grunde gar nicht glaubt. Für Sartre gefällt er sich wie viele von der Februar-Revolution Enttäuschte in der Rolle des Opfers,

Der Hass auf das Bürgertum ist folglich Selbsthass mit einem Vaterkonflikt als biografische Beigabe. Durch Verzichtet auf alles, was dem Vater gefallen würde, schadet sich der junge Autor selbst und bleibt trotz seines Künstlertums ein Bourgeois. Er verwirft sozialen Aufstieg, Karriere, Engagement, doch nur, um sich zu Hause zu langweilen: „Außerhalb des Familienentwurfs, in dem er sich entfremdet hat, gibt es bei Gustave keinen wirklichen primären Entwurf, er verweigert sich ... er ist einfach krank, faul und projiziert sich nur noch im Schreiben.“ Die Folgen sind Fatalismus und Abwertung der anderen, auf die Flaubert stets als Dilettanten herabschaut. Dabei verurteilt er sich zur Passivität. Mit Sätzen wie: „Ich bin nicht geschaffen um zu leben“ entwirft sich der Zwanzigjährige negativ, d.h. als machtlos gegenüber seinem stets wachsenden Unglück, das er selbst nährt. Dabei entsteht eine weibliche, an Madame Bovary erinnernde Grundhaltung, „alles bis zum Schlimmsten zu durchleiden“ und somit aus der Schwäche eine Tugend zu machen.

Hinter seiner Passion für das Altgriechische und Latein und der Weigerung, Shakespeare zu lesen, steht die Faszination der Ananke; Flauberts Kult, alles schicksalhaft und zwanghaft zu erleben. Dass er Momente der Erinnerung einfriert und alles vermeidet, um diese zu überprüfen oder etwas zu wagen scheint eindeutig, denn die erschaffene Traumwelt zeitigt keine Helden, sondern im Grunde nur Narren und Träumer, was für Sartre auf dasselbe hinausläuft. Hinter dem sich das Bedürfnis nach Ohnmacht verbirgt. Die Faszination für Okkultismus (Ägyptologie, Swedenborg) zeitigt einen bizarren Synkretismus mit der bereits jugendlich rezipierten Antike und Katholizismus.

Ein Hang zur Transsexualität die Frauenrolle, weil er sich mit ihrer unterdrückten Art und devoten Rolle identifiziert. Bereits seine erste Frauenfigur Marguerite in der Erzählung „Un parfum à sentir“ (1836), das noch im romantischen Stil gehalten ist und nichts von seiner Originalität verrät, spielt, wie der Titel verrät, mit der Doppeldeutigkeit der Sprache: sentir inkludiert riechen, empfinden, erinnern – der Duft amalgiert die drei Tätigkeiten, die allesamt rezeptiv sind. Die Handlung nimmt Madame Bovary vorweg: eine unglückliche Frau verliert sich zunehmend in einer Traumwelt, am Ende begeht sie Suizid.

Die Eigenschaften (plump, hässlich, voller Angst und Lebensekel) spricht er sich selbst zu. Sartres Maxime lautet: „Man muß handeln, um zu sein“; Flauberts könnte lauten: „Man muss träumen, um zu vergessen, wer man ist.“ „Diese gefestigten Träume ersetzten die unmögliche Revolte: er stillte in ihnen irreal seine sexuellen Triebe.“ 16 Flauberts künstlerisches Sendungsbewusstsein fordert die totale Identifikation mit der Kunst und das religiöse Opfer an sie.

Nach dem Balbutismus stellt sich im Alter von 22 Jahren Epilepsie ein, die Flaubert in reiferen Jahren voraussehen und sogar beeinflussen kann. Die Krankheit gewährt ihm alle Freiheiten. „Diederich Heßling ist ein ängstliches und sensibles Kind, das dennoch seine ebenso zarte Mutter für ihre Schwäche verachtet.“ Der erste Satz aus Heinrich Manns „Der Untertan“ könnte nicht treffender Flaubert portraitieren, dessen betont männliches Auftreten auf Imponiergehabe und Kompensations-Aggressivität hinausläuft. Dies gilt auch für seinen kultivierten Hass auf die Bourgeoisie als Spießertum, das er doch selbst in Vollendung praktiziert: „An die Stelle der Dialektik von Haben und Sein wird er die Frage von Sein und Tun setzen.“

Flaubert wählt bevorzugt Passivkonstruktionen: „sich schreiben lassen“ anstelle von lesen oder „sich arbeiten lassen“, wenn er das Gelesene reproduziert. Äußerlich bildet der Orient, innerlich der weibliche Eros das Zentrum seiner Idealisierung, die zugleich eine Illusion von der makellosen Schönheit ist. Man liebt nur, woran man leidet, schreibt Flaubert und Makellosigkeit liefert eine unstillbare Sehnsucht, traurig wie eine glückliche Erinnerung.

Die Rezeption von 27 historischen Studien zu „Salambô“ steht in keinem Verhältnis zu den Recherchen eines Romanciers über seinen Stoff. Sartre hält Flaubert für einen notorischen Sammler, der nach Vollkommenheit strebt. Was Hegel in der Vernunft verabsolutiert und Marx im Kapital wird für den Schriftsteller aus Rouen die Kunst der Improvisation auf der Basis von Wissenschaft. Bestes Beispiel für die Engführung von Fantasie und akribischer Suche des Details liefert seine Begegnung mit Elisa Foucault, der Frau seines Lebens, der vielleicht einzigen, die er liebt. Flaubert lebt, um von ihr zu träumen und sich an sie zu erinnern, nicht, um mit ihr zu leben oder um sie zu kämpfen. Elisa Schlésinger bleibt nur im Traum oder im Verzicht auf ein gemeinsames Glück Quelle für Inspiration. Flaubert gesteht seinem Intimus Maxime du Camp, „daß er sie nicht liebte, solange sie seine Träume in makelloser Schönheit durch ihre lästige Gegenwart störte.“ Die reale Liebe erscheint ihm banal.