Franz Kafka

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Franz Kafka
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Bernd Oei

Franz Kafka: Mein Leben ist Zögern vor der Geburt

Grenzgänger zwischen Philosophie und Poesie

Bernd Oei

Franz Kafka

Mein Leben ist Zögern vor der Geburt

Literaturwissenschaft

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Bernd Helmert

Umschlag: © 2021 Copyright by Belinda Helmert

Verantwortlich

für den Inhalt: Bernd Oei

Malerstr. 63

28207 Bremen

kontakt@berndoei.de

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

Prolog 7

I. Biografie oder Leben am Abgrund 10

I. 1. Vor dem Ausbruch der Krankheit 10

I. 2. Die gelöste Verlobung 15

I. 3. Fieberträume oder die Agonie des Verstummens 19

I. 4. Das Vater - Sohn Verhältnis 21

I. 5. Die Frauen Kafkas 28

I. 6. Das literarische Umfeld (Prager Kreis) 35

I. 7. Die Rolle des Judentums 38

I. 8. Gleichnischarakter von Tieren 43

II. Tagebücher 46

II. 1. Selbstinterpretation 46

II. 1. 2. Schreiben als physischer Prozess und Reinigung 48

II. 3. Der Kampf um Gott mit Pascal 52

II. 4. Selbstgespräche 53

II. 5. Träume 58

II. 6. Verwandlung in Zeit-und Raum 60

III. Komparatistik mit Zeitgenossen 64

III. 1. Robert Walser, „Jakob von Gunten“ 64

III. 2. Ernst Weiß, „Die Galeere“ 69

III. 3. Franz Werfel, „Der Abituriententag“ 72

IV. Komparatistik mit Vorläufern 76

IV. 1. Heinrich von Kleist 76

IV. 2. Sören Kierkegaard 83

V. 3. Friedrich Nietzsche 94

IV. 4. E. T. A. Hoffmann 101

V. Philosophische Stimmen 116

V. 1. Albert Camus 116

V. 2. Dieter Leisegang 118

V. 3. Walter Benjamin 122

V. 4. Theodor Adorno 126

V. 5. Hannah Arendt 131

V. 6. Martin Heidegger 134

V. 7. Jaques Derrida 138

V. 8. Jean Francois Lyotard 140

V. 9. Gilles Deleuze 142

V. 10. Michel Foucault 143

V. 11. Roland Barthes 144

V. 12. Georges Bataille 148

V. 13. Maurcie Blanchot 149

VI. Romane 153

VI. 1. Amerika 153

VI. 2. Der Prozess 169

VI. 3. Das Schloss 191

VII. Erzählungen 212

VII. 1. Das Urteil 212

VII. 2. Ein Landarzt 218

VII. 3. Die Verwandlung 225

VII. 4. In der Strafkolonie 236

VII. 5. Die Sängerin Josefine oder das Volk der Mäuse 245

Epilog 252

Literaturverzeichnis 255

1 Prolog

Ungeduld erschien ihm als größtes aller Laster und so erklärte er sein Zögern zu einer Tugend. Ihn verstehen zu wollen, hieße ihn vom Ende her denken zu können. „Was zuerst in Erinnerung kommt, wenn man darüber nachdenkt, was für Geschichten Kafka eigentlich erzählt, sind Geschichten vom Ende. Es ist der Untergang einer Welt, der da erzählt wird, das Verslöschen und Verschwinden des Menschlichen.“1

Über Kafka ein Buch zu schreiben, scheint vermessen oder trivial; denn alles über ihn erscheint bereits gesagt. Die Motivation, es dennoch zu wagen, erfolgte aus drei Gründen: erstens gehört er in die Reihe der „Grenzgänger“ – sowohl aufgrund der selbstzerstörerischen Leidenschaft für das Schreiben und der Unmöglichkeit, einer bestimmten Epoche oder Weltanschauung zuzuordnen, als auch aufgrund seiner Vorliebe zu anderen Grenzgängern Kierkegaard, Nietzsche, Kleist, Dostojewski und Flaubert. Zweitens wird in folgender Monografie das Leben nicht als bestimmendes, sondern ergänzendes Erklärungsmodell herangezogen. Drittens spiegelt das Buch Kafka philosophische Reflexionen und philosophische Kommentare über den Autoren. Dabei tritt das Zusammenspiel von Form und Inhalt hervor.

Vieles von ihm blieb Bruchstück und als Fragment erscheint nicht nur sein Leben, sondern die durch den Weltkrieg auseinanderfallende Epoche. Da Kafka keine für ihn tauglichen Vorbilder findet, schafft er sich auf künstlerische Weise eine eigene Sprache und damit Identität; er erfindet sich selbst. Reale Welt des Lebens und ideale Welt des Schreibens interagieren in Kafkas Fall wie Traum und Erwachen.

Um die Jahrhundertwende bietet Prag ein einzigartiges Kaleidoskop diverser Ethnien und poetischen Nährboden. Zum Prager Kreis gehören so unvereinbare Poeten wie Rilke, Werfel, Winder, Meyerink, Kisch, Weiß. Brod und Janowitz. Symptomatisch für sein unstetes Wesen ist, dass es Kafka meist nur zu Kuraufenthalten verlässt und dabei neunmal innerhalb meist desselben Stadtviertels seine Wohnung wechselt.

Bezeichnend erscheint auch der Tod Kafkas: erstens aufgrund seiner Krankheit in Unfähigkeit, sich zu artikulieren, zweitens außerhalb Prags. Kurt Krolop hält fest, dass er nach eignen Erfahrungen bei Kriegsende als Deutscher in der Tschechoslowakei seiner Ausweisung, hätte man ihn gefragt, sofort zugestimmt hätte, weil ihm eine eigene Identität, ein halbwegs eigenständiges, selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich schien.2

Erst mit 30 Jahren bekennt er sich zu seinem künstlerischen Schaffen, dennoch bleibt Kafka übermäßig von Familie und seinen von Bindungsängsten geprägten Beziehungen zu Frauen geprägt. Der Wunsch nach einer Verwandlung und der Zwang, zu beobachten oder die eigene Handlungsweise zu rechtfertigen, stehen auch literarisch im Vordergrund.

Das erste Kapitel beleuchtet perspektivisch das enigmatische Werk, teilweise aus analytischer Außenperspektive und partiell aus poetischer Introspektion. Die an seinen Tagebüchern orientierten Abschnitte zollen Kafkas Umfeld und seiner von Angst und Zögern geprägten Empfindungen Tribut.

Im zweiten Teil der Studie rückt der Einfluss der von Kafka rezipierten Autoren in den Fokus. Dies stiftet Vergleichsmöglichkeiten zur zeitgenössischen Literatur und vier, von Kafka selbst hervorgehobenen, Einflussquellen und Lesegewohnhei-ten. Wer Kafkas Schriften wenig kennt, wird sich vielleicht verloren fühlen oder aber Anreiz finden, sie (neu) kennenzulernen. Um es mit Susan Sontag zu formulieren: Kafka erzeugt eine „Sackgasse des Glücks.“ Sich selbst finden heißt auch immer gegen sich denken zu lernen. Schreiben wohnt die Doppelexistenz des Konstruierens und Destruierens inne.

Die anschließende Komparatistik mit Walser, Weiß und Werfel dokumentiert, dass Entfremdung, Identitätskrise und Gewalt die Epoche prägende Leitmotive für die Kunst sind, aber auch, welche disparaten Formen der Kritik, Ablösung aus den Ruinen des Denkens und Erneuerung – von Robert Musil als „das tausendjährige Reich“ bezeichnet des dafür vorliegen.

Wie alle „Grenzgänger“ beschäftigt sich auch Kafka mit Philosophie als existenzielle Fragekunst und wird gleichsam von Philosophen als Beispiel für eine literarische Form der Daseins-bewältigung angeführt. Diesen Umstand trägt der vierte Ab-schnitt Rechnung, der die poetischen Wurzeln Kafkas zum Gegenstand hat. Dabei kommt der von Kleist thematisierten Ver-störung und Geschlechterkampf eine bedeutsame Rolle zu. Kierkegaards Entweder Oder - Haltung steht am Beginn einer sich von systemischem Denken ablösenden und die Spannung zwischen Ästhetik, Ethik und Religion zum Mittelpunkt des individuellen Daseinsentwurfes erhebenden Denkart. Nietzsche als Meister der Metabole, der Paradoxie und der ewigen Wiederkehr des Zweifels liefert Nährboden für Kafkas Parabeln.

Im fünften Abschnitt gewähren Stimmen von Philosophen eine Synopsis über die Vieldeutigkeit Kafkas in Abhängigkeit einer gewählten Leseperspektive und Methodik. So vergleicht der Strukturalist Roland Barthes Kafka mit Flaubert, einem seiner Vorbilder aufgrund ihrer Relation von Ordnung und Chaos und den von ihnen betriebenen physischen Aufwand des Schreibens: „Für den, der sich bemüht, seinem Inneren Ausdruck zu verschaffen, ist Kunst nicht etwas Geisteswissenschaftliches, sondern etwas Körperliches wie der Fingerabdruck.“3

Das Kapitel sechs untersucht die drei Romane Kafkas et, um neben einer Sprachanalyse gesondert die Aspekte Erotik, Religion, Sozialkritik, Psychologie und Philosophie zu eruieren und eine textnahe Exegetik vorzunehmen.

Das siebte Kapitel verfährt nach gleichem hermeneutischem Muster mit fünf ausgewählten Erzählungen mit repräsentativen Charakter unter mindestens vier Perspektiven.

Es wäre ein weiterer Mythos zu behaupten, Kafka als nicht wahrgenommenes Genie zu stilisieren. Er wurde bereits zu Lebzeiten veröffentlicht und übersetzt, erhielt einen kleinen Literaturpreis, Einladungen zu Lesungen und besaß als in Prag einen Kreis Bewunderer. So notiert der gleichfalls in Prag aufgewachsene Rainer Maria Rilke: „Ich habe nie eine Zeile von diesem Autor gelesen, die nicht auf das eigentümlichste mich angehend oder erstaunend gewesen wäre.“4

Einige wie Tucholsky erkennen früh seinen Genius, dennoch steht er im Schatten anderer, deren Namen heute häufig vergessen sind. Kafka ist im nietzscheanischen Wortsinn ein „Unzeitgemäßer“. Sein Begriff „Pathos der Distanz“ trifft dessen Einsamkeit und Fremdheit in der Welt. Im Zeitalter unmittelbar von und nach dem Ersten Weltkrieg erweisen sich Menschen zunehmend unfähig und unwillig, sich auf intime Beziehungen einzulassen. Nietzsche nennt es die höchste Aufgabe der Kunst, den Menschen von seiner Scham zu erlösen, und dies trifft in besonderem Maße auf Kafka zu. Leben und Werk sind vielleicht nicht trennbar, doch das eine monokausal auf das andere zurückzuführen oder zu deuten, wird der Kunst nicht gerecht. Den Abschluss bildet der Epilog mit dem Erkenntniswert Kafkas, der selbst nicht erkannt sein wollte

 

1 I. Biografie oder Leben am Abgrund

1 I. 1. Vor dem Ausbruch der Krankheit

Er ist allein. Vielleicht gewollt, denn nur so kann er schreiben. Er lebt nur für seine Idee. Die Technik ist im Grunde das Sittliche der Poesie - nicht weit vom Neutrum entfernt. Er hat die Geliebte gehen lassen. Die Dialektik des Imaginären zwingt ihn dazu. Im Zustand des Glückes lässt sich nicht schreiben und im Begehren nicht mehr der Text bewältigen. Nein, das Schreiben duldet keine Rivalin, es muss das einzige Brennen unter der Haut bleiben! „Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge, und ich weiß nichts von dem, was in der Welt vorgeht.“5

Der Traum geht singend in das Tägliche über, ein Lied haust im nächtlichen Fieberwahn, doch lässt der Lärm der Straßen die Melodie verstummen und es sterben die Klänge in stündlichem Rauschen. Er fühlt unsagbare Angst vor dem Schreiben und fürchtet die Nacht, den Schlaf, den Kontrollverlust; die Angst vor dem Kontrollverlust zehrt seine Seele auf. Seine Existenz wiegt nicht mehr als der leichte Stoß Papier, den schreibt. Wenn der Vater kommt, wird er seine Worte vom Tisch nehmen wie das schwere Buch, das der Vater so achtlos bei Seite legt. Ich habe jetzt und hatte schon heute Nachmittag ein großes Verlangen meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir heraus zu schreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein.

Franz schreibt diese Worte mit seinem Blute, dass sich der Ausdruck in den Leib einschleicht, in den Atem einweicht. Er wird das Leben bald tragen wie einen unendlichen feuchten Raum, dessen Schalen vielleicht auf der Haut trocknen. Nein, es ist nicht sinnlos zu schrieben, wie der geschäftige Vater meint, denn wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück. Ein Unglück, das so schmerzt wie der Tod jener, die wir einst liebten. Ja, Poesie muss wie eine Axt sein für das ganze gefrorene Meer in uns, um die Eisstücke zu zerhauen. Die Schollen werden uns tragen müssen zu neuen Ufern. Schreiben ist wichtig, doch wenn ich etwas sage verliert es sofort seine Wichtigkeit, erst aber durch das Schreiben vermag es auch eine neue Bedeutung gewinnen.

Franz weiß nicht, ob er noch träumt oder schon schläft, das Licht erreicht zögerlich seine zuckende Pupille, es ist immer ein wenig Lärm und Geruch um ihn herum, so viele leben in dem engen Haus, und der Vater scheint nie wirklich zu ruhen. Sein langer Schatten schmeckt nach dem Ginster auf dem Fenster-brett, es ist als könnte er dem Verlöschen des Körpers zusehen. Die Welt hörte auf, wenn sein Ich nicht mehr existierte, freilich nicht stofflich, doch als Erlebnis bliebe die Farbe ohne das sie betrachtende Auge unsichtbar.

Tagsüber hat er im Büro Aktenberge gesichtet, brennende Kopfschmerzen, weil er nicht durchschlafen kann, Ich und Es sind im permanenten Tanz und Tausch miteinander. Im Leben macht Franz Kompromisse, im Schreiben nicht. Die Welt ist ohnehin reich an Unvollkommenem. Tatsächlich, in Liebe und Lust liegt ein entsetzliches Geheimnis und so entstehen innere Räume, aus denen wir sprechen; gläserne Träume werden zu Stahl. „Unsere ganze Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Ich und das ist ihr Fluch – doch aus Begeisterung und Liebe fließt alles Schöne.“6

Was könnte schöner sein als das Lächeln einer Frau, für die Einbildungen das tägliche Brot ist. Die Frauen haben ein Talent. dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg haben die anderen, die einen Anfang zu machen wissen - er weiß, es bedürfte der Entschlossenheit dazu. Die meisten in seiner Zeit haben keine Überzeugungen, bloß noch Meinungen, die sie wie die Kleider wechseln, bevor sie abgetragen sind. Was, wenn er seiner verbrauchten Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.

Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.

Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben sorgt dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg derjenigen, die einen Anfang zu machen wissen, es bedürfte der Entschlossenheit dazu. Die meisten seiner Zeit haben keine Überzeugungen, bloß noch Meinungen, die sie wie die Kleider wechseln, bevor sie abgetragen sind. Was, wenn er seiner verbrauchten Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.

Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.

Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben gleicht der „Beschreibung eines Kampfes“ und die einzige Rettung, die Ehe, ist doch zugleich sein Tod. Nun hat er Felice kennen gelernt und schwankt wie das Schiff auf hoher See in seinem Traum. Amerika. Vielleicht ist sie die Richtige, vielleicht sollte er den Schritt mit ihr aus der Enge des Hauses, der väterlichen Umklammerung wagen und weit fort ziehen. In diesem August haben sie sich in der Wohnung des Freundes Max kennen gelernt. Er kann ihren Augen nicht mehr ausweichen, wie er es früher bei den anderen Frauen getan hat. Seine wachsenden Verlangen nach ihr erscheint ihm wie Gogols Nase, die ihrem Herren entlaufen ist und diesem zuruft: Sie irren, mein Herr, ich existiere an sich.

Beziehungen zwischen ihr und ihm, eine Unmöglichkeit. Be-ziehungen generell. Er wird sie ins Unglück stürzen, ihre Erwartungen enttäuschen und sie wird ihn von der eigentlichen Arbeit abhalten. Vielleicht aber wächst er, weil er es muss, hinaus aus der Enge seines Büros und des nächtlichen Zimmers, vielleicht ist das Verlieben und Verloben nicht alles ein hoffnungsloser Fall. Wenn er nur gesund bliebe und sich ein wenig erholte! Ein Urlaubsgesuch ist gestellt, Urlaub steht ihm zu, das Gesetz schreibt dies vor. Ein anderer Ausweg: der Krieg. Er hört die blutigen Arme an die Tür pochen, das Land fliegt dem Schlachtfeld sehnsuchtsvoll entgegen, wofür hätten die Gardisten sonst Jahrzehnte im Dreck gelegen und vor Prag Manöver einstudiert?

Hüte dich vor Leidenschaften, so hat es ihm der Vater gesagt. Auch scheint seine Ehe ihm aufgetragen zu sein, der Mutter aufgezwungen so-gar. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Ehe, diesen Kampf zweier Körper um eine Seele, höhnisch lacht der Vater, als er sich mit einer Silbe verrät. Er solle sich doch zu den Bordellen begeben, wenn er das Fleisch reden höre.

Wie schamvoll ist da sein Blick zu Boden gesunken. Erdulden muss er des Vaters laute Stimme und sein verzagtes Zittern über das lächerliche Reinheitsbehagen. Er fühlt sich schmutzig und wäscht die Hände, als hätten sich die wühlenden Finger verräterisch in Felices Fleisch geschlagen. Nächtlich träumt er von fallenden Messern, Fleisch in Stücke schneidenden Apparaturen, so gierig ist er, dass er morgens stets hungrig erwacht.

Morgendlich steht ein Becher Milch auf dem Nachttisch für ihn bereit, dann hustet er Schleim aus seiner Lunge ab, die Räume ungeheizt und kalt, gar nicht gut für die bereits stechende Brust. An ihnen hängt wohl ein besonderes Gewicht der Weltuhr, deren Zeiger die Verbindung von Eltern und Kind sind. Das Gleichgewicht darf nicht zerstört werden, es sind heilig blutige Bande.

Manchmal vernimmt er eine Stimme des Widerstands, der Mensch sei nicht zum Nutzen der Gesellschaft oder der Familie wegen, sondern nur um seiner selbst willen auf der Erde. Franz, wer bist du, hat sie ihn gefragt und zärtliche Briefe geschrieben, die ihn in seiner Einsamkeit aufspüren. Es ist doch möglich, über Gefühle adäquat zu schreiben und so zu seinem tiefsten Ich zu finden. Der Chandosbrief7 irrt. Meine Sprache ist nicht verloren, sie umkreist nur die Mitte dessen, was sie zu sagen sucht. Er hat sich dieser Aufgabe angenommen, denkt sich das Innen und das Außen eine gemeinsame Kraft verbunden wie Lebens- und Todestrieb. Er will zu Felice und damit das Ende seiner bisherigen Existenz. Mein Leben ist das unendliche Zögern vor der Geburt; Vielleicht bedeutet Existieren nur Akzeptanz des Unverständlichen. Jede Stunde heimlich dem Schicksal gestohlen. „Wir können uns in die Überwelt des noch Ungeborenen hinein tragen, wenn wir die konkrete Welt überwinden. Aber zentnerschwer hängt der sichtbare Himmel über uns und lässt unseren Kopf nicht durch die materiellen Wolken hindurch.“8

Seltsam fallen die Tage dahin in bleierner Schwere vollendeter Monotonie. Selten erreicht seine Gangart ein scharfes Allegro, nun gehen Sie schon, ruft Franz dem Kafka zu, verbunden mit einer müd gewordenen Telefonschnur, gestern hätten ihm ihre verhaltene Antwort nutzen mögen und mehr noch die ungestellte Frage, doch heute denkt er nur noch an das Amt, den unaufgeräumten Bürotisch, das Leben hinter den Zahlen verschwindend, noch nicht in ihnen aufgehend und den lamentierenden Vater, der den Nachteil nicht ganz schließender Wände der schlecht beheizten Wohnung beklagt. Für einen Ausweg ist es längst zu spät, also wird er sich weiter gedulden müssen.

Am Ende geht es doch nur um eines: „in gesteigerter Erlösung vergessen - sein wie all ihre Brüder.“9 Der Künstler muss blind sein für alles, was ihn umgibt, um sehend zu werden für das Besondere, das in allem ist. Wie mit einem Sprunge muss er im Inneren atmen hören und flüstern die Gänge, die Wände und selbst noch das letzte Ohr. Diesen unerträglichen Geräuschen muss er standhalten, auch die vergitterten Fenster muss er als seine Freiheit begreifen lernen. „Die Grundschwäche der Menschen besteht nicht etwa darin, daß er nicht siegen, sondern daß er den Sieg nicht ausnützen kann.“ Die gegebene Freiheit ist schon keine mehr, nur die selbst errungene, sich abverlangte tägliche Mühe darf als solche gelten.

 

Er horcht auf. Stille auf dem Gang. Schwere Schritte, die Stiefel seines Vaters, auf dessen Grund er schwankend wird. Ist die Erinnerung noch präsent, an das Unglaubliche, das ihn durch die Gitterstäbe seines hölzernen Bettgestells für immer von der atmenden Sorglosigkeit abgetrennt hat? Ist es nicht eigenartig, welche Gefühle die Einsamkeit umschließt und in Selbstverlassenheit sich senkt wie ein blauer Federkiel, der mit Blut ge-schrieben die Maschinerie der Gedanken schmierte, keinen Platz

lassend für andere Bilder als das Grauen. Der Vater geht in die Küche, Dort wird er sehen, dass sein Sohn die für ihn zubereitete Speise nicht angerührt hat, er wird lächeln über die Ängste seines schwächlichen und stets ein wenig kränkelnden Sohnes, der es nicht über seine leichenblassen Lippen brachte, von angegrautem Brot zu essen oder sich von einer bereits angeschnitten und vom Alter befleckten Frucht zu nehmen.

Sein gedankliches Kreisen um den Vater gleicht dem Kreisen um einen Turm, das ein anderer Sohn Prags beschrieb. „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise Jahrtausende lang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“10

Er sucht die Stille, ist kein guter Redner, aber ein umso besserer Beobachter und Zuhörer, ein Genießer der Ästhetik des Schweigens. „Die erzählende Prosa von Kafka und Becket wirkt verwirrend, denn sie scheint den Leser dazu aufzufordern, ihr hochgradige symbolische und allegorische Bedeutungen zuzuschreiben, und weist dabei diese Zuschreibungen zugleich zurück.“11

1 I. 2. Die gelöste Verlobung

Entzweit, schon zum zweiten Male - wie einst Kierkegaard und Strindberg vor ihm. Aus ihm würde kein Werther werden, so viel war sicher. „Besserer Zustand, weil ich Strindberg („Entzweit“) gelesen habe. Ich lese ihn nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu liegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem linken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr, abzugleiten, beim elften Versuche sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht. Der ungeheure Strindberg. Diese Wut, diese im Faustkampf erworbenen Seiten.“12

Gelebte Ambivalenz! Verzweifelter Krieg gegen das ge-schlechtliche Keuchen und Zittern, jenes entwürdigende Stoßen und Brabbeln, Seufzen und Quieken, wo sich stets Elementares und Dämonisches begegnen. Des Mannes Verhältnis zum Weibe ist es, „worin die Polemik gegen moderne Emanzipationsideen die geringste Rolle spielt und eine desto größere der ewige mythische Todhass der Geschlechter. Es gibt in keiner Literatur eine teuflischere Komödie als seine Eheerfahrungen, als seine Verfallenheit an das Weib und sein Grauen vor ihm, seine heilig monogame Verehrung und Verklärung der Ehe und sein völliges Unvermögen, es darin auszuhalten.“13

Entzweit einsam. Schon die Titel eine Verheißung nach Untergang, dem Inferno aller Geschichten des Ehestandes. „Im ersten Jahr wurden natürlich eine Menge von Illusionen über die Ehe als einen Zustand absoluter Seligkeit zu Grabe getragen; im nächsten Jahr kam das Kind, und nun lies ihnen die Mühsal des Lebens nicht mehr viel Zeit zu Grübeleien übrig.“

Felicitas, mit herb männlichen Zügen und energischem Gesicht Dame passt nicht zum viel zu ernsten Kind, das Franz nun einmal ist. Die Vermittlungs- und Schlichtungsversuche der Freunde vermögen den gordischen Knoten nicht zu lösen. Wie gotische Kathedralen stehen sie sich gegenüber, schweigend, aber nicht schweigsam genug. Sieht sie nicht, dass alles, was er ihr zu sagen hat, in den Briefen bereits gesagt ist? Hier hat er die Zeit, exakt zu formulieren, bis das Gefühl sich entschwindelt hat. „Wir müssen neu anfangen“ lautet seine Botschaft, die er an

Felice sendet. Seine Liebe gleicht dünn gestreichelten Umrissen, übervorsichtigem Annähern und leisem Verteidigen der jüngst eroberten Stelle. Sie nur in Briefen zu umarmen ist auf Dauer unmöglich, aber nichts kann schöner sein als das erste Verlangen. Durch das als Verhör empfundene Gespräch im Askanischen Hof ist der Unschuld letzter Zeuge bloß gestellt. Er wird es lebenslang seine Inquisition heißen und das Urteil seinem Prozess einverleiben. Er ist zu müde, um alles einzusehen.

In jenem Berliner Hotel, am 12. Juli 1914, fügt sich seinen traumatisierten „Forschungen eines Hundes“14 ein weiteres Mosaik seines Zögerns hinzu. Kindlich böse Worte verlassen dort ihren zärtlich der Unschuld beraubten Mund. Vorwürfe, so lange versteckt und heimlich unter ihrem Herzen genährt, genug gewachsen, um ihn zu prügeln. Sie schien das Ver-trauen oder die Geduld in seine künstlerische Existenz verloren zu haben. Das feste Unverrückbare zwischen ihnen ward schwankend geworden. Eine Seite in seinem Tagebuch fehlt seither, da er es nicht erträgt, das Geschriebene bei sich zu er-halten. Erst nach mehrfachem Erbrechen sendet er ihr folgende Zeilen. „So wenig ich sein mag, niemand ist hier, der Verständnis für mich im Ganzen hat. Einen haben, der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hieße Halt und auf allen Seiten haben, Gott haben.“15

Gott zu finden ist schwer, der Ausbruch des Krieges fällt da schon leichter. Er fühlt nur die Last in der Lust nach dem der flüchtig einander suchenden und fliehenden Geschlechter. Da er nicht eingezogen, sondern für untauglich befunden wird, fühlt sich Franz um das Recht der Selbstbehauptung betrogen. Er formuliert eine Petition an die Geschäftsleitung, doch er gilt als unverzichtbarer Bestandteil des Unternehmens, einer zu Fleisch gewordenen Akte. Sein Vater glaubt, vom Krieg profitieren zu können und erwirbt eine Fabrik. Für einen wie ihn erscheint das schlimmer als Krieg, denn dessen Logik ist klar und bedarf keiner Entscheidungen. Er fällt in Depression, will der Versicherungsanstalt kündigen, tagelang liegt er nur im Bett, eine Verwandlung greift in ihm ein und durch.

Er will ausziehen, sich endlich von der Familie lösen, er hasst die ihn nährende und zugleich fesselnde Sicherheit. Die Versicherungsanstalt ködert ihren Angestellten mit Beförderung. Er fühlt sich schuldig, wagt nicht, seine Kündigung abzugeben. Der Krieg macht ohnehin all seine Pläne zunichte. In den Tod darf er nicht, er ist zum Leben verurteilt. Seiner Entlobung folgt der drohender Bankrott des Vaters, Eruption der blutigsten Schlachten, köstliche Katastrophen für den Liebhaber des Untergangs und Tragödiendichter. Verzweifeltes Verlangen nach intimen Momenten, Inseln des Glücks, Wonnen der Behaglichkeit staut sich, findet kein Echo, verliert sich im Raum.

Gespenster regieren Prag, Gespenster und Beamte, die bleiben dürfen am behaglichen Herd. Er fühlt sich wie ein Käfer, zertreten und nutzlos, am Boden kriechend, zornig und doch noch immer um Vorsicht und Rücksichtnahme bemüht. Getrennt von der Gewöhnlichkeit und dem unentbehrlichen Ritual, mit Freunden im Kaffee die geheiligte Poesie zu besprechen. Sie alle dienen nun an der Front: Werfel und Weiß sogar mit ihn beängstigender Begeisterung. Alle sind weit weg entschwunden, räumlich und gedanklich.

Die stille und treue Ottla, die geliebte Schwester, wandelt zum ersten Mal und unverhofft für den älteren Bruder auf Amors Wegen, zerreißt den heilige Bund zweier einsamer Seelen. Ein Fremder hat sich auf die Schwelle gestellt. Tscheche, Beamter, in Zahlen aufgehende Rechenmaschine und damit kein wirklicher Mensch, kein Nachbar, an dessen Tür er klopfen will. Er versteht es wohl, sie sucht einen mächtigeren Bündnispartner für ihre Rebellion, die er selbst oft versucht, aber nie erprobt hat. Der Bankbeamte flößt selbst dem autoritären Vater Respekt ein, jeder Zorn prallt an der Rechenmaschine ab, Ottla zieht aus. Widerspenstigkeit und bewusster Wille haben die entschlossene Tat gezeitigt, zu der er sich nie hat aufraffen können. Er bleibt zurück, allein und seiner mächtigsten Waffe beraubt, dem Entrinnen zu ihr, der zärtlich gehüteten Schwester. Sie ist dem „hei-matlichen Rudel“ entlaufen und auf das Land gezogen, von wo aus sie die Familie mit Milch, Obst und Gemüse versorgt. Was bleibt, ist das stumpf-sinnige Nebeneinander von stummen Schreien auf nächtlichem Flur. Franz vermisst Ottla, ihr wissendes Lächeln, ihre heimlichen Botschaften, das verständige Zuhören. Ein fremder Verführer hat das einst misstrauische Mädchen abgelenkt vom geschwisterlichen Weg.