Beetzendorf im Jahre 1829 – Verhängnisvoller Kindertausch? im Hause von der Schulenburg-Nimptsch

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Beetzendorf im Jahre 1829 – Verhängnisvoller Kindertausch? im Hause von der Schulenburg-Nimptsch
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Impressum

Text ergänzt: © 2018 Copyright by Dr. rer. nat. Bernd Grabowski

Umschlaggestaltung: © 2016 Copyright by Dr. rer. nat. Bernd Grabowski

Verlag: Dr. rer. nat. Bernd Grabowski

Am Feldrain 4

21423 Winsen (Luhe)

b.e.grabowski@t-online.de

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Beetzendorf im Jahre 1829

Verhängnisvoller Kindertausch?

im Hause von der Schulenburg-Nimptsch

Bernd Grabowski

Zusammenfassung

Von 1829 bis 1897 haben sich in Beetzendorf und Twülpstedt im Zusammenhang mit dem Hause von der Schulenburg-Nimptsch möglicherweise eine Reihe von Verbrechen abgespielt, die sich am Ende zu einer Tragödie zuspitzten. Nicht alle sind der Gräfin Charlotte von der Schulenburg-Nimptsch zuzuschreiben, sondern wohl auch ihrem vermeintlichen Sohn.

Etliche Indizien sprechen dafür, dass die Gräfin Charlotte von der Schulenburg-Nimptsch Steigbügelhalter für den erkauften Sohn war. Sie hat ihn zum Grafen gemacht, um den jüngeren Bruder ihres Mannes Benno zu enterben. Letztendlich ging es ihr darum, ihre eigene Lebensgrundlage und Macht in Beetzendorf zu sichern. Gleichzeitig hat sie die völlige Herabsetzung, Schlechterstellung und vorübergehende Verbannung ihrer zweiten Tochter billigend in Kauf genommen, um ihr unrühmliches Ziel durchzusetzen. Vermutlich litt sie bis zum Tod unter dem selbst verschuldeten Zwiespalt. Durch die Brandkatastrophe in Twülpstedt konnte sie ihre zweite Tochter nach Beetzendorf zurückholen und mit Hilfe eines Waisenkindes verschleiern, aber weder ihre erste Tochter, Gräfin Anna, noch ihre verkappte zweite Tochter und auch nicht ihre Enkelin, konnte später erben, was ihr zustand. Natürlich hätten die Schwäger Wilhelm und Benno Vorrang gehabt, solange sie lebten. Stattdessen trat der "falsche" Graf das Erbe an und Tochter und Enkeltochter fanden nach dem Ableben der Gräfin Charlotte vermutlich durch ihn ihren vorzeitigen Tod. Die drei "Selbstmörderinnen" werden von der Kirche bei der Beerdigung auffallend unterschiedlich, anscheinend dem "Rang" nach behandelt: die unverheiratete Mutter in Klein Twülpstedt als Selbstmörderin, die Tochter und Enkelin der Gräfin Charlotte werden dagegen in Beetzendorf und Apenburg öffentlich und still bestattet. Die unverheiratete Mutter in Klein Twülpstedt hatte im Gegensatz zur Tochter und Enkelin in Beetzendorf keinen autoritären Fürsprecher.

Die in Kirchenbüchern, Büchern und Tageszeitungen, im Internet und im Tagebuch dokumentierten dramatischen und weniger dramatischen Ereignisse und Hinweise lassen unerwartet oft den Verdacht vom Kindertausch zu oder können mit ihm begründet werden und erhärten ihn auf diese Weise.

Motivation

Mein Opa, Ernst Horn, hat in Brüchau von seinem Vater, Friedrich Horn, einen Bauernhof geerbt, den er gerne einem Sohn weitervererbt hätte. Leider hat er mit seiner Frau nur drei Mädchen bekommen - meine Mutter Ilse und meine beiden Tanten Gisela und Irmgard. Die jüngste Tante wurde statt Irmgard kurz Irmi genannt. Meine Mutter war die Älteste und musste schon früh auf dem Bauernhof ihres Vaters mithelfen und die jüngeren Schwestern beaufsichtigen. Sie war durchsetzungsstark und konnte mit Pferden umgehen. So hat sie so manches Mal den Sohn ersetzen müssen, der meinem Opa auf seinem Bauernhof fehlte. Meine Tante Gisela war dagegen ein kleines Mauerblümchen, ruhig, grundehrlich und gottesfürchtig, manchmal vielleicht auch ein bisschen abergläubisch. Meine Tante Irmi war von Grund auf eine Frohnatur, aber auch ein kleines Luder. Die drei Geschwister verkörperten, so lange sie lebten, den Mittelpunkt der Hornschen Familie, die sogenannten "Hörner", um die sich mit der Zeit alle neuen Familienzweige rankten.

Mein Urgroßvater, Friedrich Horn, kam mit seiner Frau aus Beetzendorf und hat 1906 in Brüchau Haus und Hof nebst Wald, Felder und Wiesen gekauft. Er lebte in Beetzendorf im Dunstkreis der gräflichen Familie von der Schulenburg. Meine Urgroßeltern verstarben 1930 und 1931, etwa zwanzig Jahre bevor ich geboren wurde. Sie liegen auf dem Brüchauer-Friedhof. Vom Grabstein hatte ich bis zum Beginn meiner Ahnenforschung nur einen sehr flüchtigen Eindruck. Mein Opa, Ernst Horn, hat den Hof von seinem Vater übernommen, weil sein älterer Bruder vermutlich seinen künstlerischen Ambitionen nachgehen wollte. Er hat sich zum Maler berufen gefühlt. Insgesamt hatte mein Opa zwei Brüder und zwei Schwestern.

Meine Mutter hat in höherem Alter Merkzettel über wichtige Dinge gemacht, die sie ihren beiden Söhnen, meinem Bruder und mir oder wem auch immer, eigentlich noch unbedingt erzählen wollte. Leider kam sie in manchen Fällen nicht mehr dazu. Unter anderem schrieb sie auf: "Großvater 2. Frau." Dieser Zettel fiel mir erst mit ihrem Nachlass in die Hände.

Der Bauernhof meines Opas, Ernst Horn, grenzte an den Hof des Dorfschullehrers, Paul Wichmann, der Zeitgenosse meines Opas war. Mein Opa war vor und nach dem zweiten Weltkrieg Bürgermeister von Brüchau. 1933 haben ihn die Nationalsozialisten kurzerhand abgesetzt, weil er ihnen nicht ins Konzept passte. Dorfschullehrer und Bürgermeister hatten freundschaftliche Kontakte, waren aber auch Konkurrenten. Im Dorf hat man immer mal wieder hinter vorgehaltener Hand über die angeblich gräfliche Abstammung meines Opas sinniert. Außerdem fragte man sich, woher mein Urgroßvater, Friedrich Horn, das Geld hatte, das zum Kauf von Haus, Hof und Ländereien nötig gewesen war. Der Sohn des Dorfschullehrers, Heinz Wichmann, der wiederum Zeitgenosse meiner Mutter und Tanten war – als Kinder haben sie oft auf dem Bauernhof meines Opas miteinander gespielt – hat mir vor kurzem erzählt, dass sich mein Opa zuweilen in diesem Gerücht gesonnt habe.

Auf dem Hof, der den beiden Höfen auf der anderen Seite der Dorfstraße gegenüber liegt, wohnte die Schwägerin meiner Tante Gisela mit ihrem Mann. Ab 1938 wuchs dort Tochter Gerlinde auf. Sie hat wie meine Mutter und meine beiden Tanten, meine Cousins und Cousinen, natürlich zeitlich nacheinander, die Dorfschule in Brüchau besucht. Etwa 1947 hat der Dorfschullehrer, Paul Wichmann, mit ihr und den Mitschülern einen Ausflug durch die Feldmark zur Apenburg unternommen und dort vor den Schülern erklärt, dass in dem Grab, vor dem sie gerade stehen, die leibliche Mutter von Ernst Horn begraben läge. Eigentlich liegen dort nur von der Schulenburgs. Deshalb könnte man an dieser Stelle schon den Schluß ziehen, dass die Mutter meines Opas etwas mit den von der Schulenburgs zutun haben muss. Die "widersprüchliche" Aussage des Lehrers hat die neunjährige Gerlinde damals verblüfft und sich deshalb fest in ihr Gedächtnis eingebrannt, weil sie den Grabstein meiner Urgroßeltern in Brüchau kannte und eigentlich glaubte, dass die Mutter von Ernst Horn, der ja gegenüber wohnte, auf dem Friedhof in Brüchau liegen müßte. Sie und wir, die Cousins und Cousinen, wussten nicht, dass sein Vater ein zweites Mal verheiratet war. Der uns bekannte Grabstein sagt darüber natürlich nichts aus.

Meine Tante Gisela hat Gerlinde, die in Brüchau nur zwei Häuser von ihr entfernt wohnte, später zudem noch unter vier Augen erzählt, dass ihre Urgroßmutter, also die Großmutter meines Opas, eine Tochter der von der Schulenburgs sei, weil bei der Geburt vorsätzlich Kinder vertauscht wurden. Angeblich hat die Hebamme dieses Geheimnis im Angesicht des Todes ihrem Mann anvertraut.

Meine Tante Irmi wusste offensichtlich davon und hat, wenn sie sich mal krank fühlte, oft scherzhaft geflucht und behauptet, dass die Inzucht der von der Schulenburgs Schuld an ihrer Krankheit sei. "Scheiß Adel!", hat sie dann geflucht.

Die genannten Überlieferungen waren Ausgangspunkt und Motivation für meine Ahnenforschung in diesem Zweig meiner Familiengeschichte. Meine Frau und mein älterer Sohn, die mit der Zeit auch Wind von der Legende bekamen, haben mich in jüngster Zeit immer wieder mal angestachelt, doch mal Licht in die dunkle Vergangenheit zu bringen. Vor etwa zwei Jahren habe ich mich dann tatsächlich aufgemacht, um mich in den Kirchenbüchern von Beetzendorf und Apenburg auf die Spurensuche nach der ersten Ehe meines Urgroßvaters, Friedrich Horn, zu begeben. In Beetzendorf bin ich mit der Zeit überaus fündig geworden, während sich die


Bild 1 Die Verquickung der Horns und der von der Schulenburgs abgeleitet aus Gerüchten und Überlieferungen

Kirchenbücher von Apenburg als Flop erwiesen. Einen besonderen Kick bekamen meine Recherchen als ich feststellen musste, dass die erste Frau meines Urgroßvaters, Friedrich Horn, eine geborene Langenbeck, und deren Mutter, eine geborene Mandel aus Klein Twülpstedt, und auch deren Mutter, auch eine geborene Mandel, in Klein Twülpstedt, angeblich Selbstmord gemacht hatten. Als ich auf den ersten Selbstmord stieß, bekam ich unwillkürlich eine Gänsehaut. Ähnlich erschüttert war ich beim zweiten und dritten Selbstmord in Folge. Eigentlich war das unfassbar. Statistisch gesehen, undenkbar, so dass mir auch gleich 'Mord' in den Sinn kam. Wie man sich denken kann, habe ich mich in den Kirchenbüchern von Beetzendorf und von Klein Twülpstedt von Mutter zu Mutter in die Vergangenheit vorgearbeitet. Daneben habe ich deren Ehemänner, soweit vorhanden, Kinder und Verwandte und auch zeitgenössische von der Schulenburgs erfasst, um gegebenenfalls wichtige Zusammenhänge zu erkennen.

Das Bild 1 zeigt die Quintessenz meiner Kirchenbuch-Recherchen. Dort sind die wichtigsten Personen mit Geburts- und Sterbedaten zusammengestellt. Eheleute habe ich farblich gekennzeichnet. Zu jeder Person werden jeweils in der untersten Zeile die Todesursache und der Ort der Beerdigung genannt, falls im Kirchenbuch vermerkt.

 

Neuer - bedeutet Neuer Kirchhof am Audorfer Weg in Beetzendorf , Christus - bedeutet Christus Kirchhof auf dem sogenannten Eiskuhlenberg in Beetzendorf an der Landstraße zwischen Beetzendorf und Siedengrieben, K.-Mauer - bedeutet an der Kirchhofsmauer in Klein Twülpstedt.

Es gibt zwei Betrachtungsweisen für das Bild 1. Von oben nach unten und umgekehrt oder man kann auch sagen von der Gegenwart in die Vergangenheit und von der Vergangenheit in die Gegenwart. Die erste Betrachtungsweise entspricht meinem anfänglichen detektivischen Vorgehen, denn meine auf die Familie bezogenen historischen Kenntnisse hörten bei meinen Großeltern auf. Die umgekehrte Betrachtungsweise entspricht der natürlichen Abfolge der Ereignisse.

Die Daten im Bild 1 sind bis auf wenige Ausnahmen durch die genannten Kirchenbücher abgesichert. Undurchsichtig wird es im vorletzten waagerechten Balken. Auf dieser Ebene fand der vermutete Kindertausch, Mädchen gegen Junge, statt, links durch Doppelpfeil gekennzeichnet. Außerdem ist nur eine der beiden Mandel tatsächlich am 30.6.1877 durch Selbstmord verstorben. Von der zweiten Mandel sind Todestag und Todesursache nicht bekannt. Laut Kirchenbuch war die rechte Mandel mit Zacharias Langenbeck verheiratet. In Wirklichkeit war Zacharias Langenbeck wie im Bild 1 farblich grün gekennzeichnet mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der linken Mandel verheiratet und sie war es auch, die am 30.6.1877 durch Selbstmord verstarb. Deshalb stehen bei der linken Mandel, obwohl das auf den ersten Blick erst einmal fragwürdig erscheinen mag, die gleichen Sterbedaten wie bei der rechten Mandel. Sterbetag, Todesursache und Ort des Begräbnisses sind dort rot gekennzeichnet, um diese Eigenheit hervorzuheben. In dem angesprochenen Balken stecken genau genommen die wichtigsten Geheimnisse, die es neben anderen aufzudecken gilt.

Meine Tante Gisela war wie erwähnt grundehrlich. Sie hat sich die Geschichte mit dem Kindertausch auf keinen Fall selbst ausgedacht, sondern sicher von ihrem Vater erfahren. Ihr Vater, mein Opa, Ernst Horn, hatte sie vom Urgroßvater, Friedrich Horn, und von seinen Geschwistern, aber ganz sicher auch vom Urgroßvater. Mein Opa und Urgroßvater wohnten schließlich bis 1930, bis zum Tode meines Urgroßvaters, fast 40 Jahre zusammen unter einem Dach. Zunächst in Beetzendorf, später in Brüchau.

Meine biologische Urgroßmutter, die erste Frau meines Urgroßvaters, Friedrich Horn, hat angeblich Selbstmord begangen. So steht es im Kirchenbuch. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass mein Opa und seine Geschwister vom Selbstmord der Mutter wussten. Mein Opa war sieben, als seine Mutter starb. Seine älteste Schwester war vierzehn. Die fast 10jährige Schwester Minna sollte wie sich noch zeigen wird kurz vor dem Mittagessen zwei Schinken im Dorf abliefern. Kurz danach wurde die Mutter erhängt auf dem Hausboden vorgefunden. Das geschah am 8.12.1897, kurz vor Weihnachten. Am 11.12.1897 wurde sie nachts auf dem Innenhof der Apenburg still begraben (siehe Bild 3). Der Beerdigungsort wird im Kirchenbuch allerdings verschwiegen, d.h. die entsprechende Spalte ist an dieser Stelle einfach leer.

Möglicherweise hat mein Urgroßvater, Friedrich Horn, vom "Grafen" Ernst Friedrich Werner von der Schulenburg eine Abfindung bekommen und sich zum Schweigen über die vergangenen noch zu klärenden Vorkommnisse verpflichten müssen.

Es ist auch möglich, dass nicht mein Opa, sondern meine Oma die dramatischen Vorfälle irgendwann einmal vertraulich an ihre Tochter Gisela weitergegeben hat. Tochter Gisela wohnte ihr Leben lang ihrem Elternhaus schräg gegenüber. Sie war aus Sicht meiner Großeltern sicherlich ganz besonders vertrauenswürdig. Meine Mutter, die älteste Tochter, wohnte weit weg in Gardelegen und meine jüngste Tante Irmi war aus vielerlei Gründen vielleicht weniger zuverlässig.

Vermutlich hat sich mein Opa, Ernst Horn, wegen des Selbstmordes seiner Mutter und wegen der versprochenen Verschwiegenheit fast immer in Stillschweigen gehüllt, was seine Abstammung betrifft. Selbstmord war für die Kirche ein Verbrechen. Darüber sprach man einfach nicht. Das war damals absolut tabu. Für mich ist das im Nachhinein die Ursache dafür, warum wir, meine Cousins und Cousinen, nicht das Geringste über unsere tatsächliche Urgroßmutter erfahren haben.


Der folgende Auszug aus dem "Landleben in Lippe" gibt Ansichten und Regeln bei stillen Beerdigungen und bei Selbstmord von damals wieder (Klocke-Daffa 1998: S. 258-259):


"Im Unterschied zu den öffentlichen Beerdigungen, die jeweils abhängig vom Stand des Verstorbenen größer oder kleiner sein konnten, waren 'stille' Begräbnisse niemals große Feiern. Sie fanden ohne Leichenpredigt und häufig auch ohne öffentliches Aufsehen frühmorgens oder gegen Abend statt. Zu einer 'stillen' Beerdigung wurde gebeten, wenn Kinder ungetauft gestorben waren, wenn die verstorbenen Personen 'unbußfertig' gewesen oder 'lange Jahre Kirche und Abendmahl verschmäht hatten, wie Pastor Meyer 1851 aus Haustenbeck berichtet.

Der Pastor erwartete dann den Sarg an der Kirchhofstür und geleitete ihn zum Grab, wo der Tote ohne große Zeremonie unner de Riusen brocht (unter den Rasen gebracht) wurde. Ganz ohne Begleitung durch Pastor, Lehrer und Gemeinde wurden in der Regel Selbstmörder begraben, die auch keinen Anspruch auf Glockengeläut hatten und meist keine reguläre Grabstelle auf dem Friedhof erhielten. Sie wurden ferner nicht durch das Friedhofstor getragen, sondern über die Hecke gehoben und 'unter der Mauer' oder an einer abgelegenen Stelle des Friedhofs beerdigt. Auf diese Weise wurde deutlich, dass sie 'aus der Reihe der anderen Gemeindeglieder ausgeschieden' waren, weil die gewaltsame Art ihres Todes von der Kirche als Verstoß gegen die christliche Ethik gewertet wurde. Selbstmord galt als Verbrechen, und dementsprechend wurden sie als Mörder behandelt. 1860 setzte sich ein Autor der Lippischen 'Sonntagspost' dafür ein, Selbstmörder nicht wie gewöhnliche Mörder zu behandeln, doch auch noch rund 20 Jahre später wurde das Mitleid mit Selbstmördern als 'Erschlaffung des sittlichen Urteils' bezeichnet. 1886 wurde per Landesverordnung die Praxis der 'stillen' Beerdigung noch einmal bekräftigt, doch mit der Ergänzung, dass der Pastor auf Bitte der Familie eine Andacht im Trauerhause abhalten konnte.

Eine Ausnahme bildeten Selbstmorde, die 'bei getrübten Bewußtsein, im Fieber oder Wahnsinn' verübt worden waren und deshalb als nicht selbstverschuldetes Unrecht galten. Um der Familie die Schande und die soziale Ausgrenzung durch die Gemeinde zu ersparen, wurde daher oftmals versucht, den Arzt, Pastor oder Bürgermeister, der den Tod festzustellen hatte, von der Unzurechnungsfähigkeit des Verstorbenen zu überzeugen, um auf diese Weise zumindest eine 'stille' Beerdigung zu erreichen."

Kurz nach Ostern 2015 hatte ich Gelegenheit Nachfahren der von der Schulenburgs mit den Überlieferungen meiner Vorfahren zu konfrontieren und meine Ahnentafel in Bild 1 vorzulegen. Die spontane Reaktion, der Kindertausch wäre ein Verbrechen, falls er denn wie angenommen stattfand. Dem konnte ich einfach nur zustimmen. Meinen weiteren Betrachtungen liegt darum auch immer die Prämisse zu Grunde, ein Verbrechen zieht oft weitere nach sich. Ich habe versucht alle Ereignisse, wenn möglich, mit dem Kindertausch in Verbindung zu bringen. In diesem Sinne habe ich bewusst Zweifel gehegt, was die von der Schulenburgs betrifft, um allen denkbaren Verbrechen auf die Spur zu kommen.

Die Hauptrolle beim Kindertausch spielt die Gräfin Charlotte von der Schulenburg-Nimptsch. Sie war eine geborene Freiin von Friesen. In dem nach ihr benannten Charlotten-Stift in Beetzendorf hängt zur Erinnerung an die Stifterin die Kopie eines Porträts und eine Tafel vom Verein der Heimatfreunde Beetzendorf e.V., die den Betrachter mit der Gräfin von der Schulenburg-Nimptsch bekannt macht und ihre Mildtätigkeit unterstreicht (siehe Bild 2). Das Porträt schmückt auch die beiden Teile des vom Verein der Heimatfreunde Beetzendorf e.V. ohne ISBN-Nummer herausgegebenen Tagebuches "Aus dem Leben der Charlotte Gräfin von der Schulenburg" (Schulenburg 2014 und 2015), die die zentrale These vom Kindertausch auch aus der Richtung der von der Schulenburgs untermauern. Ihr Antlitz spiegelt die dramatischen Ereignisse in ihrem Leben signifikant wieder. Es zeigt keine rundum glückliche, sondern eher eine skeptische und verbitterte Frau.

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