Die Laternenwald-Expedition

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Neues »Altes Sonnenlicht«

Hildenberge war im Laternenwald unter anderem auch als »das Erfrorene Dorf« bekannt. Dieser ungewöhnliche Beiname stammte von einer viele Generationen zurückliegenden und verhängnisvollen Nacht her, in der die Siedlung von einem seltenen Wetterphänomen, einem Schneesturz, heimgesucht und dabei unter einer ewigen Schnee- und Eisdecke begraben wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Gemeinde seither vor dem direkten Schein der himmlischen Scheiben verborgen blieb. Die Ortschaft bestand aus mehreren Dutzend uralter Holzbauten, die unter dem viele Meter dicken Gletschereis durch unzählige Eishöhlen und verschlungene Passagen miteinander verbunden waren.

Einst war das Bauerndorf von duftenden Wiesen und üppig bewaldeten Hügeln umsäumt gewesen, doch jene Zeit kannten die Einwohner Hildenberges nur noch aus den alten Sagen und Geschichten, die an besonders düsteren Abenden vom Familienältesten erzählt wurden. Es war eine alte Tradition, sich vor den wärmenden Kachelöfen in kuschelwarme Wolldecken einzuhüllen, an den geheimnisumwobenen Lippen des Familienoberhauptes zu hängen und in längst vergangenen Zeiten zu schwelgen. Auch war es Brauch, dem Knistern der emporsteigenden Funken zu lauschen, die im fast zwei Dutzend Meter langen Schornstein auftrieben und geheimnisvolle Melodien in den mächtigen Gletscher hinaustrugen.

Frierhütten wurden diese vom Eis verschlungenen Gebäude genannt, wobei jedes Haus über zwei Ein- und Ausgänge verfügte. Einerseits war es möglich, eine Frierhütte vom Dach aus über eine in den Gletscher eingelassene Treppe zu betreten und wieder zu verlassen. Dies allerdings nur, wenn das Bedürfnis bestand, sich an die Oberfläche der Eismassen hinaufzubegeben, was für die ältere Bevölkerung ein eher selteneres Unterfangen darstellte und mehr den Schneeballschlachten liebenden und leidenschaftlich Schneeburgen bauenden jungen Hildenberglern vorbehalten war. Andererseits, und viel häufiger, wurden die uralten, hölzernen Haustüren im Erdgeschoss benutzt, von denen aus man ganz gemütlich durch die Gletscherpassagen in die Dorfmitte gelangen konnte.

Da sich die Temperaturen im gesamten Laternenwald nicht nach Jahreszeiten änderten wie vor der Neuzeit, sondern diese durch den Höhengrad festgelegt waren, sah es im Erfrorenen Dorf das ganze Jahr über quasi gleich aus. Gleichwohl gab es Zeichen, die erkennen ließen, dass die Siedlung über den Wandel der Zeit nicht völlig erhaben war, denn die einst aus Buchenholz errichteten Frierhütten siechten seit vielen Generationen unter der Eisdecke dahin und bedurften einer niemals endenden Pflege und Instandhaltung durch ihre emsigen Bewohner. Auch gab es immer wieder Bürger, die ihr Schicksal herausforderten und ihr Glück in der Ferne suchten. Zuwanderer oder gar Touristen gab es wiederum kaum, dafür laufend lebhafte Feste in der Dorfmitte, an denen viel gegessen und getrunken wurde, und an denen sich die alteingesessenen Bürger mit viel Witz und Fantasie über die Zukunft der Gemeinde Gedanken machten.

Der Dorfälteste – ein uralter Mann mit langem Bart und täglich wechselnder Baskenmütze auf dem lichten Haupt – ermahnte die ansässigen Hildenbergler fortlaufend, sich der Folgen einer Umsiedlung des Dorfes bewusst zu werden. Er versicherte ihnen, es liege an einem geschützten Ort und könne sich auch bei politischen Spannungen zwischen den Präfekturen gut selbst versorgen, denn schließlich betrieb fast jede Familie einen eigenen beheizten Wintergarten, der auch bei den schlimmsten Wetter- und Wirtschaftsbedingungen genügend Nahrungsmittel abwarf. Eine endgültige Lösung fand man allerdings nie, und so vergingen die Jahre in Hildenberge mit schallendem Gehämmer, lebhaften Zusammenkünften und leidenschaftlichen Debatten – in fortwährendem Frieden.

Etwas mehr als ein Jahrtausend seit dem Beginn der Neuzeit war vergangen, als eines Tages der Wind besonders heftig über die Gletscherebene von Hildenberge fegte und dessen Einwohner und deren Frierhütten das erste Mal seit geraumer Zeit auf die Probe gestellt wurden. In einer einzigen Nacht fiel Schnee in unschätzbarer Menge, wobei die Schornsteine und Eistreppen an der Oberfläche komplett unter der weißen Pracht verschwanden. Unterhalb des Eises, das an den meisten Stellen nicht weniger als dreiundzwanzig Meter dick war, ließ sich nie gut erwägen, wie viel Neuschnee oben gefallen war. Doch an jenem Morgen war die Dunkelheit vollkommen, und die Dorfbewohner ahnten nichts Gutes, als sie aus ihren von Eis belagerten Fenstern emporspähten, um die Menge frischen Schnees einzuschätzen. Wie immer, nach einer niederschlagreichen Nacht, begannen die Bürger am folgenden Morgen, die unerwünschte Pulverwand von den Dachzugängen aus abzutragen, um sich mittels der Eistreppen wieder Zutritt an die Oberfläche zu verschaffen. An jenem Vormittag jedoch schien es aussichtslos. Soviel man auch nach oben grub, keine Familie schaffte es bis zum Mittag durch die verhängnisvolle Schneedecke. Zur Mittagszeit versammelten sich die gesprächigeren Dorfbewohner im Gemeindehaus in der bunt beleuchteten Dorfmitte und spekulierten zu einer heißen Tasse Holunderwein, ob die Gemeinde über die lange Eisrutsche, die durch den Gletscher hindurch ins Tal hinunterführte, allenfalls evakuiert werden sollte. Doch der vom Dorfältesten spendierte Holunderwein belebte Geist und Körper der Versammelten zweckgemäß, und mit berauschten Gemütern wurden sie sich schließlich einig, dass eben zu härteren Mitteln gegriffen werden müsse. Jetzt ins Tal zu flüchten und die Schneeschaufeln stehen zu lassen, wäre das Eingeständnis einer Niederlage gewesen, eine Schande, die das Andenken an ihre hartgesottenen Vorfahren besudeln würde. Diese hatten es damals ja auch geschafft.

Durch diese vom Dorfältesten nochmals untermauerten Stellungnahmen wuchs der Tatendrang im Dorf so stark an, dass ein regelrechter Wettkampf in die Gänge kam, welches Haus es nun als Erstes an die Oberfläche schaffen würde. Es wurde gehämmert, geschmolzen, gesägt und selbst mit Sprengen versuchte es der Bäcker nebenan. Beim Knall seiner selbstgebastelten Feuerwerkskörper schlug Loyd Lanthorn die Augen auf.

Loyd, ein schlanker junger Mann von 19 Jahren mit kurzem, schwarzem Haar und mit einem markant gezeichneten Gesicht, hatte bisher nichts mitbekommen von der verheerenden Nacht zuvor. Er drehte sich auf seinem bequemen Rundbett um, gähnte kurz genüsslich auf und schlief dann wieder ein.

Für ihn war es noch nicht Morgen oder gar Mittag, sondern noch immer mitten in der Nacht. Loyd war Student an der HHF, der weltberühmten Hochschule von Herbstfeld. Aber das tat momentan nichts zur Sache. Er hatte gerade Semesterferien und nie viel übrig fürs Aufwachen, wenn Kochen oder die Gemüseernte abseits des Dorfes auf der Tagesordnung standen. Wenn es aber darum ging, neue Weltabschnitte zu erkunden oder durch die geschwärzten Gassen Kaels zu ziehen, konnte er problemlos mehrere Tage ohne Schlaf auskommen. Loyd studierte Exploration: das Fach der Fächer, die Tugend der Neuzeit – das ultimative Abenteuer … Loyd warf sich abermals auf die andere Bettseite und schmatzte laut. Es war kurzum die beste Zeit seines Lebens, denn er tat derzeit genau das, wovon er schon immer geträumt hatte. Man könnte den Schwerpunkt des Explorationstudiums kurz als das Erkunden des äußeren Laternen- und Sternenwalds beschreiben, jener Regionen außerhalb der viereinhalb Präfekturen, von denen man sagte, sie würden sich in alle Richtungen in die Unendlichkeit erstrecken.

Diesen abenteuerlichen und mysteriösen Aspekt mochte Loyd besonders an seiner namhaften Ausbildung. Oft träumte er davon, neue, unberührte Gebiete auszukundschaften, die unbekannten Wesen dort zu studieren und zu benennen, und vielleicht sogar irgendwann, falls sich das Schicksal zu seinen Gunsten wenden sollte, eine Lösung für das berüchtigte Unlicht zu finden. Loyd war, schon seit er klein war, an Artefakten der alten Welt interessiert gewesen und buddelte, seit er von seinem Onkel in Lichterloh einen Metalldetektor zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte, leidenschaftlich gerne nach metallischen Gegenständen wie antiken Münzen, Stromartefakten, und anderen historischen Altertümern. Ohne das ungestüme Engagement, das er seither in sein Hobby gesteckt hatte, hätte Loyd sich das Studium nie leisten können, denn seine Eltern waren einfache Bauern hier in Hildenberge, die kaum Lichtbit besaßen.

Doch dann änderte sich alles: Vor zwei Jahren wurde Loyd, nachdem er der archäologischen Abteilung der HHF seine wichtigsten, historischen Funde rund um Hildenberge vorgelegt hatte, vom Prorektor der Hochschule persönlich in einen Studiengang eingeladen. Damals konnte er sein Glück kaum fassen, als ihm im Aufnahmegespräch mitgeteilt wurde, ihm würde ein nahezu kostenfreies, vierjähriges Explorationsstudium offeriert werden. Mit viel Glück, Aufwand und Unterstützung seiner Eltern, hatte er die Hürden bis zum Studienantritt überwunden und war nun seit etwas mehr als zwei Jahren stolzer Student und Schalträger der Explorationsakademie der HHF. Es konnte nicht mehr besser kommen …

Ein Poltern war zu hören, und diesmal schreckte Loyd gänzlich aus seinem selbstgefälligen Tagtraum hoch. Es klopfte abermals laut an der Zimmertür. Loyd hob den Kopf und spähte verärgert und mit zugekniffenen Augen durch den finsteren Raum. Wer konnte es wagen, ihn aus seinem wohlverdienten Schlummer zu reißen?

»Was ist denn los, ey?«, rief Loyd mit rauer Stimme in die schwarzblaue Atmosphäre hinein, die das schwache, gebrochene Licht durch das Eis vor den Fenstern versprühte.

Eine dumpfe Mädchenstimme antwortete: »Mach die Tür auf. Ich habe von einem Professor Ankerbelly eine Lichtmail bekommen, glaube aber, dass sie für dich ist. Und Mann, du wirst es nicht glauben – Schneesturzalarm! Wir sind komplett eingeschneit.«

 

Bei diesen Worten weiteten sich Loyds Augen schlagartig. Er sprang vom Bett, zog sich eine dicke Jacke über die Schultern und riss die Zimmertür auf. Vor ihm stand Keli, seine jüngere Schwester. Bis auf die Haarfarbe sahen sich die Geschwister nicht besonders ähnlich: Keli war einen Kopf kleiner, hatte buschiges, glänzend schwarzes Haar, ein rundliches Gesicht und große, dunkle, gutmütige Augen. Vor ein paar Tagen war sie dreizehn geworden. Sie strahlte Loyd an und streckte ihm ihre Handflächen entgegen. Eine eisblaue Lichtkugel schwebte darauf, von der ein Geräusch wie raschelnde Blätter ausging.

»Hey, was soll das? Warum hast du meine Nachricht empfangen? Gib sie sofort her«, fuhr Loyd seine Schwester an.

Loyd wedelte mit seiner vierfingrigen linken Hand über Kelis Handflächen, wobei die Sphäre auf die seinen überging und er sich die Botschaft ans Ohr hielt. Die besorgte Stimme von Professor Ankerbelly war zu vernehmen:

»Hallo, ich bin’s, Professor Ankerbelly von der Hochschule von Herbstfeld. Diese Nachricht ist streng geheim. Bitte erzähl niemandem davon. Ich bitte dich, unverzüglich zum Herbstfeld Campus zu kommen. Es geht um eine Expedition ins Geschwärzte Zentrum Kael und die Sicherheit des gesamten Laternenwalds. Wir haben auf den Überwachungsstrukturen im Zentrum etwas entdeckt, das wir dringend mit dir zusammen untersuchen müssen. Ich kann dir per Lichtmail nichts Genaueres mitteilen. Stiehl dich davon, wenn es nicht anders geht, aber komm so rasch wie möglich mit der Wasserbahn zur Uni, und erzähl niemandem davon! Ich warte im Büro B 100 im Hauptgebäude auf dich.«

Als Loyd die Nachricht zu Ende gehört hatte, spurtete er sofort los. Er stürmte an seiner Schwester vorbei, die ihm: »Hey, was ist los? War die Lichtmail tatsächlich für dich?«, nachrief, doch Loyd war bereits die alten, knorrigen Holzstufen nach oben gepoltert und raste den hölzernen Korridor bis zum Dachsteig entlang. Am Ende des Ganges, beim Übergang zur Eistreppe, entdeckte er seine Eltern.

»Morgen, Loyd«, grüßte ihn sein Vater amüsiert.

Er war ein kleiner, hagerer Mann, der seine allmählich ergrauenden Haare wie Loyd ganz kurz trug. Zudem hatte er eine knollige Nase und war, trotz seiner schmächtigen Statur, mit einer tiefen, fülligen Stimme gesegnet.

»Sorry Paps, keine Zeit. Ich habe eine eilige Nachricht von der Uni erhalten und muss sofort los. Es scheint um das Geschwärzte Zentrum zu gehen, und eine Probenexpedition ist, glaube ich, auch geplant. Was ist hier eigentlich passiert?«

»Schneesturz«, meldete sich Loyds Mutter mit verschränkten Armen. Sie war so groß wie Loyd und hatte langes, dunkelbraunes Haar.

»Das haben wir noch nie erlebt; so viel Schnee in einer Nacht. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie viel da oben noch auf uns wartet. Der reinste Albtraum.«

»Arika, Liebes, wir kriegen das schon wieder hin. Stell dir nur vor, wie schwer unsere Urururgroßeltern es hatten, als das Dorf das erste Mal im Schnee begraben wurde«, sagte Toss, Loyds Vater, mit unterdrückter Freude.

Toss war ein Unwetterfanatiker und immer aus dem Häuschen, wenn das Wetter sich in irgendeiner Weise »wüst« verhielt. Dazu kam, dass er bei der Versammlung einer jener unerschrockenen Dorfbewohner gewesen war, die den Wettstreit gegen die Natur bei einer Tasse Holunderwein angenommen hatten.

»Verdammt, ich würde euch ja sofort helfen, aber ich muss dringend los!«, sagte Loyd mit sich überschlagender Stimme und biss sich dabei auf die Unterlippe.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du mit der Rutsche zurzeit überhaupt ins Tal runterkommst. Die Talstation könnte auch zugedeckt sein«, bemerkte Toss nachdenklich.

»Was hast du eben gesagt?«, entfuhr es Loyds Mutter plötzlich, als hätte sie erst jetzt realisiert, was ihr Sohn eben von sich gegeben hatte. »Du gehst auf eine Abenteuerreise? Heute? Kommt gar nicht in Frage!«

»Aber –«, warf Loyd schnell ein, doch seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.

»Erstens: Wir brauchen dich hier in deinen Ferien. Weißt du noch? Die Gemüseernte erledigt sich nicht von selbst, und mit unseren alten Knochen schaffen wir das auf die Dauer nicht mehr allein.«

»Ja, aber –«

»Wer hat behauptet, er würde die Kosten für das Zimmer im Studentenheim mit vollem Einsatz zurückzahlen? Dieser Doktor Ankerbelly oder wie dein hochverehrter Lehrer heißt, wird während den Semesterferien auch ohne dich auskommen. Es gibt schließlich genug Explorationsstudenten.«

»Nun ja, aber –«

»Und zweitens ist es zurzeit einfach zu gefährlich, überhaupt irgendwo hinzugehen, solange wir nicht wissen, wie viel Neuschnee der Schneesturz gebracht hat.«

Loyds Mutter sah ihn mit strenger Miene an. Einen Moment lang quoll eine Welle von Ärger in Loyd auf, dann schlug er mit der Faust gegen die Holzwand neben der Dachtreppe und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Verdammt. Na gut. Ja – ich hab’s versprochen. Aber wenn die Welt wegen euch untergeht, ist es nicht meine Schuld!« Er funkelte seine Eltern mürrisch an. »Ich gehe aber, sobald der Schnee geschmolzen und die Ernte erledigt ist, ok? Nun, lasst mich mal durch.«

Er schob seine Eltern beiseite und begab sich vorsichtig den Dachabsatz hinauf, bis er am Fuß der verstopften Eistreppe ankam. Er steckte die Hand in seine Hosentasche, zog einen kleinen schwarzen Beutel heraus, schüttelte sich einen hell leuchtenden Kristall auf die Hand und strich sich diesen über die Handfläche seiner Linken. Sofort begann heißer Dampf, von seinen Händen aufzusteigen. Diese setzte er an die blauglänzende Schneewand, wo bereits seine Eltern versucht hatten, die Stufen auf traditionelle Weise, per Schaufel, wieder freizumachen und begann mit der Schneeschmelze.

Überall im Dorf waren die Leute mit Schmelzen beschäftigt. Man traf sich auf mittlerem Wege in den Eispassagen oder auf dem Gemeindeplatz. Man lachte, man argwöhnte, und doch hörte man bis zum Abend von nirgends über den schwer erhofften Durchbruch. Auch am nächsten Tag und am Tag darauf gab es keine Erfolgsbekundungen. Dafür versammelten sich die Einwohner im Rathaus und verteilten heiße Suppe aus dem Tal, die per unterirdischer Eisrutsche heraufgebracht worden war.

Von der Zuversicht, dass man es in den kommenden Tagen endlich nach oben schaffen würde, war nicht mehr viel zu spüren. Skepsis breitete sich unter den Bürgern aus und das Thema, das Dorf doch lieber durch die Eisrutsche zu evakuieren, schlich sich langsam wieder in die nicht mehr ganz so gesprächigen Runden.

Dann geschah etwas, mit dem nicht einmal der Dorfälteste gerechnet hatte. Durch das Dauerschmelzen des Eises und Schnees, hatte sich am Grund der Siedlung ungewöhnlich viel Wasser angesammelt. Auf dem gesamten Gelände unterhalb des Gletschers drohte eine Überschwemmung, während über ihnen die Ein- und Ausgänge der Frierhütten nach wie vor verstopft waren. Der Dorfälteste ordnete deshalb am Abend des zweiten Tages nach dem Unwetter an, mit dem Schmelzen aufzuhören. Zu diesem Zeitpunkt war das Erdgeschoß der meisten Häuser bereits mit eisigem, knöcheltiefem Wasser durchflutet. Manche Familien brachten es zustande, das Wasser mit Altem Sonnenlicht, wie es Loyd besaß, von ihren Hauswänden abzuweisen. Doch trotz sofort eingeleiteter Maßnahmen stieg der Wasserpegel weiter an, bis der Dorfälteste am Ende des dritten Tages nach dem Schneesturz alle Familienoberhäupter zu einer erneuten Versammlung im Rathaus einberief.

Am Abend vor der Zusammenkunft, als Loyd, Keli und deren Eltern in der warmen Stube im ersten Stock ihrer großen Frierhütte saßen und versuchten, ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen, nahm das Leben der Familie Lanthorn einen unvorhergesehenen Lauf. Ein unheimliches Ächzen und Knarzen war von unter dem Fußboden, sowie über der Stubendecke zu vernehmen. Das Geräusch schien nicht aus unmittelbarer Nähe zu kommen, aber es ließ erahnen, dass es die umliegenden Gletscherschichten waren, die sich aneinander rieben. Selbst für die Einwohner Hildenberges, die an Geräusche aus dem Eis gewöhnt waren, stellten diese keine üblichen Laute dar. Loyd, der am Esszimmertisch über drei Lehrbüchern zugleich gebrütet hatte, hob den Kopf bei dem Lärm. Seine scharfen Augen fixierten zuerst die Holzdecke des Zimmers, an der ein warmes, rotes Licht brannte, dann sank sein Blick auf seine Mutter, die zeitgleich ihre Augen von der Decke abwandte, während ihr Mund halb offenstand. Loyds Vater, der gerade dabei gewesen war, das abgewaschene Geschirr abzutrocknen, fand als erster zu seiner tiefen Stimme zurück, die nun sehr ernst klang: »Das hört sich gar nicht gut an. Ich glaube, das alte blaue Eis steht durch den vielen Neuschnee ziemlich unter Druck. Bin mir nicht sicher, ob es nicht besser wäre, zur Talstation hinunterzurutschen, die Bahn nach Lichterloh zu nehmen und nicht auf die morgige Versammlung zu warten.«

Arika war ans Fenster des Esszimmers getreten und spähte in die nachtblaue Eiswand hinein, die von den beleuchteten Fenstern der umliegenden Frierhütten erhellt wurde. Keli und Loyd standen beide auf und taten es ihr gleich. Das Poltern wurde lauter, dann wieder leiser – dann plötzlich fing der Boden an zu beben und das Ächzen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Donnern an. Loyds Vater schob den Teller, den er eben abgetrocknet hatte, in den hölzernen Geschirrschrank neben dem Herd und rief, mit raschen Schritten zur Esszimmertür eilend: »Kommt, wir packen unsere Sachen. Wir haben keine Ahnung, was da oben vor sich geht. Es ist besser, wenn wir sofort aufbrechen. Ich schick eine Nachricht zu Onkel Nonpe. Wir holen noch unsere Eltern, dann brechen wir sofort auf. Los jetzt!«

Alle hasteten in ihre Zimmer und fingen an, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen. Loyd klemmte seine wichtigsten Bücher unter den Arm und stopfte diese, seinen Studentenschal, sämtliche Laborutensilien und den Metalldetektor in seine Schultertasche und begab sich daraufhin vor das Zimmer seiner Schwester nebenan. Währenddessen sprach er eine Lichtmail für Ankerbelly, in der er ihm flüchtig die Umstände in Hildenberge erläuterte. Seine Eltern waren noch immer oben in ihrem Schlafzimmer.

»Keli, bist du bereit? Lass das Blattspiel liegen! Das kannst du unmöglich mit nach Lichterloh nehmen.«

»Du verstehst das nicht«, erwiderte Keli knapp, wobei sie fieberhaft versuchte, hunderte Spielkarten, die überall auf dem Zimmerboden verteilt lagen, zu bündeln und in eine kleine Stofftasche zu stopfen. »Dafür habe ich mein ganzes Leben lang gespart.«

Plötzlich gab es einen markerschütternden Knall, und das ganze Haus erbebte bedrohlich.

»Ach du zwickendes Schmelzwasser!«, entfuhr es Loyd mit panischer Stimme.

Das Geräusch von zerberstendem Holz war zu hören, und Wasser fing an, durch Risse an der Decke zu strömen.

»MAM, PAPS, NEIN!«, brüllte Keli und stürmte Richtung Treppe los, die ins obere Geschoss führte. Doch Loyd war schneller. Im Bruchteil einer Sekunde signalisierte sein ausgeprägter Überlebensinstinkt, was zu tun war, und gerade noch rechtzeitig konnte er seine Schwester von hinten packen. Er umklammerte sie um die Hüfte und, obwohl Keli wie verrückt zappelte, hob Loyd sie auf und bugsierte sie grob die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Kelis halb gefüllter Rucksack und Loyds Unitasche waren im mittleren Stock liegen geblieben. Nun sprudelte auch schon eisiges Wasser durch alle möglichen Rinnen und Öffnungen ins Erdgeschoß hinunter. Loyd stieß mit dem Fuß die hölzerne Haustür auf, worauf eine eiskalte, kristallblaue Wasserwelle über sie hinwegbrandete. Nach der ersten Flut war der Wasserstand noch kniehoch. Vor ihnen erstreckte sich der altbekannte unförmige Eistunnel, der nach ein paar Metern nach links weg bog. Loyd warf Keli, die wild um sich schlug, vor sich ins Wasser. Keli sprang sofort wieder auf. Sie wollte zurück ins Haus jagen und rammte Loyd dabei in die Bauchgegend, woraufhin dieser ihr einen zünftigen Haken verpasste. Keli flog rücklings ins eisige Wasser.

»Keli!«, brüllte Loyd mit vor Furcht verzerrter Grimasse. »Du Dummkopf, wir haben keine Zeit! Das Eis bricht über uns zusammen. Mam und Paps können wir jetzt nicht helfen.«

Er watete zu Keli, strich sich rasch mit dem Lichtkristall über die linke Handfläche und machte dann eine einhüllende Bewegung über Kelis Profil. Anschließend tat er dasselbe bei sich. Unterdessen wurden große Stücke Eis und Holz durch die Haustür getrieben.

»Das sollte uns vor der Kälte bewahren, bis wir im Tal sind«, rief Loyd durch das anschwellende Tosen des Wassers, das aus Haustür und Fenstern sprudelte. Keli schien den Tränen nahe, wehrte sich aber nicht weiter und ließ sich Richtung Tunnelwindung fortbewegen. Als sie um die altbekannte Kurve des Tunnels bogen, war das Rathaus nicht mehr allzu weit entfernt. Von weither sahen sie, dass sich etwa zwei Dutzend Personen vor dem traditionell verzierten, hölzernen Gebäude versammelt hatten. Es war nahezu stockdunkel, doch konnten sie erkennen, wie rote Lichter über den Köpfen der Masse umherflogen. Loyd und Keli eilten, so schnell sie konnten, auf die Ansammlung zu.

 

»Diese Lichter. Was machen die Leute da?«, keuchte Keli angsterfüllt.

»Das sind Gravitationslichter. Wahrscheinlich wird Licht gebündelt, um das Eis vor dem Einbrechen zu bewahren«, rief Loyd, ohne sich umzudrehen.

Als sie der Menge und ihrem buntfarbenen Lichtspiel näherkamen, erkannten sie, dass einige Männer, darunter ihr Großvater, ihre gefalteten Hände mit verkrampften Gesichtern nach oben auf die donnernde Eisdecke gerichtet hatten. Sie schrien den Geschwistern entgegen: »Loyd, Keli! Flüchtet ins Tal! Das Eis bricht über uns zusammen. Wir wissen nicht, wie lange wir es noch aufhalten können.«

Loyd zögerte keinen Augenblick. Er griff Keli bei der Schulter und zusammen rannten sie an der Licht bündelnden Gruppe vorüber, am Rathaus vorbei, weiter in einen dunkelviolett funkelnden Gang, bis sie nach mehreren Windungen vor der Berg-Rutschstation ankamen. Das Tor des Gebäudes stand offen. Der Schalter, auf den man üblicherweise eine Hand hielt, um mit Altem Sonnenlicht zu bezahlen, war verlassen und schien nicht zu funktionieren. Sie gingen auf den Eingang der Rutsche zu, die sich von hier aus zirka zweieinhalb Kilometer in die Tiefe erstreckte. Loyd schob Keli vor den gewaltigen, rundlichen Schacht der Rutschanlage. Dann drehte er sie um, sodass sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

»Keli, ich möchte, dass du ins Tal rutschst und bei der Haltestation der Wasserbahn nach Herbstfeld auf mich wartest.«

»Was soll das heißen? Kommst du nicht mit?«, fragte Keli in zittrig weinerlichem Ton.

»Ich werde den Leuten vor dem Rathaus helfen, die Eismassen zu bewältigen. Ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen.«

»Aber, ich kann auch helfen –«

Doch schon hatte Loyd Keli einen Schubs gegeben. Keli landete rücklings im Schacht der Rutsche, wo sie mit wutentbranntem Gebrüll und immer schneller werdend in der Dunkelheit verschwand. Loyd watete schwer atmend, so schnell er konnte, durch das Wasser zur Tür der Station hinaus und war schon halbwegs durch den Tunnel zurück, als der Boden unter seinen durchtränkten Füßen abermals erzitterte. Das Krachen, das vom Eis ausging, war zu einem trommelfellzerfetzenden Donnern angeschwollen. In der Ferne konnte er Leute schreien hören. Das Beben war so intensiv, dass er gezwungen war, ins Wasser zu knien. Dann, urplötzlich und zu Loyds blankem Entsetzen, kam eine blaue Wand eisklaren Wassers aus der Tunnelbiegung auf ihn zugeschossen. Loyd wurde von den Füßen gerissen und Richtung Station zurückgeschwemmt. Mit ungeheurer Kraft wurde er in die Rutschanlage hineingepresst, prallte mit dem Kopf gegen die Barrieren und wurde schließlich in das dicke Rohr der Eisrutsche hineingesogen, in das er noch vor einigen Augenblicken Keli gestoßen hatte. Alles um ihn herum versank in Finsternis.

Tanzende weißgoldene Lichtpunkte bewegten sich auf und ab. Es waren schöne Lichter, Farben, die Loyd nur von zwei Orten her kannte. Der eine Ort waren Lichtfabriken, die er während seines Studiums auf Exkursionen besucht hatte. Lichtfabriken waren Anlagen, die um Sonnenlöcher herum gebaut wurden und den Präfekturen als Energiequellen dienten. Der ungefilterte Teil des Alten Sonnenlichts flutete tagsüber aus jenen gewaltigen Röhren heraus, prallte an den himmlischen Scheiben ab und warf blaue, grüne, und rote Farbtöne auf die Fläche zurück, die man als »Laternenwald« bezeichnete. Abends erloschen die Strahlen, die aus den Sonnenlöchern drangen, bis sich die Schächte am Morgen darauf wieder mit Altem Sonnenlicht füllten. Die Zonen weiter außen, die außerhalb jenes Lichtkreises lagen, waren wiederum als »Sternenwald« bekannt, über dessen Regionen es grundsätzlich nur sogenannte Sternfäden gab, die sich kreuz und quer über den Himmel verrenkten und für eine düstere Atmosphäre sorgten. Da vor allem Menschenwesen und andere intelligente Wesensarten vom Licht der himmlischen Scheiben profitierten, bewohnten sie dieses vorteilhaft beleuchtete Gebiet schon seit dem Beginn der Neuzeit, obschon es weiter außen ebensolche Sonnenlöcher gab, die nur darauf warteten, von Explorern, wie Loyd einer war, gefunden und bewirtschaftet zu werden.

Loyd nahm einen tiefen Atemzug und begann augenblicklich zu husten. Dem Geruch nach zu urteilen, befand er sich wohl nicht in einer Lichtfabrik. Es roch stark nach Waldboden und Tannennadeln und ein bisschen nach Sumpf. Der einzige Ort, wo es sonst noch weißes Licht gab, lag im Laternenwald selbst. Tief in dessen weiten Waldflächen gab es Wesen, die selbst kleine Mengen weißes Licht erzeugen konnten. Loyds Augen gewöhnten sich allmählich an seine Umgebung. Sein Blick fiel auf kleine helle Lichtgeistchen, die weit oben im Astwerk tanzten und die Umgebung feierlich beleuchteten. Er musste tief im Laternenwald sein, denn in der Nähe von Menschenwesen waren diese Geschöpfe normalerweise nicht anzutreffen. Die Lichtgeistchen gehörten zur Familie der Lichtinsekten und Loyd wusste, dass sie den Menschenwesen oft als Lichtspender an abgeschiedenen Rastplätzen dienten und die Wegweiser auf langen Expeditionen in die Weiten der unerforschten Wälder verkörperten.

Loyd versuchte, seinen Kopf zu bewegen, um die Umgebung zu erspähen. Ein kleines Feuer flackerte nicht weit entfernt von der Holzbank, auf der er lag. Loyd fühlte sich schrecklich. Sämtliche Gliedmaßen schmerzten. Er konnte sich nicht erinnern, was passiert und warum er mitten im tiefsten Laternenwald aufgewacht war. Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber nur ein klägliches Stöhnen hervor. Etwas bewegte sich in der Nähe.

»Loyd!«, ertönte eine vertraute Mädchenstimme. »Du bist wach.«

Loyd hörte schnelle Schritte. Das besorgte Gesicht seiner Schwester tauchte vor seinen Augen auf und verdeckte seine Sicht auf die glitzernde Baumkrone.

»Loyd, kannst du mich hören?«, fragte Keli vorsichtig und neigte ein Ohr nahe an den Mund ihres Bruders. Loyd versuchte vorsichtig, seine Arme zu bewegen. Sie schienen nicht gebrochen zu sein. Es gelang ihm, eine Hand kurz anzuheben, er ließ sie dann aber kraftlos wieder sinken.

»Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, du wärst tot«, flüsterte Keli mit bebender Stimme. »Als ich unten in der Tal-Rutschstation ankam, wurde auf einmal der ganze Berg zu einer Eislawine. Zum Glück hat mir die Kälte nichts ausgemacht, sonst wäre ich in der Sturzflut entweder erfroren oder ertrunken. Und dann plötzlich, als ich mich an einem Baum festklammerte, sah ich dich im überquellenden Flussbett vorbeitreiben. Brühwarme Schneesuppe, ich habe mir fast in die Hose gemacht.« Keli schluchzte; sie hatte Tränen in den Augen. Sie versuchte sich an einem mutigen Grinsen, das ihr aber merklich misslang.

»Wo sind wir?«, wollte Loyd leise stöhnend wissen.

»Im Laternenwald südöstlich der Tal-Rutschstation. Ich glaube, zu Fuß sind es ein paar Stunden bis nach Herbstfeld. Ich vermute, alles nördlich von hier und auch die Bahnlinien liegen unter Wasser und Eis begraben. Ich habe ein Feuer gemacht, um unsere Kleider zu trocknen.«