Die Laternenwald-Expedition

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Die Laternenwald-Expedition
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Die Lanthorn-Chroniken Teil 1

Die Laternenwald-Expedition

Benjamin C. Stutz

Roman

Ungekürzte Ebook -Fassung

Januar 2022

Texte: © 2021 Copyright by Benjamin Christoph Stutz

»Die Laternenwald-Expedition« ist Teil 1 der Trilogie: »Die Lanthorn-Chroniken«

Teil 2: »Die Sternenwald-Expedition« (vsl. 2023)

Teil 3: »Die Götterwald-Expedition« (vsl. 2025)

Erste Auflage

Deutsche Originalausgabe

Umschlaggestaltung: © 2021 Copyright by Stephanie Stutz

https://www.artstation.com/stephaniestutz

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin


Auch als Hörbuch erhältlich

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Neues »Altes Sonnenlicht«

Das wundersame Unlicht

Die drei Botschafter von Lichterloh

Tiefschwarzer Abgrund

Gilbert, der Serau

Das Tal des Ewigen Regens

In der dunkelsten Schwärze

Genius Loci – Die Magie eines Ortes

Lux

Unerwartete Festlichkeiten

Attentat

Beeren, Pilze, Pappelpflaumen

Der Wahrheit auf der Spur

Querfeldein ist auch ein Weg

Der Weg des Lebenskollektivs

Die Unendlichkeit naht

Epilog – Ankunft

Prolog

Es herrschte völlige Finsternis. Das rhythmische Geräusch schwerer Tropfen, die auf hartem Grund aufschlugen, hallte durch die Dunkelheit. Jasmin wusste nicht, wo sie war, doch die rätselhaften Laute kamen aus unmittelbarer Nähe und erinnerten an eine Kalksteinhöhle, in der die Tränen vergangener Epochen auf Stalagmiten zerbarsten und als Echo verebbten. Nur in der weiten Ferne entdeckte sie ein kaum wahrnehmbares saphirblaues Brillieren im klaffenden Schwarz. An diesem Ort gab es weder Wind, noch Hitze oder Kälte. Jasmin verspürte keine Angst. Sie vermutete, dass dies ein verrückter Traum sein musste, oder – war sie etwa tot? Instinktiv berührte sie ihr Gesicht. Es fühlte sich glatt und makellos an. Ihre Fingerspitzen wanderten weiter und ertasteten den Ansatz ihres langen blonden Haares, das sich ihr vertraut um die Schultern schmiegte.

Sie sah sich um, doch schien es hier tatsächlich nur diese eine, ferne Lichtquelle zu geben. Dann, ganz allmählich, schien sich der Takt, der von den Tropfen vorgegeben wurde, von ihr wegzubewegen, in die Richtung, wo der blaue Schein ins makellose Schwarz gezeichnet war. Jasmin konnte nicht sagen, wie weit das mysteriöse Farbenspiel entfernt lag, aber sie fühlte ein tiefes Verlangen, sich diesem zu nähern.

Intuitiv entschied sie sich, den Lauten zu folgen, um deren Geheimnis auf den Grund zu gehen. Als sie ihre Beine in Bewegung setzte, bemerkte sie sofort, dass sie auf etwas Weichem ging. Die Masse unter ihren Füßen fühlte sich samtig an und erweckte beinahe den Eindruck, als ob sie auf Wasser wandeln würde. Mit bedachten Schritten folgte sie den vorauseilenden Tropfen, die unterdessen kaum noch zu hören waren.

Obwohl das blaue Licht in der Ferne nur schwächlich schimmerte, fühlte es sich dennoch stärkend an. Je näher Jasmin ihm kam, desto mehr gewann der Blauton an Kraft.

Für eine ganze Weile streifte sie durch den scheinbar leeren Raum, dann endlich kam sie den Tropflauten wieder näher. Das undeutliche Leuchten nahm nun zusehends Gestalt an: Es war – ein Fluss? Als Jasmin sich dem durchscheinenden Gebilde noch weiter näherte, erstarb der wegweisende Takt mit einem lauten »Blob«.

Der letzte Tropfen hatte kreisförmige Wellen auf der zuvor stillen Oberfläche des Flusses aufgescheucht, die dessen Strom in Bewegung setzten. Die Wellen breiteten sich aus und gewannen rasch an Höhe. Jasmin schaute dem Spektakel verwundert zu. Einen solchen Traum hatte sie wahrlich noch nie gehabt.

Plötzlich schreckte sie zurück. Unter der merkwürdigen, nebligen Wasseroberfläche kamen die Umrisse durchsichtiger Gestalten zum Vorschein, die der Bewegung der Wellen folgten und in Rückenlage mit dem Wasserlauf dahintrieben. Jasmin stockte der Atem. Sie fragte sich, ob das Geister waren. Der Traum ließ nicht zu, dass Jasmin Angst empfand, auch weil keine Gefahr von den Erscheinungen auszugehen schien – und dennoch war ihr bewusst, dass dies ein sehr, sehr seltsamer Traum war.

Als die ersten der Gestalten an ihr vorbeizogen, erkannte Jasmin, dass deren Augenlider geschlossen waren und deren Hände auf den Brustkörben gefaltet lagen; fast so, als würden sie beten. Der Fluss nahm an Breite zu, und immer mehr dieser sonderbaren Erscheinungen zogen, aus dem Nichts auftauchend, friedlich und still in die unendliche Weite davon. Jasmin überlegte, was dieses Schauspiel bedeuten könnte und weshalb sie trotz der Skurrilität keinen Unmut empfand.

Gedankenverloren wich sie ein paar Schritte zurück, um der sich füllenden Geisterbahn Platz zu machen. Nach einiger Zeit war das Flussbett so breit geworden und dicht bevölkert, dass Jasmin das schwarze Ufer auf der gegenüberliegenden Seite nicht mehr zu erkennen vermochte.

Noch immer blickte sie unentwegt auf die nun zu Hunderttausenden an ihr vorbeitreibenden, höchstwahrscheinlich toten Menschen und Tiere. Jäh verspürte sie den Drang, die trübblaue Oberfläche des Flusses mit den Fingern zu berühren. Nach kurzem Zögern näherte sie ihren Zeigefinger dem treibenden Strom. Sie tippte die leuchtende Masse nur ganz kurz mit der Fingerspitze an.

Zuerst schien es, als würde nichts geschehen, dann hob sie den Blick und entdeckte zu ihrer Überraschung ihre Mutter. Sie hatte die Augen weit geöffnet und lächelte Jasmin zu. Mit den Lippen formte sie Worte, aber die Laute schienen nicht durch die makellose Wasseroberfläche dringen zu können. Wie gebannt sah Jasmin ihr hinterher. Dann glitt ihr Vater vorbei. Er lächelte ebenfalls herzlich und winkte ihr freudig zu. Jasmin konnte sich nicht erklären, was das zu bedeuten hatte. Was war das nur für ein bizarrer Traum – und warum konnte sie diesem Drama beiwohnen, ohne dabei vor Trauer zusammenzubrechen?

Als letztes zog ihr jüngerer Bruder vorüber, der begeistert mit den Händen fuchtelte. Jasmin war inzwischen dermaßen konsterniert, dass sie begann, am Flussufer entlangzulaufen, um auf Höhe ihrer Familienmitglieder zu bleiben. Wenn ihre Familie schon dahinschied, dann würde sie mit ihnen gehen. Sie erhöhte ihr Tempo, doch vergebens; sie rannte schneller und schneller, flog förmlich dahin, bis der Verlauf des Stroms jäh steil anstieg, als ob die Geistererscheinungen allesamt dem letzten Gericht im Himmel entgegensteuern würden.

Eine laute, undefinierbare Stimme, die von allen Seiten zugleich zu kommen schien, verkündete: »SEI BEREIT.«

Jasmin war schweißgebadet, ganz anders als noch vor einigen Augenblicken im Zwielicht des Geisterflusses. Sie setzte sich auf. Ihr Kopfkissen war nass vor Tränen und ihr blondes Haar völlig zerzaust. Hart schlug sie mit der Faust gegen das Kissen, um die Spannung in ihrem Inneren abzubauen.

»Was für ein bescheuerter Traum«, murmelte sie dumpf in ihre zitternde Hand, mit der sie sich Schweiß und Tränen vom Gesicht wischte. Nach einem tiefen Atemzug machte sie die Lampe auf dem Nachttischchen an, die das kleine Schlafzimmer ausreichend beleuchtete. Sie war erst kürzlich nach Kobe gezogen, um ihren ersten Job anzutreten, und demensprechend war die Einzimmerwohnung auch noch nicht fertig eingerichtet. Eigentlich hatte Jasmin die meisten Umzugskartons noch nicht einmal ausgepackt.

Überzeugt, nicht mehr einschlafen zu können, zog sie sich eine Jacke über, schob ihr Smartphone in die Hosentasche und griff nach dem Schlüsselbund auf dem Tisch. Sie musste an die frische Luft. Jasmin schloss die Eingangstür hinter sich, nahm den Lift ins Erdgeschoss und trat durch die automatisierte Schiebetür hinaus auf die leere Straße.

Es war 2 Uhr morgens. Sie atmete begierig die kühle Nachtluft ein und begann raschen Schrittes, auf dem Bürgersteig entlang zu gehen. Es war zum ersten Mal seit drei Tagen nachts wieder einigermaßen dunkel, da gewaltige Gewitterwolken aufgezogen waren. An der ersten Kreuzung bog sie links ab. Nun waren die waldbewachsenen Gipfel des Rokko-Hügelzugs über den Dächern Kobes zu erkennen. Eine dünne Nebelschicht lag über ihnen, wobei das Licht der Stadt in einem orangen Farbton an den Schleiern hängen blieb.

 

Jasmin ging oft in diesen Wäldern spazieren – wobei sie stundenlang über ihre Lebensentscheidungen nachdachte –, und genau da wollte sie jetzt hin.

Obwohl es mitten in der Nacht war, ließen die Straßenlaternen und Werbetafeln die Verkehrsadern der japanischen Großstadt in buntem Farbtreiben erstrahlen. Japanische Städte waren generell sehr sicher und hell beleuchtet, und deshalb wagte sich Jasmin auch nachts allein hinaus. Ein paar angetrunkene Männer in Businessanzügen torkelten fröhlich schwatzend an ihr vorbei.

Jasmin wollte in Ruhe über alles nachdenken. Was hatte der Traum bloß zu bedeuten? Oder war es einfach nur ein Albtraum gewesen? Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen. Jasmin warf einen Blick auf ihr Smartphone. In der mitteleuropäischen Zeitzone war es noch immer früher Abend. Oder vielleicht wäre es besser, ihrem Freund Masayuki eine Nachricht zu schicken? Nein – morgen war Samstag und sie planten zusammen einen Ausflug auf den berühmten Berg Fuji. Ihn jetzt aus dem Schlaf zu scheuchen wäre taktlos. Sie würde ihm morgen alles in Ruhe erzählen, wenn sie sich im Shizuoka-Bahnhof in der Nähe des berühmtesten aller Vulkane Japans treffen würden.

Der Weg verengte sich und begann leicht anzusteigen. Ein schwacher Nieselregen hinterließ seine feuchten Spuren auf Jasmins Wangen und kündigte das bevorstehende Unwetter an. Sie hielt inne und dachte für einen Moment ans Umkehren – doch dann erschien ihr wieder ihre Abschied nehmende Familie vor ihrem geistigen Auge, und dieser Anblick trieb sie weiter.

»Nun sei bereit – bereit wofür?«, flüsterte Jasmin in nachdenklicher Zwiesprache.

Ein durchdringendes Donnergrollen fegte in aufwallenden Schüben über das Bergmassiv vor ihr.

Was sollte das bedeuten? Und wem hatte die Stimme gehört? Es hatte fast so geklungen, als wären die Worte von außerhalb des Traumes zu ihr hindurchgedrungen. Gedankenversunken erreichte Jasmin den Waldrand. Die Abstände zwischen den Laternen wurden immer grösser und der Nebel verschluckte unterdessen den größten Teil der trüben Lichtstrahlen zwischen ihnen. Trotz des Dunstvorhangs und der zunehmend beunruhigenden Düsternis ging Jasmin auf den steinernen Tunnel vor sich zu. Hier war sie schon mehrmals durchgekommen. Die Tunnelwände waren übersät mit Liebesbekenntnissen von Pärchen, die hier massenweise vorbeikamen, um die Aussicht auf den Panoramaplattformen weiter oben zu genießen.

Doch dies kümmerte Jasmin jetzt nur wenig. Wollte Gott oder irgendein Geist ihr vielleicht etwas Bestimmtes mitteilen? War der Traum womöglich eine Art Vision? Vor einiger Zeit hatte sie mal einen Traum gehabt, in dem ganz am Ende ihr Name gerufen worden war. Daraufhin war sie abrupt aufgewacht. Viel mehr jedoch hatte jener Nachtmahr damals nicht bewirkt.

Der Tunnel lag nun einige Schritte hinter ihr. Jasmin blickte sich um. Bisher war ihr entgangen, dass es hier oben auf den Waldstraßen mit fortschreitendem Anstieg immer weniger Straßenbeleuchtung gab.

Nach kurzem Umsehen erkannte sie, wo sie sich befand. Der Weg vor ihr würde sie zu einer Aussichtsplattform hochführen. Rechterhand allerdings fiel ihr Blick auf eine schmale, geteerte Straße, die sich im Schein der fernen Weglampen nur undeutlich zu erkennen gab. Es hatte sich Laub auf der Einfahrt angesammelt, als wäre hier schon länger niemand mehr durchgekommen.

Jasmin erinnerte sich, wie sie von viel weiter oben einmal einem steilen Waldpfad hinab gefolgt war, der sie durch das Dickicht auf diesen Weg hier hinuntergeführt hatte. Ihr fiel jäh wieder ein, wie sie damals auf ihrem Weg ein unheimliches, vergittertes Loch im Berg erspäht hatte. Wozu jener Stollen diente, hatte sie nie herausgefunden, aber er war riesig gewesen und mit einem dicken Metallgitter unzugänglich gemacht worden. Jasmin dachte schaudernd an jenen Moment zurück, als sie ihr Smartphone als Taschenlampe benutzt hatte, um durch die Gitterstäbe hindurch zu leuchten. Dahinter war ein Tunnelschacht gelegen, der tief in das Herzen des Berges hinein zu führen schien. Dazumal war sie mit einem flauen Gefühl nach Hause gegangen. Sie hatte sich seither oft gefragt, wofür der Tunnel gebaut worden war.

Damals war es Mittag und hell gewesen; jetzt war es stockdunkel, neblig und der Regen gewann rasch an Stärke. Jasmin hatte keinen Schirm mitgenommen, und auf der Aussichtsplattform würde sie ohnehin nichts sehen können. Sie dachte erneut ans Umkehren, als rechts von ihr in der Düsternis, dort wo sie den Eingang jenes unheimlichen Bergwerks vermutete, ein bläulicher Lichtkegel aufflackerte.

Jasmin erschrak so sehr, dass sie rücklings auf die klitschnasse Straße fiel und sich die Hände aufschürfte. Das Licht war nur für einen kurzen Augenblick zu sehen gewesen und bereits wieder erloschen. Es hat verdammt viel mit dem blauen Fluss in ihrem Traum gemein, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie richtete sich mühsam auf. Völlig durchnässt und von Angst erfüllt, war sie schon dabei, auf dem gleichen Weg zurück in die Stadt zu laufen. Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke: Was, wenn dies ein Zeichen war? Was – wenn eine höhere Macht ihr den Weg weisen wollte?

Ihr Kopf riet ihr, sich so rasch wie möglich aus dem Staub zu machen, aber die anschwellende, furchtgetriebene Neugier in ihrem Herzen hielt sie an Ort und Stelle zurück.

Unterdessen hämmerten schwere Regentropfen auf ihren Kopf. Aus dem Wald brauste eine frische, nach Grün riechende Böe heran und zerrte an ihrer Windjacke. Jasmin holte tief Luft; sie hatte sich entschieden. Sie musste wissen, was es mit diesem Licht auf sich hatte.

Geduckt und bemüht, möglichst kein Geräusch zu verursachen, bog sie in die dunkle Straße ein. Ihr Smartphone hielt sie fest umklammert, für den Fall, dass sie es brauchen würde. Der Wald um sie herum wurde dichter, wobei die letzte Straßenlaterne hinter ihr kaum noch Licht spendete. Nach etwa einer Minute hatte sie die Dunkelheit gänzlich verschluckt. Fast blind tappte Jasmin nun den vom nassen Laub glitschigen Weg entlang.

Wie weit war es noch bis zum verbarrikadierten Tor? Vom Wind gehetzte Blätter raschelten unheimlich über den Teer. Nach einer weiteren Minute war sie gezwungen, sich der Taschenlampe am Smartphone zu bedienen, obwohl sie Angst hatte vor dem, was sie erblicken mochte. Mit zitterndem Finger fuhr sie über die Oberfläche des nassen Geräts. Der Lichtstrahl leuchtete auf und erhellte schlagartig die Umgebung vor ihr.

Zu ihrer Überraschung war der Stolleneingang nur einen Steinwurf entfernt und das Tor – stand offen. Rasch hob Jasmin die andere Hand vor das Mobilgerät, um gerade genug Licht durchzulassen, damit sie etwas sehen konnte. Der wütende Wind fegte nun kräftig über die Baumwipfel und der Regen schien sich dem aufbrausenden Tosen nach seinem Höhepunkt zu nähern.

Mit zügigen Schritten machte Jasmin einen kleinen Bogen und trat dann vorsichtig von der Seite her an den Rand des Toreingangs heran. Die schaurigen Echos des heulenden Windes wurden bis tief in den Berg hineingesogen. Jasmin spreizte ihre Finger rund um das Telefon, um ein bisschen mehr Licht hindurchzulassen. Spinnweben tanzten an der gewölbten Decke und es roch modrig wie in einem Sumpf.

Auf einmal hörte Jasmin ein Geräusch aus dem Tunnelinneren, das sie nicht zuordnen konnte. Es hörte sich an wie ein Knurren oder Brummen. Dann sah sie das bläuliche Licht in einiger Entfernung erneut aufflackern. Zuerst war es nur ein kleiner Punkt, doch schon begann es, sich rasend schnell auf sie zuzubewegen. Jasmin schreckte zurück, stolperte aus dem Tunneleingang und hechtete kopfüber in den dichten Wald. Klitschnass und schwer atmend spähte sie durch die Zweige eines Strauchs und hörte mit Entsetzen, wie das brummende Geräusch lauter wurde. Die blauen Strahlen erhellten nun den ganzen Bereich vor dem Tunnel, und eine Sekunde später kam die Schnauze eines großen Fahrzeugs zum Vorschein. Jasmin konnte nur vage erkennen, dass es sich um einen Militärjeep handelte, der geradewegs auf die breite Straße, die zur Stadt hinunterführte, zuraste. Ein weiteres Gefährt kam herausgeschossen und dann noch eines. Danach kamen große gepanzerte Fahrzeuge und Lastwagen, die mit allen möglichen Rohren und Militärausstattung beladen waren, durch den Torbogen gebraust.

Jasmin traute ihren Augen nicht. Ungläubig starrte sie die immer länger werdende Fahrzeugkarawane an. Nach geschlagenen zehn Minuten war das Spektakel endlich vorbei. Der letzte Militärjeep legte einen kurzen Stopp vor dem Tor ein, das sich automatisch schloss, dann fuhr das Fahrzeug von dannen. Nun war es wieder fast stockdunkel.

Von weither konnte Jasmin nun das Aufheulen mehrerer Sirenen wahrnehmen. Sie war sich sicher, dass der Lärm vom Militärkonvoi stammte. Wo sie wohl alle so eilig hinwollten um diese Zeit?

Panik mischte sich mit Jasmins ohnehin schon zermürbender Angst. Ihr wurde übel. Was war hier los? War das alles ein Zufall? Der Traum, die Stimme und jetzt ein ganzer Militärtrupp, der um halb drei Uhr morgens aus einem augenscheinlich lange unbenutzten Bergstollen herausgeschossen kam. Sie musste von hier verschwinden. Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, und ob es zwischen dem Traum und den letzten Geschehnissen eine Verbindung gab, sei dahingestellt – sie musste in ihre Wohnung zurück, wo sie ungestört mit ihrer Mutter telefonieren konnte. Ihre Kleider und Schuhe waren unterdessen komplett vom nicht versiegen wollenden Regen durchtränkt.

So leise es ging, schlich sie aus ihrem Versteck. Mit den Händen hielt sie das Smartphone immer noch fest umklammert. Sie stand vor dem nun geschlossenen Gittertor und war bereits auf dem Weg zurück zur Weggabelung, als sie sich noch einmal umwandte.

Da war etwas. Eine glühende Stelle – ein bläulicher Schein, der klar und deutlich im Inneren des Tunnelschachts aufloderte wie eine Wunderkerze –keine zehn Schritte jenseits der Gitterstäbe. Jasmin hatte das Gefühl, als würde ihr Herz augenblicklich stehenbleiben. Sie konnte sich nicht bewegen. Was auch immer da kommen mochte, diesmal war es zu spät, um sich zu verstecken. Jasmin verharrte wie angewurzelt an Ort und Stelle, während die kristallblaue Lichtkugel mit einem raschelnden Geräusch und etwa eineinhalb Meter über dem Boden schwebend auf das Sperrgitter zugeglitten kam.

Zuerst dachte Jasmin, es wäre der Lichtkegel einer Taschenlampe, doch als sie blinzelte und genauer hinsah, erkannte sie, dass da gar niemand war, der sie hätte tragen können. Die glühende Sphäre glitt gleichmäßig und ohne Widerstand durch das Gitter hindurch und auf den geteerten Weg heraus. Dann machte sie etwa einen Meter vor Jasmin Halt und eine undefinierbare Stimme, die aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien, erklang: »ERKLIMME DEN BERG«.

Die strahlende Kugel verweilte noch einen Moment bei ihr, dann erlosch sie und Jasmin fand sich wieder allein in der düsteren Nacht. Seltsamerweise waren die Panik und die Angst, die sie noch vor einigen Augenblicken verspürt hatte, komplett verraucht. Tiefer Frieden breitete sich in ihrem Inneren aus. War sie nun verrückt geworden?

Ganze fünf Minuten blieb sie wie angewurzelt im Dunkeln stehen und lauschte dem Geräusch der großen Wassertropfen, die sich im Astwerk der hohen Bäume gesammelt hatten und nun in unregelmäßigen Abständen auf die Straße klatschten. Das Gewitter war vorüber. Ein Blick auf ihr Smartphone verriet Jasmin, dass es drei Uhr morgens war. Ungewöhnliche, golden schimmernde Strahlen bahnten sich nun einen Weg durch die sich auflösenden Wolken bis auf die Dächer der Millionenmetropole hinab. Durchnässt wie sie war, verwirrt und ziemlich müde, machte sich Jasmin auf den Weg zurück in die Stadt. Im Hauptkreis Sannomiya, wo ihre Wohnung lag, war es ruhig geworden. Nur das widerhallende Echo unzähliger Sirenen war aus weiter Entfernung zu vernehmen. Jasmin hatte keine Energie mehr übrig, um über das seltsame Wetterphänomen nachzugrübeln, das schon eine ganze Weile lang für Schlagzeilen sorgte und die nächtliche Stadt seit Tagen in mysteriöses Dämmerlicht tauchte. Sie bog ein letztes Mal rechts ab und stand dann wieder vor ihrem Wohnkomplex. Sie nahm den Lift in den achten Stock, schloss die Wohnungstür auf, ließ sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

Als Jasmin wieder aufwachte, schienen bereits heiße Mittagssonnenstrahlen durch das Fenster auf ihr schlaftrunkenes Antlitz. Sie hatte verschlafen! Hastig zog sie ihr Smartphone aus der Hosentasche, doch der Bildschirm wollte nicht aufleuchten. Sie hatte es, als sie in den Morgenstunden nach Hause gekommen war, vergessen aufzuladen. Wie sollte sie nun mit Masayuki Kontakt aufnehmen? Er war vielleicht bereits auf dem Weg nach Shizuoka. Sie entschied sich, zuerst kurz zu duschen und das Telefon in der Zwischenzeit wiederzubeleben. Um wacher zu werden, zog sie die Vorhänge im Zimmer auf, woraufhin blendende weißgoldene Lichtstrahlen in ihren Schlafraum fluteten.

 

Das Strahlen war ungewöhnlich hell, viel heller sogar als während der letzten Wochen und es schmerzte in ihren Augen. Von der kurzen Nacht benommen und von der Lichtflut überfordert, riss sie die Vorhänge wieder zu und begab sich in das recht dürftig eingerichtete Badezimmer. Während der erfrischenden Dusche dachte sie über die Geschehnisse der letzten Nacht nach. »Nun sei bereit … erklimme den Berg …« Ja, sie würde heute vielleicht einen Berg besteigen, aber ob das etwas miteinander zu tun hatte? Und wenn ja, inwiefern? Sie war sich sicher, sich die schwebende Sphäre vor dem Tunnel nicht eingebildet zu haben und auch, dass die Stimme absolut real gewesen war, obschon sie bestimmt keinem Menschen gehörte. Sie wusch die Pflegespülung aus ihrem langen Haar, schloss den Hahn und trocknete ihren schlanken Körper rasch mit einem Handtuch ab. Zurück aus dem Badezimmer prüfte Jasmin die Ladung des Akkus ihres Mobiltelefons; naja, es würde genügen, um Masayuki kurz Bescheid zu geben, dass sie sich verspäten würde. Als sie seine Nummer wählte, nahm dieser sofort ab.

»Hey du! Und – schon im Zug Richtung Shizuoka?«, fragte er mit gespieltem Spott.

Jasmin war gerade dabei, sich Socken über ihre Füße zu stülpen. »Hallo Masa. Weißt du was – ich habe verschlafen«, gab Jasmin in bitterem Tonfall zu.

Masayuki lachte herzhaft auf. »Das habe ich mir gedacht. Ich versuche dich schon seit acht Uhr zu erreichen, und jetzt ist es zwölf«, sagte er ohne angeschlagen zu klingen. »Dafür hatte ich Zeit, ein paar Sandwiches zu machen und drei, vier Bierchen habe ich auch noch aufgetrieben.«

Jasmin schämte sich, dass sie ihren Freund so lange hatte warten lassen. »Ich wäre jetzt bereit, falls du noch gehen möchtest«, bemerkte sie kleinlaut.

»Das Zimmer in der Herberge ist nach wie vor reserviert. Es hält uns nichts davon ab, die paar Stunden, die wir versäumt haben, heute Abend nachzuholen«, drang Masayukis kosende Stimme durch die Lautsprecher und Jasmins Herz machte einen Hüpfer.

»Okay – ich mach mich sofort auf den Weg. In zwanzig Minuten bin ich auf dem Bahnhof, dann bin ich um – 15 Uhr in Shizuoka.«

»Na, dann los!«, spornte Masayuki seine Freundin an.

Jasmin kramte ihre Siebensachen zusammen und stopfte diese, ohne viel Federlesens, in einen großen Rucksack. Dann eilte sie ungeschminkt und mit noch nassen Haaren aus der Wohnung. Die Geschehnisse der Nacht zuvor erschienen ihr plötzlich fern und verschwommen. Alles, worauf sie sich jetzt freute, war Masayuki wieder zu sehen und mit ihm gemeinsam eineinhalb romantische Tage zu verbringen.

Am Bahnhof Shin-Kobe angekommen, wurde Jasmins gute Laune jedoch schon zum ersten Mal auf die Probe gestellt. Obwohl sonst überfüllt mit Leuten aus aller Welt, war der Bahnhof heute seltsam leer. Vereinzelt sah sie Personen in grünen und blauen Uniformen umhergehen, aber sie hatte keine Zeit, sich die Sache näher anzusehen. Vor den Schaltern standen keine Leute an, also schritt sie gleich zur ersten Theke und fragte nach einer Retourfahrkarte nach Shizuoka-City. Der Beamte musterte sie sogleich mit einer entschuldigenden Miene und ließ sich verbeugend vernehmen: »Es tut uns schrecklich leid, aber sämtliche Züge werden bis frühestens morgen Abend von der Regierung in Anspruch genommen und stehen in der Zwischenzeit der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung.«

Jasmin sank das Herz in die Hose. Das konnte doch nicht wahr sein! Besetzt vom Staat – Hunderte von Schnellzügen, die jeden Tag fuhren? Jasmin konnte das weder glauben, noch akzeptieren und protestierte lauthals: »Wie kann denn jeder einzelne Zug restlos ausgebucht sein, wenn der ganze Bahnhof leer ist? Könnten Sie nicht bitte nochmal nachsehen, ob ein einziger Platz frei ist? Bitte!«, flehte sie in fließendem Japanisch. Der Beamte verbeugte sich nur noch tiefer und murmelte etwas, das sich wie endlose Entschuldigungen anhörte. Jasmin spürte eine glühende Wut in sich aufkochen. Dieses eine Wochenende ließ sie sich nicht vermasseln.

»Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe heute seit einem Monat mein erstes Date und muss unbedingt nach Shizuoka, damit ich mit meinem Freund auf den Fuji-san steigen kann. Wenn Sie jetzt nicht sofort nachsehen, ob es noch einen einzelnen Platz in irgendeinem Zug Richtung Tokio gibt, dann – dann spalte ich Ihre Theke entzwei!«

Dem Beamten schienen die Augen herauszuquellen und sein Mund klaffte schräg offen. Er fasste sich allerdings nach einem schockerfüllten Augenblick wieder und begann wie ein Wahnsinniger, auf der Tastatur seines Computers herumzuhämmern. Nach gut zehn Sekunden kehrte derselbe Gesichtsausdruck noch einmal zurück ins Antlitz des Beamten, während er mit perplexem Blick seinen Bildschirm bestaunte. Dann stand er auf und verkündete, sich erneut übertrieben tief verneigend: »Eigentlich sind alle Züge von der Regierung bis auf Weiteres besetzt, aber Sie haben Glück. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wie es scheint, ist ein einziger Sitzplatz im Ein-Uhr-Zug verfügbar.«

Jasmins Herz kehrte augenblicklich an seinen beheimateten Platz zurück.

»Den nehme ich«, entgegnete sie zufrieden mit sich selbst. Was ein winziger Protest in diesem Land nicht alles in Bewegung setzen kann, dachte sie vergnügt. Das sollten sich die jungen Japaner auch angewöhnen, grinste sie vor sich hin und dachte an Japans stagnierende sozialwirtschaftliche Lage. Sie ging durch die Ticketbarrieren und begab sich mit den Rolltreppen hinauf zu den Gleisen.

Dort musste sie nicht lange warten, bis die Schnauze des schnellsten Expresszugs von Japan – des »Shinkansen« – angerollt kam. Jasmin hatte einen Fensterplatz abbekommen und freute sich, während der Fahrt die wald- und hügelreiche Aussicht auf die Kansai- und Chūbu-Gebiete genießen zu können. Die Tür des Abteils 6 öffnete sich und Jasmin machte Platz für aussteigende Passagiere – aber es trat niemand heraus. Dafür, dass alle Züge komplett ausgebucht waren, schienen aber beträchtlich wenige die kulinarische Weltstadt Kobe besuchen zu wollen. Und es war ihr auch erst jetzt aufgefallen, dass sich keine weiteren Personen auf dem Bahnsteig befanden.

Etwas verwundert stieg sie durch die weißen, automatisierten Türflügel und begab sich in das Abteil, das auf ihrer Fahrkarte beschrieben war. Jasmin stockte der Atem. Alle Wagons waren gefüllt mit Beamten in grünen und blauen Militäranzügen. Das hatte sie nicht erwartet. Die Soldaten starrten sie mit großen Augen an, aber keiner sprach ein Wort. Die Atmosphäre war angespannt und Jasmin hatte den Eindruck, dass diese Leute nicht zum Spaß unterwegs waren. Sie eilte die Sitzreihen entlang, bis sie zu der Reihe kam, über deren Fensterluke ihre Platznummer notiert war. Der Mann, der neben ihrem Fensterplatz saß, sprang erschrocken auf und ließ sie hindurch. Sie setzte sich und verstaute ihren Rucksack unter ihren Füßen. Der Zug setzte sich in Bewegung und die Landschaft vor dem quadratischen Fenster änderte sich in Minuten von grellgrauer Stadt zu grellgrünen Feldern und Wäldern, wobei die hellen Strahlen, die noch immer in blendendem Weißgold vom Himmel herabschienen, die Farbwelt draußen monoton übermalten. Jasmin zog den eingebauten Rollladen herunter und beäugte den Mann, der neben ihr saß, verstohlen aus den Augenwinkeln. Dieser saß mit starrer Miene da und bohrte seinen stoischen Blick hartnäckig in die Sitzreihe vor sich. Der Getränke- und Snackwagen kam vorbei, doch niemand kaufte irgendwas. Jasmin, die heute noch nichts gegessen hatte und von einem Höllenhunger geplagt wurde, ergatterte sich ein Bento: eine japanische Lunchbox mit Reis und verschiedenen Fleisch- und Gemüsebeilagen. Sie verschlang ihren Brunch mit großen Bissen. Der Mann neben ihr saß noch immer wie erstarrt da. Sie fand das schon merkwürdig; diese toternste Stimmung der Soldaten und auch die Fahrzeugkarawane, die sie bei den Rokko-Bergen letzte Nacht gesehen hatte. Zwischen ihnen musste es irgendeine Verbindung geben. Sie war sich sicher, dass diese Leute nach Tokio fuhren, in die Hauptstadt Japans und zur Endstation dieses Zuges – oder handelte es sich womöglich um einen bevorstehenden Ausbruch des Vulkans Fuji? Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und suchte das Internet nach Neuigkeiten ab. Sie fand nur eine Meldung, dass der Bahnverkehr landesweit vorübergehend ausfiel und einen kleinen Bericht über die anhaltenden Sonnenflares, die angeblich dafür verantwortlich waren, dass es seit einer Woche abends nicht mehr richtig dunkel wurde.

Jasmin schob den Rollladen einen Spaltbreit hoch und ließ ihren Blick mit zugekniffenen Augen über das Himmelszelt schweifen. Was da oben wohl vor sich geht?, fragte sie sich und gähnte herzhaft. Das üppige Bento hatte sie müde gemacht. Sie ließ nun verschlafen ihren Blick über die Berglandschaft schweifen, die sich vor dem Fenster des Zuges präsentierte. Japanische Berge waren grundsätzlich mit dichten Wäldern überzogen; darum mochte sie Jasmin auch so sehr. Die meisten Berggipfel in Europa waren ihrer Auffassung nach zu kahl und somit langweilig. Naja, in Japan gab es zwar auch Ausnahmen, wie zum Beispiel den berühmtesten aller Berge, den sie heute besteigen würde: der Vulkan Fuji. Aber sein kahles Haupt hatte er wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass er zuletzt 1707 ausgebrochen war. Außerdem ragte er über 3700 Meter hoch über den Meeresspiegel auf, was die Waldgrenze weit überstieg. Jasmin überlegte, ob er vom Zugfenster aus wohl zu sehen sein würde. Ihre Augen huschten hin und zurück, an glühenden Reisfeldern und dichten Bambushainen vorbei und richteten sich dann wieder empor zum Himmelsdach, aus dem sich nach wie vor grässlich blendende Strahlen ergossen.