Sünde

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Inhalt

  Kapitel 1

  Kapitel 2

  Kapitel 3

  Kapitel 4

  Kapitel 5

  Kapitel 6

  Kapitel 7

  Kapitel 8

  Kapitel 9

  Kapitel 10

  Kapitel 11

  Kapitel 12

  Kapitel 13

  Kapitel 14

  Kapitel 15

  Kapitel 16

  Kapitel 17

  Kapitel 18

  Kapitel 19

  Kapitel 20

  Kapitel 21

  Kapitel 22

  Kapitel 23

  Kapitel 24

  Kapitel 25

  Kapitel 26

  Kapitel 27

  Kapitel 28

  Kapitel 29

  Kapitel 30

  Kapitel 31

  Kapitel 32

  Kapitel 33

  Kapitel 34

  Kapitel 35

  Kapitel 36

  Kapitel 37

  Kapitel 38

Impressum

Copyright © 2020 by Ben Bennett

www.benbennett.de

Text © Ben Bennett, 2020

Übersetzung Deutsch-Österreichisch: Andrea Kreiner

Covergestaltung/Satz: Grit Bomhauer

www.grit-bomhauer.com

Unter Verwendung von © Shutterstock – Traveller Martin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

E-Book, 1. Auflage September 2020


Die Ereignisse und Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder verstorben, oder mit tatsächlichen Ereignissen, ist reiner Zufall.

Kürzlich las ich irgendwo von einem italienischen Raritätenhändler, der ein Kruzifix des 17. Jahrhunderts an J.P. Morgan zu verkaufen versuchte. Es war auf den ersten Blick kein besonders interessantes Kunstwerk.

Aber es stellte sich heraus, dass es darum ging, dass das Kruzifix auseinandergenommen werden konnte und drinnen ein Stilett versteckt war. Welch ein vollendetes Symbol der christlichen Religion.


George Orwell

1

Hannah Goldlaub?“

„¿…Sí …?“

„Sie sprechen Deutsch?“

„¿…ja …?“

Draußen auf der Straße hatte es zu regnen begonnen. Sintflutartig. Mitten im Hochsommer. Schutz suchende Passanten drückten sich eng an die Fensterfront des hoteleigenen Cafés, das hinaus auf die Straße ging.

Hotel & Café Carlos, V. in Buenos Aires.

Hier arbeitete sie.

„Grüß Gott – Kanzlei Leonhard und Stern aus Wien“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die einer jungen Frau gehören musste. „Einen Augenblick bitte – ich verbinde Sie mit Ludwig Leonhard, dem Seniorpartner.“

Hannahs Hände zitterten vor Aufregung, als sie fast zwanzig Minuten später auflegte, unter dem argwöhnischen Blick von Ricardo, der an diesem Tag Dienst an der Rezeption hatte. Mit einem gespenstischen Ruck setzte sich urplötzlich der mächtige Deckenventilator in Gang, drohend wie der erhobene Zeigefinger des Schicksals. Ein Monstrum aus massivem Messing, hoch über der Lobby in der Luft gehalten durch ein entschieden zu dünnes Kabel. Als warte er nur darauf, ihr mit seinen scharfen, kalten Flügeln den Garaus zu machen.

Eine im selben Moment einsetzende Panik schnürte Hannah den Atem ab. Nicht nur, weil es Hotelangestellten untersagt war, während der Arbeitszeit Privatgespräche zu führen. Was ohne Zweifel auch für schwangere Zimmermädchen galt, die auch ohne schwere Verfehlungen bald auf der Straße stehen würden – spätestens dann jedenfalls, wenn das Malheur ans Tageslicht kam. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Doch es war nicht das, worum ihre Gedanken kreisten. Sie versuchte zu verarbeiten, was sie soeben mit ihren eigenen Ohren gehört hatte. Gehört zu haben glaubte.

Die Welt um sie herum drehte sich, fuhr Karussell mit ihr. Ihre schweißnassen Hände suchten etwas, an dem sie sich für einen Augenblick festhalten konnten.

Nachlass, Erbe, beträchtliche Vermögenswerte … noch immer hallte das verwirrende Echo der Worte in ihr nach, die sie eben am Telefon vernommen hatte. Wären Ricardos Augen nicht nach wie vor starr auf sie geheftet gewesen, sie hätte sich für einen Moment auf einen der exklusiv für Hotelgäste reservierten, vor einem halben Jahrhundert mit senfgelbem und damals sehr wahrscheinlich noch nicht vollständig durchgewetztem Leder bezogenen Sessel in der Lobby gesetzt. Ihr war schwindelig.

Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Um ein Missverständnis.

„Wenn Sie Ihre …“ Einen Augenblick hatte der Anwalt nach dem passenden Wort gesucht, um dann fortzufahren: „…Ansprüche wahrnehmen möchten, ist es allerdings zwingend erforderlich, dass Sie persönlich hier erscheinen.“

Hannah konnte es sich nicht erklären. Dieser Anruf war nicht nur geheimnisvoll, er war ihr ein komplettes Rätsel.

„Wer nimmt dich hier auf den Arm?“

Ihr erster halbwegs klarer Gedanke verwandelte sich in Buchstaben, die direkt vor ihrer Nase aufgeregt in der Luft tanzten. Mitten in der Lobby, wo sie nach wie vor ausharrte – zur Salzsäule erstarrt.

Sie kannte keine Menschenseele in Wien, und seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie mit niemandem Deutsch gesprochen. Sie lebte seit ihrer Geburt in Buenos Aires. Und hier sprach man Spanisch. Doch genau darum ging es offenbar: Um Esther, ihre vor einem Jahr verstorbene Mutter. Und um ein geheimnisvolles Erbe, das nur vor Ort in Wien besprochen und geklärt werden konnte. Der Anwalt hatte auch noch einen anderen Namen genannt: Eli Goldlaub.

Eli war der Vater ihrer Mutter gewesen.

Ihr Großvater.

Ricardos Blick verhieß nichts Gutes, obwohl er nicht das Geringste verstanden haben konnte. Hannah sputete sich, um zurück zum Angestelltenfahrstuhl zu gelangen. Noch nie zuvor in all der Zeit, die sie hier arbeitete, war sie wegen eines Anrufs an die Rezeption bestellt worden.

Das passierte normalerweise nur, wenn jemand gestorben war.

„Wir werden Ihnen ein Flugticket schicken und ausreichend Geld für eine angenehme Reise. Die Hotelreservierung übernimmt unser Klient ebenfalls. Bitte geben Sie meiner Sekretärin gleich einfach Ihre aktuelle Adresse durch. Und Ihre private Telefonnummer, die fehlt uns auch noch. Wie auch immer, liebe Frau Goldlaub: Wir sind froh, dass wir Sie endlich gefunden haben.“

Ludwig Leonhards sonore Stimme klang noch immer in ihr nach, unwirklich wie eine Botschaft von einem fremden Planeten, und es schien ihr unmöglich, sie je wieder zu vergessen.

2

Als Hannah vier Tage später eine Benachrichtigung von UPS in ihrem Briefkasten fand, dass man vergeblich versucht hatte, ihr eine Sendung zuzustellen, war ihr klar, dass sie nicht geträumt hatte.

 

Sie beschloss, sich gleich nach ihrer Schicht darum zu kümmern.

Es handelte sich um einen großen, braunen, sorgfältig verschlossenen Umschlag. Er lag den ganzen Abend unangetastet auf dem Küchentisch. Bis sie es endlich wagte, ihn zu öffnen.

Es war bereits kurz vor Mitternacht.

In seinem Inneren befand sich ein weiterer Briefumschlag – dieser war weiß, fühlte sich seidig an und auf ihm stand in einer geschwungenen Handschrift ihr Name geschrieben:

Hannah Goldlaub.

Ergänzt um den Zusatz: persönlich.

Er enthielt ein handschriftliches Anschreiben auf einem edlen, beinahe königlich wirkenden Briefbogen mit dem gestanzten Wappen Juwelier Schön & Söhne, ergänzt um einen handlichen Reiseführer über Wien, ein Business Class Flugticket der Austrian Airlines von Buenos Aires nach Wien und zurück, eine Buchungsbestätigung für das Fünfsterne-Hotel Sofitel Vienna Stephansdom sowie – dreitausend Euro in bar! Was umgerechnet der Jahresmiete ihres Apartments entsprach.

Hannahs Herz raste. Was ging hier vor sich?

Was sollte sie jetzt tun? Was hätte ihre Mutter gemacht?

Nun, wahrscheinlich hätte sie alles ignoriert. Einfach nicht reagiert. Außer mit Schweigen. So wie sie ihr Leben lang ihre Herkunft und ihre Vergangenheit totgeschwiegen hatte – abgesehen von der deutschen Sprache, die ihr in die Wiege gelegt worden war. Sobald sie jedoch jemanden in Buenos Aires Deutsch sprechen hörte, war sie augenblicklich in eine Art Schockstarre gefallen. Tief verborgen in den Gründen ihrer Seele, für immer eingeschlossen von den Wänden ihres Herzens, loderte ein unheilbarer, stiller Schmerz. Es war ein Herz, für das es keinen Schlüssel gegeben hatte. Keine Tür, die sich auch nur einen Spaltbreit öffnete, damit der Schmerz entkommen konnte. Jeden Tag ein wenig und in kleinen Dosen, bis das Herz eines Tages wieder halbwegs intakt war. Doch alles, woran das Herz ihrer Mutter sich ein Leben lang hatte wärmen können, war eine Decke aus Schweigen gewesen.

Hannahs Blick fiel durch das von einer schmalen, weiß lackierten Holzleiste exakt auf halber Höhe in zwei Hälften geteilte Fenster hinunter auf die Straße. Genau hier, im Salon mit dem kleinen Erker, hatte Esther oft gestanden und durch die schweren, nur einen winzigen Spalt weit geöffneten Vorhänge hinaus gespäht. Allein auf diese Weise, als anonyme Zeugin und Beobachterin, im sicheren Schatten ihrer Wohnung, war es ihr möglich, an dem Leben teilzuhaben, das sich dort unten abspielte. Das Leben, vor dem sie sich versteckte.

Der Salon lag im Halbdunkel, erleuchtet nur durch das von außen eindringende glutgelbe Licht der Straßenlaternen und von den sanft aufflackernden, beinahe vollständig heruntergebrannten Kerzen, die Hannah am frühen Abend angezündet hatte.

Für einen Moment glaubte sie, das Spiegelbild ihrer Mutter im Küchenfenster zu sehen. Sie stand direkt hinter ihr, blass und durchsichtig. Ihr Blick war auf den Briefumschlag gerichtet. Es war ein müder Blick, so wie der eines Menschen, der bereits vor langer Zeit Hoffnung als eine überbewertete Währung enttarnt hatte.

„Auch Geschenke haben ihren Preis, mein Schatz. Du musst mir versprechen, vorsichtig zu sein. Versprichst du mir das?“

Hannah drehte sich um. Doch Fehlanzeige. Niemand da.

Nach ihrem Tod war es schon einige Male vorgekommen, dass sie sich eingebildet hatte, Esther zu sehen. Sie war die engste Bezugsperson in ihrem Leben gewesen, fast vier Jahrzehnte lang. Die Wohnung war untrennbar mit ihr verbunden. Offensichtlich hatte sie dieses Zuhause auch ein Jahr nach ihrem Tod noch nicht endgültig verlassen. Jedenfalls nicht für Hannah.

Einen Augenblick überlegte sie, das Geld einfach zu behalten. Um wie vieles einfacher würde es ihr Leben machen – vor allem in ihren jetzigen Umständen.

Doch dafür war es bereits zu spät.

Diese Menschen wussten nun, wo sie arbeitete und wo sie wohnte.

Während die Panik erneut in ihr aufflackerte, nahm sie den Briefbogen zur Hand und überflog nervös das in eleganter Schrift mit einem Füllfederhalter verfasste Anschreiben bis zum letzten Satz.

„Liebe Hannah Goldlaub: Ich freue mich darauf, Sie schon bald kennenzulernen und Ihnen die guten Nachrichten Ihr Erbe betreffend persönlich zu überbringen.

Mit freundlichen Grüßen aus Wien nach Buenos Aires,

Ihr Maximilian Schön.“

Maximilian Schön. Offenbar war er der Inhaber des Wiener Juweliergeschäfts, von dem Ludwig Leonhard, der Anwalt, gesprochen hatte.

„Herr Schön lädt Sie ein, die Details mit ihm persönlich in Wien zu besprechen.“

Das waren seine Worte gewesen.

Nachdenklich fuhr Hannah mit den Fingern über das edle, seidene Papier. Als könne sie es auf diese Weise zum Sprechen bringen.

Ihr Blick fiel auf das Bündel frischgedruckter grüner und goldgelber Geldscheine, das Business Class-Flugticket, den Reiseführer und die Zimmerreservierung für eines der feinsten Wiener Hotels, in dem sie bis heute überglücklich gewesen wäre saubermachen zu dürfen – und in dem sie nun als Gast residieren würde.

In einer Suite.

All das erschien ihr wie ein Traum. Auch wenn es fast zu schön war, um wahr sein zu können. Denn natürlich war es auch ihr nicht entgangen: Dass das Leben eine stete Mahnung war, dass Träume nicht wahr werden. Und wenn sie wahr wurden, waren es in aller Regel Albträume. So war es nicht nur den Träumen ihrer Mutter ergangen. Und doch: Wer war sie, dass sie ein solches Angebot ausschlagen konnte? Wenn sie den Inhalt dieses geheimnisvollen Umschlags aus Wien nicht ernst nahm, so mysteriös er auch war, würde sie, die Kopie ihrer Mutter, weiterhin so leben und eines Tages so sterben wie das Original: Arm, einsam und unglücklich.

Möglicherweise war es an der Zeit, ihre Sachen zu packen und sich auf den Weg nach Pitchipoi zu machen – so sagte man auf Jiddisch, wenn man zu einem unbekannten Ort aufbrach.

Mit einem entschlossenen Ruck zog Hannah den alten Schrank auf, auf dessen oberster Borte sich ein verstaubter alter Lederkoffer befand, der Esther gehört hatte und den sie selbst noch nie in ihrem Leben benutzt hatte.

Denn sie war noch nie verreist.

3

Es war kein Geheimnis.

Sie hatte es akzeptiert, wie andere Menschen ihre Sommersprossen akzeptierten, ihre zu groß oder zu schief geratene Nase oder ihre unstillbare Sehnsucht nach Patatas Bravas.

Hannah war mit einer elektronischen Fußfessel geboren worden.

Einer unsichtbaren elektronischen Fußfessel, um genau zu sein.

Sie konnte Buenos Aires einfach nicht verlassen. So sehr sie es auch wollte. Schon einige Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, aber irgendetwas hatte sie letzten Endes immer daran gehindert. Als fürchte sie, es könne irgendwo ein Alarm losgehen, sobald sie die Stadtgrenzen hinter sich ließ. Sie war eine Porteña, wie sie im Buche stand – so nannten sich die Eingeborenen von Buenos Aires.

Wozu vereisen? Erstens hatte man kein Geld dafür, und zweitens lebte man in einer Stadt, die überall auf der Welt bekannt war als das Paris Südamerikas. Im richtigen Paris war Hannah zwar noch nie gewesen, aber schöner als Buenos Aires konnte es unmöglich sein. Sie liebte den Tango – und Buenos Aires war nun mal die Welthauptstadt des Tango. Sie liebte das Theater – und Buenos Aires hatte so viele Theatersäle wie keine andere Stadt auf dem Globus, mehr sogar als New York oder Paris. Das jedenfalls hatte Hannah in einem Magazin gelesen. Viele dieser Theater lagen an der berühmten Straße, die niemals schläft: Der Avenida Corrientes, auch bekannt als der Broadway von Buenos Aires. Und noch einen anderen, überaus bemerkenswerten Rekord hielt ihre Stadt: Zu Füßen des berühmten Obelisken floss die Avenida 9 de Julio dahin, die breiteste Straße des Planeten Erde.

„Auf keinem anderen Fluss auf diesem Kontinent schwimmen so viele Bäume ohne Wurzeln“, hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Damit spielte sie auf die jüdische Gemeinde in Buenos Aires an – den nächsten Rekord. Sie allein bildete eine Stadt mittlerer Größe und war die größte in Lateinamerika.

Ein Mitglied dieser Gemeinde war sie, Hannah.

Ein anderes Mitglied war ihre Mutter gewesen, deren Überreste auf dem Friedhof von Recoleta begraben lagen – dort, wo auch Evita Perón ihre letzte Ruhe gefunden hatte.

Es war ein unwirklich stiller, in ein überirdisch sanftes Leuchten getauchter Sonntag gewesen, an dem Esthers Seele endlich ihren Körper verlassen hatte dürfen. Ein Körper, den eine fatale Mischung aus Angst, Verzweiflung, Einsamkeit und Nikotin über die Jahrzehnte ausgezehrt und schließlich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte – mehr noch als der Krebs, der nur noch das genommen hatte, was übrig war von dieser einst wunderschönen Frau.

Wunderschön und doch vom Glück verlassen.

Das wenige Glück, das ihr beschieden war, schien ihr zeitlebens durch die Finger zu laufen wie feiner Sand. Sie war schlichtweg unfähig gewesen, es festzuhalten.

„Auf mir liegt ein Fluch“, hatte sie Hannah mit sterbend leiser Stimme mitgeteilt, ein Schatten ihrer selbst, eingehüllt in Krankenhausbettlaken, kurz bevor sie gegangen war. „Ich wünsche dir eines von ganzem Herzen, mein Schatz: Dass dieser Fluch nicht ansteckend ist.“

Zuletzt war sie der festen Überzeugung gewesen, dass es ihr Schicksal gewesen wäre, als kleines Mädchen mit ihren Eltern zu sterben. Mit Eli und Rosa. Dass es die Schuld des argentinischen Kindermädchens war, dass sich ihr Leben so entwickelt hatte.

„Sie hat alles vermasselt …“ Esther hatte es mit tränenerstickter Stimme gesagt, als wäre es verglichen mit dem Leben, das sie geführt hatte, eine Gnade gewesen, als Kind in einem Konzentrationslager zu sterben. Hand in Hand mit ihren Eltern. Ermordet, aber wenigstens nicht allein.

Alles muss so schnell gegangen sein, dass sie sich kaum noch daran erinnerte. Nur selten erzählte sie davon.

Ihre Kindheit lag hinter ihr wie ein böser, dunkler Traum, gehüllt in dichte Nebelschwaden des Vergessens. Die Verhaftung der Eltern, während sie mit dem Kindermädchen in der Stadt unterwegs war. Die panische, überstürzte Flucht nach Argentinien an der Hand dieses letzten ihr vertrauten Menschen, der ihr von einem Moment auf den nächsten noch geblieben war. Die Ankunft auf einem anderen Kontinent, wo sich keineswegs alles zum Guten wandelte, sondern sie von einer Hand, die sie nicht füttern konnte, in die nächste wanderte.

Hinter dem Lederkoffer, den Hannah mit langen Fingern auf Zehenspitzen von der obersten Borte des Schrankes gefischt hatte, hatte sie das Fotoalbum wiedergefunden, überzogen von feinem Staub.

Das Familienalbum.

Sie hatte es seit der Beerdigung nicht mehr angesehen – aus Angst, sich darin zu verlieren. In Bildern einer Vergangenheit, die noch nicht lange genug vergangen war, um sie loslassen zu können.

Wie schön ihre Mutter gewesen war: Ihre Gesichtszüge waren außergewöhnlich fein und elegant geschnitten. Ein wenig ähnelte sie Romy Schneider. Sie hatte denselben magischen Glanz in ihren Augen, die auf den Schwarz-Weiß-Fotos fast silbern wirkten und den Betrachter anzogen wie ein Magnet.

Es war kaum möglich, den Blick abzuwenden.

Und das, obwohl sie niemals lachte. Auf keinem einzigen der Fotos.

Im Gegensatz zu ihr selbst. Sie lachte gern.

Sie konnte es nur von ihrem Vater geerbt haben: das Talent zum Glücklichsein. Obwohl sie laut Kontostand arm war, fühlte Hannah sich reich. Ja, sie war ein reicher Mensch. Reich an Wundern, die sie jeden Tag auf ihr Lebenskonto einzahlte – wie die ersten Strahlen der aufgehenden Morgensonne, die in aller Herrgottsfrühe aufmunternd in ihr Zimmer blinzelte. Das fröhliche Trällern des Singvogels, der sich an diesem Morgen mutig und zu allem entschlossen auf ihr Fensterbrett gesetzt hatte und um ein Haar durch die in den Raum wehenden Vorhänge zu ihr ins Zimmer geflogen wäre. Der Schmetterling, den sie wenig später aus dem Badezimmerschrank befreit hatte, in den er sich in der Nacht zuvor verirrt hatte. Ein Schmetterling, der eigentlich ein Nachtfalter war, wenn nicht gar eine Motte. Und doch: Auch er verdiente ein gutes Leben.

Der verheißungsvolle Duft und der erfüllende Geschmack des ersten Schlucks Kaffee in dem kleinen Café unter ihrer Wohnung, kurz bevor sie zur Bushaltestelle ging, um zur Arbeit zu fahren. Der junge Busfahrer mit dem charmanten Lächeln, der beim Einsteigen den Blick nicht von ihr wenden konnte.

 

Ja, sie war reich. Mit all diesen wunderbaren Augenblicken, die sie täglich auf ihr Lebenskonto einzahlte.

Abgesehen von ihren ungleich verteilten emotionalen Kontoständen jedoch ähnelten sie und ihre Mutter einander wie ein Ei dem anderen. Fast so, als wäre nie eine dritte Person im Spiel gewesen. Eher schon ein Kopiergerät, das detailgenaue Kopien produzierte.

Und dass sie die Kopie eines schönen, aber scheuen Rehs war, machte Hannah das Überleben nicht leichter. Denn daran, dass sie zwei scheue Rehe waren, die auf ihrem Weg durch den gefährlichen, dunklen Wald des Lebens auf jeder Lichtung angespannt in alle Richtungen spähten und beim kleinsten Geräusch zurück ins sichere Unterholz sprangen, bestand nicht der geringste Zweifel.

„Vergiss nie, woher du kommst“, hatte Esther ihr eingeschärft. „Wir Goldlaubs sind Fluchttiere.“

Hannah war durchaus klar, dass sie dasjenige von den beiden Rehen war, das möglicherweise einen Moment zu lange auf der Lichtung verweilen würde – weil eine angeborene Neugier und Lebensfreude sie dort für einen erhebenden und gleichzeitig lebensgefährlichen Augenblick zu lang festhielten.

Sie war das Reh, das als erstes von der Kugel des Jägers getroffen würde.

„Peng!“

Ihre Mutter hatte diese Warnung nicht aussprechen müssen, aber Hannah hatte sie in ihren Augen lesen können. Es war mehr eine düstere Prophezeiung gewesen als eine Warnung, eine apokalyptische Vision, die unausgesprochen zwischen ihnen im Raum stand. Wenn man so lange mit einem Menschen zusammenlebte wie sie mit Esther, begann man zu verschmelzen. Gedanken zu lesen, auch ohne Worte.

Doch nun war eines der beiden Rehe nicht mehr da und das andere, das unerfahrenere und gefährdetere der beiden, war allein zurückgeblieben.

Es war still geworden, noch stiller als üblich jedenfalls, in der geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung im Künstlerviertel La Boca, dem Geburtsort des Tangos, berühmt für sein quirliges Nachtleben und die bunten Fassaden der Häuser. Ein für ihre Verhältnisse wahrlich märchenhaftes Zuhause.

Märchenhaft und eigentlich unbezahlbar.

Nicht mit dem bescheidenen Gehalt, das sie mit ihrer Arbeit im Hotel verdiente. Aber sie und ihre Mutter wohnten hier bereits seit Jahrzehnten – und so war die Miete bis zum heutigen Tag kaum höher als die für ein Ein-Zimmer-Apartment in einem der trostlos anonymen Neubauviertel am Stadtrand.

Auch das machte sie zu einem reichen Menschen. Dass sie hier leben durfte.

La Boca – der Mund – war Hannahs Tor zur Welt da draußen. Ein Viertel, das von den Geräuschen lebte, die in allen möglichen Tonfarben und Tonlagen aus unzähligen Mündern zu ihr herauf schwirrten. Hannah liebte es, das Leben unten auf der Straße zu beobachten. Und daran teilzunehmen – je älter sie wurde, desto mehr. Das traurige Leben und der noch traurigere Tod ihrer Mutter hatten ihr gezeigt, dass es wichtig war, von Zeit zu Zeit einen mutigen Schritt hinaus in diese Welt zu wagen anstatt sie nur aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Wie gesagt: Sie war das mutigere der beiden Rehe.

Oder das unvorsichtigere, je nachdem.

Eine alte Familientradition in den Wind schlagend hatte sie beschlossen, dem Leben eine Chance zu geben. Und nicht, sich vor ihm zu verstecken, bis es endlich vorbei war, mit all seinen Schrecken.

So wie Esther es getan hatte. Seit den Bombenanschlägen auf die jüdische Gemeinde in den Neunzigern verschanzte sie sich praktisch in der Wohnung. Und verfolgte das Leben draußen vor ihrem Fenster nur noch als Zaungast.

Wie zum Ausgleich für dieses Defizit an Lebensfreude hatte sie sich einige merkwürdige Macken zugelegt:

Eine davon war vorsätzliches Frieren.

Selbst zu Weihnachten – im argentinischen Hochsommer also – trug sie noch einen Rollkragenpullover und hüllte sich in eine der unzähligen Wolldecken, die über die ganze Wohnung verstreut waren. Mit Hilfe der Klimaanlage kühlte sie das Apartment so herunter, dass man zu jeder Jahres- und Tageszeit das Gefühl hatte, nicht in Südamerika, sondern in Sibirien zu sein. Die Klimaanlage schloss die Wärme aus, die Vorhänge die Sonne. Ihre Haut war bis zum letzten Tag so weiß wie feinstes Meißner Porzellan geblieben, und das, obwohl sie ihr Leben an einem subtropischen Ort verbracht hatte.

Überhaupt: Weiß. Zuletzt hatte sie nur noch weiße Gewänder getragen.

Weiß wie das Licht, in dem sie sich schließlich auflöste.

Sicher: Das Leben war schmerzvoll. Für manche Menschen mehr, für andere weniger. Für Esther war es sehr schmerzvoll gewesen, Hannah verstand sie nur zu gut. Aber hieß das, dass man aufgeben sollte? Dem Leben Adios zu sagen, ohne es gelebt zu haben? Es ungelebt zurückzugeben wie ein originalverpacktes Geschenk? Um sich im sicheren Halbdunkel hinter zugezogenen Vorhängen zu verstecken? Unter sich die pulsierenden Adern einer Metropole, die niemals schläft – das Orchester des Lebens, dessen Klang gedämpft durch das verschlossene Fenster weht. Was blieb einem dann noch, außer dem Fernseher als einzige, sichere Verbindung zu der Welt da draußen?

Nein. So konnte und wollte Hannah nicht leben.

Nachdem sie das Fotoalbum wieder an seinen Platz gebracht hatte, warf sie einen Blick in ihren jungfräulichen Reisepass. Er war noch gültig und glänzte wie nagelneu.

Wenn Esthers ständige Panik etwas Gutes gehabt hatte, dann das: Sie hatte ihr eingebleut, ihre Ausweispapiere unter keinen Umständen zu vernachlässigen. Sie immer aktuell und griffbereit zu haben. Für den Fall, dass sie fliehen würde müssen.

Hannah hatte ihren Rat zwar verstanden, nach allem, was ihre Mutter durchgemacht hatte. Wirklich ernst genommen jedoch hatte sie ihn nicht. Aber jetzt war es gut. Denn so konnte sie bereits nächste Woche nach Wien fliegen. Alles war in bester Ordnung.

„Pass gut auf dich auf“, hätte Esther gesagt. „Und verlier nicht den Kopf.“

Als lauere hinter jeder Ecke ein Henker auf der Suche nach Arbeit.