Agatha Christie

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Agatha Christie
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Barbara Sichtermann

AGATHA CHRISTIE

Eine Biografie


Erste Auflage 2020

© Osburg Verlag Hamburg 2020

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-95510-215-9 eISBN 978-3-95510-223-4

Für Ingo, meinen ersten Leser

Inhalt

Prolog

IAshfield

IIArchie

IIIUm die Welt

IVRuhm

VMax

VIEhrliche Arbeit

VIIKhatun

VIIITheater

IXQueen of Crime

Editorische Notiz

Auswahlbibliografie

Abbildungsnachweis

Prolog

Im Dezember des Jahres 1926 kannte die englische Boulevardpresse nur ein Thema: Die verschwundene Lady. Eine 36-jährige Dame ist von ihrem Haus in Sunningdale, südwestlich von London, mit dem Auto aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Die Familie gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei startet eine Suchaktion – vergebens. Man findet den Morris in einem Waldstück bei Guildford am Rande eines Steinbruchs, im Wagen eine Tasche und einen Ausweis, aber keine Spur der Fahrerin, nirgends. Die Zeitungen veröffentlichen Fotos, die Daily News setzt gar eine Belohnung für zielführende Hinweise aus, ohne Erfolg. Auch die Initiative der Evening News, die zu einer »großen Sonntagsjagd« bläst und die Anwohner nahe Guildford auffordert, Bluthunde mitzubringen, führt zu nichts. Die Lady blieb verschwunden. Elf Tage lang. Sie hieß Agatha Christie.

Liebhaber der Kriminalliteratur kannten ihren Namen, denn im selben Jahr war ein neues Buch von ihr erschienen, das Aufsehen erregt hatte, weil es eine ganz und gar ungewöhnliche Lösung bereithielt: The Murder of Roger Ackroyd – deutsch: Alibi. Und so war es nicht verwunderlich, dass sich ganz England für den Fall interessierte. Was war da los? Wo konnte Mrs Christie sich verborgen halten? Lebte sie noch? Wurde sie womöglich umgebracht? Wer hat sie zuletzt gesehen? Ein ganz eigener Agatha-Christie-Krimi schien sich da in der Wirklichkeit abzuspielen – mit der Autorin als Opfer.

Die Polizei verhörte die Familie. Es stellte sich heraus, dass der Ehemann Archie Christie vorwiegend in seinem Golfclub wohnte und nur selten heimkam. Eifrig mühte sich der smarte junge Banker, die Presse von Nachforschungen bei sich zu Hause abzuhalten, schon um seiner siebenjährigen Tochter Rosalind willen, die völlig durcheinander war und derzeit von der Sekretärin betreut wurde. Er gab ein paar gewundene Erklärungen ab, so etwa, dass sich seine Frau guter Gesundheit erfreue und er sich ihr Verschwinden nicht erklären könne. Aber in der Nachbarschaft wurde getuschelt. Man hatte davon gehört, dass eine andere Frau im Leben des Mr Christie aufgetaucht sei, seine Golfpartnerin, die sehr schön sein solle. Könnte am Ende der Ehemann schuldhaft verstrickt sein, etwa seine Gattin in den Selbstmord getrieben haben? Die Zeitungsleser stürzten sich allmorgendlich auf die Lektüre in der Hoffnung, Archie Christie sei des Mordes an seiner Frau überführt.

Was sich im Einzelnen ereignete, wird sich niemals klären lassen. Denn die Verschwundene ist die Einzige, die alles weiß. Sie ist zwar wieder aufgetaucht, hat aber ihr Lebtag über jene elf Tage geschwiegen. In ihrer Autobiografie vermerkt sie knapp: Wenn man den Blick zurückwendet auf die lange Reise, die unser Leben ist, hat man das Recht, die Erinnerungen, die einem zuwider sind, zu ignorieren. Oder ist das feige? Sie hat also gezweifelt, ob es richtig sei, nichts über jene elf Tage preiszugeben, hat sich aber dafür entschieden, das Stillschweigen zu bewahren. Es ist indes gar nicht schwer, sich auszumalen, was in ihr vorgegangen ist, wenn man weiß, in welcher Lebenskrise sie sich im Jahre 1926 befand. Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Was wir mit Gewissheit sagen können, ist, dass die Schriftstellerin einen Schock erlitten und tatsächlich den Wunsch gehabt hatte, von der Erdoberfläche zu verschwinden.

Einige Monate zuvor hatte Agathas Ehemann ihr mitgeteilt, dass er sich scheiden lassen wolle, weil er eine andere zu heiraten beabsichtige, eine junge Dame mit Namen Nancy Neele. Die gehörte zum Freundeskreis der Christies, Agatha kannte und mochte das Mädchen. Sie verstand auch, dass Archie sich verliebt hatte – aber seine Ehe deshalb aufzugeben, dass er dazu imstande sei, das erschien ihr undenkbar, abscheulich, gottlos. Sie konnte es nicht fassen und war nicht bereit, es hinzunehmen. Sie liebte ihren Mann, mit dem sie seit zwölf Jahren verheiratet war, aus tiefstem Herzen und sah ihre und der Tochter Zukunft durch eine Scheidung zerstört. Deshalb verweigerte sie die Auflösung ihrer Ehe, flüchtete sich in die Hoffnung, dass Archie es sich überlegen und zu ihr zurückkehren möge und war sich doch im Klaren, dass das nie passieren würde. Sie kannte ihren Mann und wusste, wie er aussah, wenn er fest entschlossen war. Sie hatte ihn verloren. Aber sie konnte und wollte das nicht wahrhaben. In dieser Situation tiefsten Kummers, flackernder Hoffnung und unerträglicher Herzenspein wünschte sie sich nichts so sehr, wie einfach weg zu sein. Nein, einfach würde es nicht sein, das wusste sie, aber sie wollte es versuchen. Und setzte sich ins Auto und fuhr los.

›Ich möchte, dass er mich suchen geht‹, so hat sie wohl zu sich gesprochen, ›und wenn er mich findet, wird er wissen, dass es ein Fehler war, mich aufzugeben. Er wird um mich fürchten, wird glauben, dass ich mich umgebracht habe und nur zu erleichtert sein, wenn er mich wieder in die Arme schließen kann. Mit der Erleichterung wird die Liebe in sein Herz zurückkehren und alles wird gut. Damit es so komme, muss ich ihm einen Hinweis liefern, den er sofort versteht. Aber ich muss einen Umweg wählen, ich kann es ihm nicht zu leicht machen. Wenn er mich zu schnell aufspürt, wird es womöglich nichts nützen. Die Angst um mich muss erst wachsen. Also werde ich einen Brief an seinen Bruder schicken, in dem ich mitteile, ich sei mit den Nerven am Ende und benötigte eine Auszeit. Und in dem ich die Gegend erwähne, in die ich mich zurückziehen werde. Campbell Christie wird seinen Bruder Archie umgehend informieren, man wird ein wenig herumsuchen und mich schließlich im schönsten und größten Resort in Harrogate auffinden. Ich habe ein Recht darauf, zu entfliehen. Er hat die Pflicht, mich zurückzuholen – in sein Herz.‹

Mit diesem vagen Plan im Kopf hat sich Agatha Christie an jenem 3. Dezember in ihren kleinen Wagen gesetzt und ist erst einmal zu jener Ortschaft gefahren, wo, wie sie wusste, Archie das Wochenende mit Freunden verbrachte – zu denen auch seine junge Golfpartnerin zählte. Sie fuhr auf das Haus zu, sah das Licht darin, fuhr weiter und in den Wald, hielt an, stieg aus und ließ den Wagen einen Hügel abwärts auf einen Steinbruch zurollen, bis er in einem Busch zum Stillstand kam. Sie kämpfte sich aus dem Wald heraus, erreichte die Landstraße und marschierte bis Chilworth, wo sie am Bahnhof auf den Zug nach London wartete. An der Station Waterloo warf sie den Brief an ihren Schwager Campbell ein. Danach setzte sie sich in aller Seelenruhe in den Zug und fuhr nordwärts in den Kurort Harrogate. Dort besorgte sie sich ein paar neue Kleider und mietete sich im Hydropathic Hotel ein unter dem Namen Mrs Teresa Neele aus Kapstadt.

Sie war vor sich selbst geflüchtet. Mrs Christie wollte sie für den Moment nicht mehr sein. Stattdessen hatte sie sich den Nachnamen ihrer Rivalin übergestreift – eine Tarnung und zugleich ein Appell: Archie, ich bin hier, und ich bin die Frau, die du liebst. Das Hotelpersonal war höflich, das Zimmermädchen freundlich, im Salon wurde des Abends soupiert und Karten gespielt, ein kleines Orchester machte Musik, und die Gäste tanzten. Die attraktive Mrs Neele wurde eingeladen, mitzutun, und sie zierte sich nicht, sondern sang sogar auf der Bühne. Derweil las sie in der Zeitung von der verschwundenen Agatha Christie und wunderte sich. Das hatte sie nicht vorausgesehen: dass man landesweit nach ihr suchen und die Presse den Fall derart aufbauschen würde. Der arme Archie! Er hasste alle Arten von Publicity und hatte wohl jetzt eine schwere Zeit. Warum auch erschien er nicht endlich in der Tür des Hydropathic Hotel?

 

Es war nicht so gekommen, wie Agatha es sich ausgemalt hatte. Schwager Campbell hatte den Brief achselzuckend weggeworfen und nicht mit Archie telefoniert. Ihre Familie stand schreckliche Ängste aus, denn sie wussten ja alle, dass die Trennung bevorstand, und so fürchtete man, dass die verzweifelte Agatha den Freitod gewählt habe. Auch der Polizeikommissar rechnete nicht damit, Agatha lebend aufzufinden – wobei er sich insgeheim darauf freute, den arroganten Ehemann wegen Mordverdachts zu verhaften. Aber die große Publizität, die das Verschwinden der beliebten Schriftstellerin inzwischen erlangt hatte, sorgte dafür, dass immer mehr Engländer ihr Bild vor Augen hatten. Das Zimmermädchen schöpfte Verdacht und besprach sich mit der Rezeptionistin. Die wiederum vertraute sich dem Orchester an. Zwei Musiker waren es schließlich, die die Polizei verständigten. Der Kommissar rief Archie an, und der fuhr schnurstracks nach Harrogate. Am 13. Dezember stand er Agatha in der Lounge gegenüber. Er hatte sie gefunden. Aber hatte er zu ihr gefunden? Wie in Trance gab sie ihm ihre Hand. Und er bestätigte gegenüber der Polizei und der Presse: Ja, sie ist es, meine Frau. Um die Fotografen und Journalisten abzuschütteln, verließen die zwei das Hotel durch den Hintereingang und fuhren, um ihre Spur zu verwischen, erstmal nach Abney Hall nahe Manchester, wo Madge Watts lebte, Agathas Schwester.

Die Öffentlichkeit war empört. Was hatte man nicht alles in die Wege geleitet, um die Vermisste zu finden, und jetzt stellte sich heraus, dass sie eine Art Spiel gespielt und alle, ihren Mann, die Ermittler, die Medien, an der Nase herumgeführt hatte. Die Zeitungsschreiber beschimpften sie und unterstellten ihr, sie habe durch ihr Untertauchen bloß auf sich und ihre Bücher aufmerksam machen wollen, das Ganze sei ein PR-Gag gewesen. Ihr Mann gab eine offizielle Erklärung ab: Seine Frau habe kurzzeitig ihr Gedächtnis verloren und könne für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Und Agatha selbst? Sie wusste nun, dass ihr Ehemann nicht zu ihr zurückkommen würde und willigte in die Scheidung ein. Sie vergaß nie die Schmerzen, die sie um Archies willen erleiden musste und erkannte an, dass sie, wenn sie auch ihr Gedächtnis nicht verloren, so doch sich in zwei Personen aufgespalten hatte: in Agatha Christie, die nicht mehr auf der Welt sein wollte und in Teresa Neele, die auf den Mann wartete, der sie liebte. Sie erkannte, dass die Menschen in sich widersprüchlich und nach außen hin mehrdeutig sind. Sie hatte ein neues Thema gefunden, das sie in ihren Büchern variieren wollte und das genauso bedeutsam für den Verlauf der Handlungen in ihren Krimis sein würde wie die Aufrechterhaltung der Spannung: Die menschliche Natur.

I
Ashfield

»Das ist ja eine wunderbare Nachricht«, sagte Clara Miller und schloss ihre Tochter fest in die Arme. »Ich wusste es. Du hast die Gabe. Agatha, du hast die Gabe. Und du darfst Mr Philpotts vertrauen. Wenn er sagt, dass du schreiben kannst, dann ist das so. Sein Urteil ist absolut vertrauenswürdig. Hast du den Brief dabei? Lies mir daraus vor!«

Agatha küsste ihre Mutter auf die Wange, löste sich aus der Umarmung und fiel in einen Gartenstuhl. Sie genoss eine rare Empfindung von Stolz und Anerkennung, die sie sogar in den Fingerspitzen wahrnahm. »Hier, Mama«, sagte sie und zog ein Blatt Papier aus der Rocktasche, »er schreibt, ich hätte Talent für den Dialog! Er übt auch Kritik, er hält nicht hinterm Berg. Warte –«, sie faltete den Brief auseinander, »hier steht: ›Versuchen Sie, moralische Betrachtungen aus Ihren Romanen herauszuhalten. Sie haben viel zu viel dafür übrig, und nichts liest sich langweiliger.‹«

»Na, da hat er recht.«

»Aber dann kommen wieder Worte wie ausgezeichnet‹. Und er meint, ich solle de Quinceys Bekenntnisse eines englischen Opiumessers‹ lesen, die Lektüre würde mein Vokabular vergrößern.«

Clara ging auf der Terrasse hin und her. Sie strahlte. »Ich werde zu ihm rübergehen und mich bei ihm bedanken, dass er ihn gelesen hat, deinen Roman, und dann auch noch so sorgfältig. Und dass er dir geschrieben hat. Snow upon the Desert. Wenigstens einen Leser außer mir hat dein Buch gefunden. Ein wahrer Freund, Mr Philpotts.«

Agatha lächelte. »Das ist er. Und weißt du was, Mama? Den Zuspruch konnte ich gebrauchen. Du … äh … kannst es dir ja denken … Ich bin noch nicht ganz darüber weg.«

»Soll ich dir ehrlich die Meinung sagen, darling

»Das tust du doch immer, Mama.«

»Wenn ich zu wählen hätte, für mich selbst oder für meine Tochter, zwischen der Begabung für den Gesang oder die Poesie, für die Opernbühne oder die Literatur, ich würde immer die Literatur wählen. Was bedeutet es denn für eine Frau, wenn sie zur Oper geht? Jede Menge Kraftakte, sage ich dir, mein Herz. Die Abende gehören dem Publikum, die Tage den Proben, und trotz all deiner Mühen ziehen die Kritiker vom Leder und treiben dich zur Verzweiflung. Die Theaterdirektoren wollen mit ihren Primadonnen Geld verdienen, sie kommen ständig mit neuen Extravorstellungen, und statt Urlaub zu machen, muss die Sängerin auf Tournee gehen. Wie soll sie all das mit einer Ehe und einer Familie vereinbaren? Das ist so gut wie unmöglich. Aber auf Heirat und Kinder zu verzichten – das ist erst recht unmöglich. Das wäre ein Opfer, wie es von keiner Frau in der ganzen Welt erwartet werden kann.«

Agatha stimmte zu. Sie dachte kurz an den Papa, an den liebevollen Bonvivant, als der er bei jedermann in Erinnerung war und an das sanfte Glück, das sie verspürt hatte, wenn sie als Kind, je eines ihrer Händchen in den Händen von Mutter und Vater, mit beiden spazieren ging. Mama hatte recht wie stets. Dennoch schmerzte die Erinnerung an das Vorsingen neulich und das Urteil der Lady von der Metropolitan Opera.

»Vielleicht«, seufzte sie, »ist es wirklich besser für mich, wenn ich keine Sopranistin werde. Aber ich möchte offen sein. Hätte ich mir nicht sagen lassen müssen, dass meine Stimme zu schwach sei für die Oper – ich hätte es versucht, Mama. Ich hätte die Ausbildung zu Ende gemacht. Obwohl ich nie, wirklich niemals, daran gedacht habe, wegen einer Bühnenlaufbahn ledig zu bleiben. Ich weiß, das ist nicht konsequent und vielleicht sogar verrückt, aber ich hatte mir eingebildet, ich könnte beides haben: abends die Tosca singen und morgens mein Kind wiegen.«

»Bis der Ehemann die Abende mit einer anderen verbringt! Ja, was soll er denn sonst tun, der arme Kerl? Ich bin sehr froh, dass du eine gute Beratung hattest, dass schon dein Lehrer in Paris nicht den Fehler beging, dich zu ermutigen, obwohl es dann ja doch nicht gereicht hätte mit der Stimme. Und noch froher bin ich, dass du jetzt eine Alternative hast – was deinen künstlerischen Ehrgeiz betrifft. Schreiben kannst du am Küchentisch und wenn die Kinder schlafen. Schreiben ist nichts, was dich um die Welt treibt, das geht zu Hause. Ja, dein Ehrgeiz, Agatha Miller. Der ist nun mal da, mit dem muss sich auch dein zukünftiger Ehemann abfinden.«

Der Ehemann. Lange war er für Agatha ein Phantom gewesen – unwirklich, aber immer freundlich, ja verheißungsvoll. Jetzt, kurz vor ihrem 20. Geburtstag, nahm er allmählich Gestalt an – er könnte z. B. Reggie heißen. Genauer: Reggie Lucy. Die Lucys waren eine befreundete Familie, ziemlich unkonventionelle, lebenslustige Leute, die Töchter Blanche und Muriel machten viel mit Agatha zusammen, und dann war da Sohn Reggie. Wenn Agatha bei den Lucys vorbeikam und mit Blanche oder Muriel im Garten saß und einen Wochenendausflug plante oder die Mädchen miteinander für eine Laientheateraufführung probten, kam er immer dazu. Er übte sich in Wortwitzen, die manchmal nicht zündeten, wofür er sich dann schämte. »Er ist sonst nie so komisch«, flüsterte Blanche Agatha zu, »er redet so, um dir zu imponieren.« Aber er, der Ehemann, könnte auch ganz anders heißen, etwa Bolton Fletcher. Sie hatte den Oberst auf einem Kostümball kennengelernt, wo sie als schöne Helena in weißer Tunika Eindruck machte und er in seiner Jagduniform auftrat – ein gut aussehender Mann Mitte dreißig. Er schrieb ihr Liebesbriefe und schickte Pralinen, Blumen und Bücher. Er war so stattlich und weitgereist. Und offenbar sehr von ihr angetan. Ferner war da Wilfred Pirie, der sie geduldig umwarb. Ihrer beider Mütter waren befreundet, und Wilfred, Oberleutnant zur See, lief mit seinem U-Boot häufig Torquay an – das schöne Torquay, Agathas Heimat, in der sie zu bleiben hoffte, ein Leben lang. Mit Wilfred an ihrer Seite? Als Mrs Pirie? Oder Mrs Fletcher? Oder gar Mrs Lucy? Dann würden die abenteuerlustigen Lucy-Mädchen ihre Schwägerinnen sein. Aber das war kein Grund, eine Ehe einzugehen. Agatha war ein bisschen enttäuscht von sich selber – dass da keine Leidenschaft in ihr wuchs, kein Sehnen, kein Verlangen. Reggie? War wirklich sehr nett, aber zu jung. Fletcher? »Ich bin von ihm restlos bezaubert«, so beschrieb sie ihr Gefühl, »und dennoch, wenn er fort ist und ich in seiner Abwesenheit an ihn denke, bedeutet er mir – nichts.« Als der Oberst sie geradeheraus fragte, ob sie seine Frau werden wolle, gab sie ihm einen Korb. Also Wilfred. Für ihn sprach manches. War er doch tüchtig und zuverlässig und gewohnt, für eine Familie zu sorgen, denn sein Vater war lange schon tot. Während Agatha die Aussicht prüfte, als Mrs Pirie zu leben, entdeckte sie, dass es Lilian Pirie, die Mutter des Kandidaten und enge Freundin Claras war, auf deren Nähe sie sich gefreut hätte … Ich empfinde also Wilfred als Bruder‹, dachte sie, das ist keine Basis für eine Ehe‹. Also blieb ihr nichts übrig, als erst einmal ihren Platz im alten Schulzimmer wieder einzunehmen, wo sie Klavier spielte oder am Pult saß und Geschichten schrieb. Einige hatte sie an Zeitschriften mit der Bitte um Veröffentlichung gesandt – sie waren alle zurückgekommen. Jetzt aber, nach der Ermutigung durch Eden Philpotts, der nicht nur ein netter Nachbar der Millers war, sondern auch ein angesehener und erfolgreicher Schriftsteller, hatte Agatha neue Zuversicht gefasst. Snow upon the Desert, der Roman, den sie Mr Philpotts hatte zukommen lassen, spielte in Kairo, wo sie selbst eine ganze Saison lang gelebt hatte und sich auskannte. Es war eine Dreiecksgeschichte mit überraschenden Wendungen und einer gehörlosen Heldin. Jetzt wollte sie etwas weniger Ausgefallenes, etwas Schlichteres versuchen, und der Schauplatz sollte England sein, vielleicht London oder die Gegend um Torquay. Sie spitzte ihren Bleistift und notierte sich Namen für die Hauptpersonen. Bis der Gedanke an Mr X, den ebenso willkommenen wie einstweilen noch unbekannten Ehemann, sie wieder ablenkte. Sie schaute aus dem Fenster über den Garten und auf die Terrasse mit den Korbstühlen, sie legte eine Hand auf das Fensterbrett vor ihr. Vielleicht‹, dachte sie, verliebe ich mich deshalb nicht, weil mein Herz schon vergeben ist. An Ashfield. Ich könnte doch niemals von hier fortgehen. Wenn ich träume, dann immer von Ashfield, die Umgebung, in der mein Leben begann. Der ausgefranste rote Teppich, der die Küche vom Gang trennt, das kupferne Gitter mit den Sonnenblumen am Kamin in der Diele, der türkische Teppich auf der Treppe, das große schäbige Schulzimmer mit seiner reliefartigen blaugoldenen Tapete. Etwas in mir sträubt sich gegen den Ehemann und das Eheleben, weil ich ja dann nicht mehr in Ashfield leben könnte.‹ Und sie murmelte einen Vers vor sich hin, von dem sie nicht mehr genau wusste, woher sie ihn hatte: »Ô ma chère maison, mon nid, mon gîte, / Le passé t’habite …«, und während sie leise so sprach, stieg es in ihr hoch, das Gefühl, das sie so sehr vermisste, wenn sie an Reggie oder Bolton oder Wilfred dachte. Das Gefühl der Zugehörigkeit, der Nähe, der Liebe. Es galt ihrem Haus.

Die prachtvolle viktorianische Villa mit Namen Ashfield, lag in Torquay, Grafschaft Devon, ein Städtchen, das im späten 19. Jahrhundert ein elegantes Seebad war. Vater Frederick Miller, der aus Amerika stammte, war sehr beeindruckt von der Schönheit des Ortes und der heiteren Gelassenheit seiner Menschen; Torquay half ihm dabei, ein Engländer zu werden. Eigentlich wollte er mit seiner jungen britischen Frau Clara in den Staaten leben, aber sie entschied sich für die englische Riviera, und da Frederick ein äußerst verträglicher Mitmensch und Ehemann war, stimmte er zu. Das Haus Ashfield mit dem großen Garten hatte Clara ebenfalls ausgesucht, und sie richtete es voller Hingabe im großbürgerlichen Stil der Zeit, mit Samtportieren, schweren Büfetts und schimmernden Kristalllüstern ein. Alle ihre drei Kinder kamen hier zur Welt: die älteste Tochter Margaret, genannt Madge, Sohn Louis Montant, genannt Monty, und schließlich, am 15. September des Jahres 1890, das Nesthäkchen Agatha Mary Clarissa. Die Kleine wuchs auf, wie es damals üblich war in der englischen Gentry: Wenn sie Zeit mit den Eltern verbrachte, so erschien es allen als etwas Besonderes wie ein Sonntag. Den Alltag brachte sie mit Nursie zu, ihrer Kinderfrau, der sie rückhaltlos zugetan war. Nursie war schon alt, dabei unendlich lieb und geduldig. Sie las Agatha aus der Bibel vor, ging mit ihr in den Garten und zum Einkauf in den Ort, Nursie fütterte sie und brachte sie zu Bett, tröstete und streichelte sie und erklärte freundlich alle Rätsel der seltsamen Welt. Und dann war da Jane, die Köchin, die wohlbeleibte Herrscherin über die Küche und die Vorratskammer, auf deren Schoß Agatha Cremetörtchen probieren und Sirup umrühren durfte. Auch der Gärtner hatte das Kind gern, aber da er öfter ziemlich brummig war, hatte Agatha vor ihm ein bisschen Angst. Schwester Madge war elf Jahre älter als Agatha und Bruder Monty zehn Jahre, somit fielen die Geschwister als Spielkameraden für die Jüngste aus. Gewiss, die beiden waren da, Madge las Agatha selbst verfasste Märchen vor und Monty spielte mit ihr Gespenst, aber so unverhofft die beiden sich ihr zuwandten, so schnell waren sie wieder auf und davon, wenn ihre gleichaltrigen Freunde sie riefen. Solche Freunde gab es für Agatha nicht. Das Mädchen war arg schüchtern, Versuche, sie mit Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen, fruchteten nicht, und Nursie hatte dazu auch wenig Neigung. Sie war am liebsten mit ihrem Schützling allein, und Agatha war gern allein mit ihr. Mit ihr und mit sich selbst und mit Hund Toni. Sie konnte stundenlang im Garten mit ausgedachten Spielgefährten, mit Kobolden und Feen und fiktiven gleichaltrigen Mädchen Spiele spielen und unter Büschen Geschichten ersinnen und aus bunten Steinen Figuren legen, manchmal waren Buchstaben dabei. Auch das Haus bot viel Abwechslung. Da war das Klavier, auf dem sie klimpern durfte so viel sie wollte, da waren die Zimmer, in die sie eigentlich nicht hineindurfte, das Herrenzimmer, die Ankleidezimmer, das Rauchzimmer, die Wäschekammer und die Abseiten, aber niemand schalt sie aus, wenn sie sich dort hineinschlich, alle lächelten nur. Und dann war da das Schulzimmer mit der Tafel und dem Globus. Und die Bibliothek! Als sie ein wenig größer war, setzte sie sich auf den Boden am Fuß eines mächtigen Regals, nahm einen Band heraus und blätterte vorsichtig – sie guckte nicht nur nach Bildern, sondern auch nach Wörtern. Madge las ihr hier Alice im Wunderland vor und zeigte auf Wörter, und Nursie erklärte ihr beim Einkauf die großen Zeichen auf Plakaten und über den Kaufläden, da stand »Heute neu« und »Äpfel« und »Bäckerei«. Jetzt entdeckte Agatha die Buchstabenfolgen in den Büchern wieder und war ganz aufgeregt. Manchmal spielte sie in der Bibliothek nur, dass sie ein Kätzchen sei und mit anderen Kätzchen eine Reise entlang der Stuhlbeine unternahm, aber dann kam sie wieder auf die Bücher zurück und träumte über den gedruckten Seiten.

 

Agatha Christie als Kind.

Bücher galten zu jener Zeit als Quellen wichtiger Erkenntnis und schöner Erbauung, aber auch von gefährlicher Reizung der Phantasie – weshalb Kinder nicht zu früh in die Kunst des Lesens eingeführt werden sollten. Für Töchter war ohnehin keine schulische Bildung vorgesehen. Was sie zu lernen hatten, konnte man ihnen daheim vermitteln, es sei denn, sie zeigten in irgendeiner Disziplin besondere Begabung – dafür wurde dann ein Hauslehrer engagiert oder eine Gouvernante. Bei Agatha galt es erstmal abzuwarten, das stille, in sich gekehrte Kind zeigte scheinbar keine besondere Wissbegier. Bis die Fünfjährige auf Nursies Schoß plötzlich bei der Bibellektüre Worte zu entziffern vermochte und Nursie das Buch zu und eine Hand vor den Mund schlug. »O-O«, sagte sie, »meine Kleine, was ist denn das?« Und gehorsam machte sie Meldung bei Mutter Clara: »Ich fürchte, Madam – Miss Agatha kann lesen.« Clara war durchaus ein wenig besorgt. »Aber«, sagte sie nach Rücksprache mit ihrem Mann, »da es nun so ist, soll sie lesen. Doch wir müssen auch an andere Fächer denken. Papa wird ihr Rechenstunden geben und ich sie schreiben lehren.« Ach, das Schreiben machte Agatha überhaupt keinen Spaß. Auf die Rechenstunden aber freute sie sich. Der Papa war überrascht. »Ihr Gehirn funktioniert mathematisch«, sagte er. Agatha war ziemlich stolz darauf, nun eine Schülerin zu sein. Zwar waren Madge und Monty als Internatszöglinge ihr weit voraus, aber auch sie ging jetzt die ersten Schritte in Richtung auf Erkenntnis und Wissen. Allerdings fürchtete sie sich stets vor den Rechtschreibstunden. Ihr Leben lang blieb Orthografie ihre schwache Seite. Sie hatte die Wörter durch Nursies Erklärungen nach der Ganzheitsmethode erlernt und schrieb nach Klang. O ja, sie war sehr musikalisch. Als ihre Hände ein bisschen größer geworden waren, kam eine Klavierlehrerin ins Haus, und die war bald richtig beeindruckt von Agathas flüssigem und ausdrucksstarkem Spiel.

Schon als Kind erlebte Agatha eine erste schmerzhafte Trennung vom Ashfieldschen Kosmos mit seinen Menschen, Tieren, Bäumen und Büchern. Ihr Vater schrieb, wenn er beim Ausfüllen eines Formulars oder beim Einzug in ein Hotel seinen Beruf angeben sollte, stets schlicht »Gentleman« hinein. Er arbeitete nicht, sondern lebte das angenehme und abwechslungsreiche Leben eines vermögenden Herrn zwischen Club, Cricketground, Kunst-Auktionen, Wochenend-Einladungen, Theatervorstellungen, Gardenpartys, Reisen und Ashfield. Er sammelte Antiquitäten, las interessante Autoren, kaufte antike Möbel, verwöhnte seine Frau und unterrichtete seine Kinder. Frederick Miller war ein äußerst beliebter Zeitgenosse, hatte viele enge Freunde und angeheiratete Verwandte. Finanzieren konnte er sein müßiges Leben durch den Besitz ausgedehnter Liegenschaften in den Vereinigten Staaten; seine Häuser in New York warfen seit vielen Jahren eine bedeutende Summe ab. Leider aber stellte sich eines Tages heraus, dass seine Verwalter drüben doch nicht die tüchtigsten und auch nicht die vertrauenswürdigsten waren. Sein Vermögen war zusammengeschmolzen, die finanzielle Lage angespannt, die Aussicht düster. Eine Weile besprach sich Frederick mit seinen Anwälten, Kabel und Briefe mit unerquicklichen Abrechnungen gingen hin und her – und am Ende stellte sich heraus, dass der Lebensstil der Millers so nicht zu halten war. Frederick redete mit Clara. Man würde sich einschränken müssen.

Um die Jahrhundertwende war es eine beliebte Methode der Geldersparnis für großbürgerliche Engländer, ihre herrschaftlichen Villen über den Sommer oder sogar das ganze Jahr zu vermieten und sich derweil im Süden Europas oder im Nahen Osten niederzulassen, wo die Lebenshaltungskosten nur einen Bruchteil der britischen betrugen und das Wetter obendrein besser war. Es gab genügend Touristen vom Kontinent, die sich während der Sommermonate in so reizenden Orten wie Torquay aufhalten wollten, auch Industriekapitäne aus dem Norden zog es sommers an die Küste. Das war nun vorerst die Lösung für die Familie Miller: Sie vermieteten Ashfield, schickten das Personal mit einer Abfindung vorübergehend nach Hause und fuhren nach Südfrankreich. Dem Papa, der seit den schlechten Nachrichten aus Amerika Gesundheitsprobleme hatte, würde das Klima guttun, und für die Jüngste wurde es Zeit, Französisch zu lernen. Solange die Eltern bei ihr waren, machte Agatha gern alles mit, aber sie war jedes Mal nur allzu froh, wenn sie zurück nach Ashfield kam, wenn sie Toni bellen und ihren Kanari piepsen hörte, wenn sie wieder in ihrem eigenen Bett schlafen durfte und es Jane war, die die Mahlzeiten zubereitete. Und wenn sie in der Bibliothek mit einem Buch im Schoß auf dem Boden saß und den schweren süßen Holzgeruch einatmete.

Der Vater war aber nun krank geworden vor lauter Sorgen um sein Vermögen. Erst suchte er Ärzte in Torquay und London auf, dann kamen die Ärzte nach Ashfield, es wurde viel ausprobiert mit Medizin und Diät, und es hieß, dass Luftveränderungen nun nicht mehr helfen würden. Als Agatha elf Jahre alt war, starb Frederick Miller an einem Herzleiden; das Töchterchen wurde vorübergehend zur Großmutter geschickt, die Mutter war untröstlich, und am Ende – Madge und Monty waren längst aus dem Haus – blieben im großen Anwesen Ashfield nur Clara und ihre Jüngste übrig. »Ashfield ist zu groß für uns beide«, sagte Clara, »und zu aufwendig dazu. Wir müssen es verkaufen.« Die Verzweiflung, die Agatha bei diesen Worten ergriff, war so tief, ihr Schluchzen so fürchterlich, dass Clara erschrak. »Vielleicht können wir es halten«, sagte sie und klopfte Agathas Scheitel, »wenn wir es zwischenzeitlich wieder vermieten.«