Friss oder stirb

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»Die Platte kippt«, ruft sie dann und greift nach Kurts Hand, er zieht sie weg, schüttelt den Kopf. Sie greift nach seinem Arm, sie will nicht, dass er von der Platte rutscht.

»Lass das«, sagt Kurt und schüttelt ihren Arm ab und sie fällt gegen ihn, er fällt, rutscht zur Kante, halt dich fest, will sie sagen, sie klammert sich an ihn, er schüttelt sie ab.

»Was Süßes?«, fragt Edi und zieht eine Tafel Schokolade hervor, gibt sie Petra, die sich eine Rippe abbricht und Anna die Tafel hinhält. Schokolade, denkt Anna, irgendwie wäre Schokolade jetzt nicht schlecht. Sie bricht sich ein Stück ab, steckt es in den Mund, Kurt beginnt einen neuen Joint zu bauen, »bevor es ganz dunkel ist.«

Die Schokolade verklebt Anna den Mund, wird immer mehr, erst süß, dann bitter, dann säuerlich, dann ist sie weg bis auf den schalen Nachgeschmack. Nie wieder ein Stück, denkt Anna, ein Stück noch, denkt sie, nur noch ein Stück.

Die Mutter wischt über den Tisch, verschränkt die Hände und sagt: »Wie hast du dir das vorgestellt, mit deinem«, sie räuspert sich, »Bekannten? Hast du dir vorgestellt, er kann zu uns kommen, bei uns schlafen, du kannst zu ihm fahren? Willst du mit vierzehn Jahren die Pille nehmen?«

Anna deutet ein Nicken an.

»Ich verbiete dir das«, sagt die Mutter.

Anna schüttelt den Kopf.

»Ich verbiete dir, mit ihm zu schlafen«, sagt die Mutter.

Das kann sie nicht, denkt Anna, das kannst du nicht, will Anna sagen, das geht doch nicht, »du kannst mir keinen Menschen verbieten«, sagt sie leise, »ich verbiete dir keinen Menschen«, sagt die Mutter, »ich kann ja verstehen«, beginnt die Mutter, die Mutter versteht überhaupt nichts, denkt Anna und starrt auf die Hände der Mutter, die über die Tischplatte wischen, immer wieder über die Tischplatte wischen. Die Mutter kann ihr nicht den Menschen verbieten, den sie liebt, denkt Anna, die Mutter verbietet ihr nie etwas und jetzt gerade das. Die Mutter greift über den Tisch, greift nach Annas Hand, will eine Hand auf ihre legen.

»Anna«, sagt die Mutter, »ich will nicht, dass unser Vertrauen verloren geht.«

Anna schüttelt den Kopf, zieht die Hand weg, steht auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu und schreibt in ihr Tagebuch.

Die Mutter spricht nicht mehr mit ihr. Sie schweigt auf eine Art und Weise, wie sie noch nie geschwiegen hat. Wenn Anna die Mutter fragt, was los ist, sieht die Mutter durch sie hindurch. »Bitte rede mit mir«, sagt Anna schließlich zur Mutter, sagt sie immer wieder, dann gibt sie auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu.

Später, viel später, macht die Mutter die Tür auf, steht im Türrahmen, sieht Anna an und sagt: »Ich habe dein Tagebuch gelesen.«

Anna öffnet den Mund, sie will etwas sagen, sie weiß nicht was, weiß nicht wie.

»Ich bin entsetzt«, sagt die Mutter, »was für ein Mensch meine Tochter ist. Ein Mensch mit so hässlichen Gedanken. Ich hätte mir das nie«, sagt die Mutter, »von meiner Tochter gedacht.«

Anna schließt den Mund, sieht auf die Tischplatte.

»Du solltest dich schämen«, sagt die Stimme der Mutter, Anna will sagen, dass es ihr leidtut, will sagen, dass sie irgendwo ihre Gefühle loswerden muss, »wirklich schämen«, hört Anna, sie sieht auf, öffnet den Mund, die Mutter dreht sich um und geht davon. Nie wieder Tagebuch schreiben, denkt Anna, anders mit den Gefühlen zurechtkommen, am besten gar keine Gefühle haben, nimmt sie sich vor.

Es hat ziemlich weh getan, schreibt Anna drei Monate später in ihr neues Tagebuch und dass sie seitdem endlich einen Tampon einführen kann. Die Mutter hat behauptet, dass jemand angerufen und gesagt hat: Wissen Sie, dass Ihre Tochter mit dem Kurt schläft? Ich weiß nicht, ob die Mutter lügt, ob die Mutter sich das ausdenkt oder ob wirklich jemand, ob vielleicht sogar Melli, Anna streicht Mellis Namen durch.

Sie schreibt, dass die Mutter ihr einen Schwangerschaftstest, Anna macht drei Rufzeichen, in die Hand gedrückt hat und dass sie ihre Tage erst bekommen hat, nachdem sie auf den Test gepinkelt hat, obwohl sie natürlich, Anna macht ein Rufzeichen, ein Kondom verwendet haben. Das Tagebuch versteckt sie ganz oben im Regal, hinter den Bilderbüchern.

»Beim Essen«, sagt Heinz, »kommen die Leute zusammen«, und er bietet Kurt sogar ein Bier an. Es gibt Suppe in Suppentellern, es gibt eine Hauptspeise, es gibt Salat in kleinen Glasschüsseln, es gibt sogar eine Nachspeise, Anna bemüht sich zu essen. Heinz bietet Kurt einen Kaffee an und Anna wartet darauf, dass er ihm einen Cognac anbietet und sich mit ihm zum Rauchen in den Salon zurückzieht, in den Salon, den sie nicht haben, und sie weiß nicht, was ihr peinlicher ist, Heinz, so betont lässig, oder der strenge Blick der Mutter auf Kurts nacktem Knie, auf seiner zerrissenen Hose, auf seinen Haaren, »er sollte sich mal kämmen«, sagt die Mutter später, »oder zumindest die Haare waschen.«

»Er soll sich eine neue Hose kaufen«, sagt Heinz, »so wird aus dem nie etwas.«

Kurt kommt nie wieder zu ihr nach Hause, an den Samstagen darf sie ihn sehen, unter der Woche muss sie lernen, »in der Schule darf sie nicht abfallen«, heißt es, unter der Woche darf sie nicht ausgehen und in der Stadt abhängen, so der Deal, nur am Samstagnachmittag, nach dem Mittagessen, Samstag und Sonntag essen sie gemeinsam zu Mittag, »wie es sich gehört.«

»Keine Suppe für mich«, sagt Anna.

»Will sie jetzt auch noch abnehmen?«, fragt Heinz die Mutter.

»Und Fleisch isst sie auch keines mehr«, sagt er kopfschüttelnd und isst ihr dennoch den Salat weg, mit der Gabel sticht er auf die einzelnen Salatblätter ein, mit Gabel und Messer zerteilt er das Fleisch, zerkratzt mit dem Messer das Porzellan und Anna will schreien und davonlaufen, sie sagt, es kratzt in ihrem Inneren, es zieht in ihren Zähnen, dieses Geräusch, doch die Mutter und Heinz schütteln nur den Kopf, »überempfindlich«, heißt es und »Pubertät« und nachdem Anna den Tisch abgeräumt und den Geschirrspüler eingeräumt hat, geht sie zum Kühlschrank und nimmt sich ein Vanillejoghurt.

»Das isst sie also«, sagt Heinz und Anna denkt, dass er recht hat, dass sie sich das Joghurt sparen sollte. Sie geht ins Bad, versperrt die Tür, sieht in den Spiegel, umrahmt die Augen mit schwarzem Kanal, fährt sich durch die Haare, bis sie nach allen Seiten abstehen.

»Wie eine Hexe«, sagt Heinz.

»Um zehn bist du wieder da«, sagt die Mutter.

»Halb elf«, sagt Anna.

»Zehn«, sagt die Mutter.

Kurt sitzt in der Wiese mit Edi und den anderen, Anna geht auf ihn zu, gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Er hält ihr seine Bierdose hin, sie trinkt, er bietet ihr eine Zigarette an, sie verneint, sie setzt sich neben ihn in die Wiese. Sie sitzen, reden, trinken, sie rauchen einen Joint, einen Joint nach dem anderen.

Später gehen sie und Kurt durch die Fußgängerzone, ein Kopfhörer in ihrem, ein Kopfhörer in seinem Ohr, sie spürt den Boden nicht mehr, sie schwebt, sie spürt noch Kurts Hand in ihrer, die Hand wird taub, sie spürt die Arme nicht mehr, die Beine, nur mehr die Mitte, den Magen. »Kurt«, sagt sie, sie wundert sich, dass sie noch sprechen kann, »mir ist schlecht«, sagt sie, Kurt sieht sie an, »du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen«, sagt er und drückt ihre Hand, zieht sie ins Einkaufszentrum, fährt mit ihr die Rolltreppen hinauf, zieht sie Richtung Toiletten. »Ich kann nicht mehr«, sagt sie und lehnt sich gegen die Wand, er hält ihre Haare, sie beugt sich über den Mülleimer. »Am Dope kann es aber nicht liegen«, sagt er, als sie fertig ist, »das ist gutes Dope.«

»Es geht schon wieder«, sagt sie und nimmt einen Schluck Bier gegen den Geschmack von Kotze im Mund.

Anna springt vom Boden auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab. Sie hört das Zittern in ihrer Stimme, als sie ihren Nachnamen sagt, sie hört das Rauschen in den Ohren und die Stimme von irgendjemandem, der sie nicht interessiert. »Die sind nicht da«, sagt sie und legt auf. Sie geht ins Badezimmer und stellt sich auf die Waage. Die Waage zeigt seit Wochen das gleiche Gewicht. Sie geht ins Wohnzimmer, legt sich auf den Teppich und fährt damit fort, die Beine zu heben, zuerst auf der Seite liegend, dann auf dem Bauch, dann auf dem Rücken, sie macht alle Übungen aus dem Buch, das die Mutter ihr geschenkt hat. Schlank und schön, liest Anna auf dem Einband, dann blättert sie in der Frauenzeitschrift, die die Mutter von Petras Mutter bekommen hat, sie liest die Diättipps, die Kalorienangaben neben den Rezepten. Sie weiß nicht, was sie falsch macht. Das Telefon läutet und sie springt auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab.

»Anna?«, fragt Kurt.

»Kurt«, sagt sie und ignoriert die Punkte, die schwarzen Punkte, die schon wieder in ihrem Gesichtsfeld herumschwirren.

»Wie geht’s?«, fragt er und Anna erzählt, dass die Mutter und Heinz nicht da sind, dass sie erst übermorgen wiederkommen und fragt ihn, ob er zu ihr kommen mag.

»Ich muss noch was erledigen«, sagt Kurt, »wie heißt der Schulkollege von dir, der Gras anbaut?«

»Paul?«, fragt sie.

»Kannst du den morgen Abend in den Keller mitbringen?«

»Ich werde es versuchen«, sagt sie und Kurt verabschiedet sich und sie geht durch die Wohnung, geht in ihr Zimmer, öffnet ihr Tagebuch.

Anna nickt den Türstehern zu, drückt sich gegen die Tür, geht die Stufen hinunter, hinein in den Keller und ganz nach hinten an den großen Tisch zu Kurt. Sie gibt ihm einen Kuss auf den Mund.

»Wo ist dein Schulkollege?«, fragt er.

»Er hat keine Zeit«, sagt sie und Kurt nickt, sieht weg. Anna sitzt neben Kurt, er sieht sie nicht mehr an, sie möchte ihn fragen, was los ist, aber er sieht sie nicht an, sie möchte etwas sagen, aber die Musik ist so laut, sie möchte ihn berühren, aber Kurt steht auf und klettert über die Bank, sein roter Rucksack verschwindet, der Keller ist voll, der Keller ist leer ohne Kurt.

 

Fünfzehn oder:
go on, take everything, take everything I want you to

Anna nimmt ein weißes Blatt Papier und hält es über die Spalte mit den Lateinvokabeln. Sie liest das deutsche Wort, sucht das lateinische Wort im Kopf, sie findet es nicht. Sie versucht es umgekehrt, liest das lateinische Wort, sucht das deutsche Wort im Kopf, sie findet das erste, das zweite, das dritte findet sie nicht. Das vierte auch nicht. Sie schüttelt den Kopf und schiebt das Lateinbuch zur Seite, stützt den Kopf in die Hände, der Kopf ist schwer. Sie nimmt das Mathebuch und sieht sich die Hausaufgaben an. Zu müde. Sie steht auf, geht in die Küche, trinkt ein Glas Wasser, sieht in die Speisekammer. Sie greift nach einer Banane, schält die Banane, beißt ab. Schon die zweite Banane heute, sie schluckt und spürt, wie die Banane hinunterrutscht, in der Mitte ankommt. Ein Loch, denkt sie, in der Mitte ist ein Loch. Sie sieht in den Kühlschrank. Da steht ein Topf. Sie nimmt den Topf aus dem Kühlschrank, hebt den Deckel hoch. Das Fleisch riecht gut, warum riecht das Fleisch so gut, denkt sie und legt den Deckel auf den Topf, stellt den Topf zurück in den Kühlschrank. Sie geht in ihr Zimmer, setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Mathebuch und das Heft und zwingt sich die Aufgaben zu machen, zwingt sich die Beispiele durchzurechnen, zwingt sich zu glauben, dass das, was herauskommt, ungefähr stimmt. Dann geht sie in die Küche, nimmt sich einen Apfel und beißt hinein. Schon der zweite Apfel heute, sie geht zurück an den Schreibtisch, schlägt das Lateinbuch auf und konzentriert sich, konzentriert sich so sehr sie kann, merkt sich einige Vokabeln, zu wenig, viel zu wenig. Sie steht auf und geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, nimmt den Topf heraus, stellt den Topf auf den Herd, dreht die Platte auf, nimmt einen Kochlöffel und rührt. Sie leert den Inhalt des Topfes in einen Teller, nimmt eine Semmel, tunkt die Semmel in die Fleischsauce, schiebt die Semmel mit der Sauce in den Mund. Sie atmet ein und spürt, wie es warm wird in der Mitte, wie der Kopf klarer wird, spürt die Füße auf dem Boden, spürt Ruhe in sich und dann, als der Teller leer ist, Unruhe.

Wieso das Schultor so schwer sein muss, denkt Anna, wieso alles so schwer sein muss. Sie geht die Stufen hinauf in den ersten, in den zweiten, in den dritten Stock, wozu diese Stufen, denkt sie und sieht Melli, Mellis Haare sind wasserstoffblond.

»Hey«, sagt Anna und geht auf Melli zu, »neue Frisur, sieht gut aus.«

»Danke«, sagt Melli und gibt ihr ein Bussi und spricht weiter mit ihrem Klassenkollegen. Melli sieht trotzdem nicht aus wie Courtney Love, denkt Anna und wartet, während Melli spricht und spricht, sie wartet, bis es läutet und dann gibt Melli ihr wieder ein Bussi und Anna dreht sich um und geht. Wann dieser Gang so lang geworden ist, fragt sie sich und geht die Stufen hinauf in den vierten Stock, wieso ihre Klasse im vierten Stock sein muss, wieso alle diese Stufen jeden Tag, wieso die Schwerkraft so stark sein muss. Sie geht in die Klasse, nickt Paul zu und will sich auf den Stuhl fallen lassen. Petra und die anderen stehen am Fenster, Petra winkt ihr, auch sie eine neue Frisur. Anna geht auf sie zu und gibt ihr und den anderen ein Bussi.

»Gefällt es dir nicht?«, fragt Petra, Anna weiß nicht, was sie sagen soll, »sag doch einfach, dass es dir nicht gefällt«, sagt Petra und sieht Anna herausfordernd an. Anna ist froh, dass der Mathelehrer in die Klasse kommt, froh, dass sie endlich sitzen kann, dass heute Freitag und dass dann Wochenende ist.

Später sperrt Anna die Haustür auf, betritt das Stiegenhaus, zu Fuß gehen, denkt Anna, das Fett an den Oberschenkeln, aber der Körper will nicht zu Fuß gehen, kann nicht zu Fuß gehen, das Fleisch ist schwach, denkt Anna, nur der Arm hebt sich, drückt auf den Knopf, ruft den Lift. Sie steigt in den Lift, sieht ihr Gesicht im Spiegel, es ist gelb, es ist so was von hässlich. Anna sperrt die Wohnungstür auf, sperrt die Tür hinter sich zu, sieht auf die Küchenuhr, noch drei Stunden, bis die Mutter und Heinz nach Hause kommen.

Anna steht in der Küche, steht vor der Speisekammer, steht vor dem Kühlschrank, sie steht vor dem Kuchen auf der Anrichte, der Kuchen, den die Mutter gemacht hat, der Kuchen, den sie nicht essen darf, der Kuchen, von dem sich die Hand ein Stück abschneidet und es in den Mund schiebt. Die Hand, die nach dem Brot greift, die andere Hand nimmt das Messer, schneidet eine Scheibe ab, nimmt das andere Messer, die Butter, streicht Butter aufs Brot, schneidet Käse, schiebt Brot in den Mund, schiebt Brot in Anna, bis sie so voll ist, dass sie sich festhalten muss, sie schwankt, sie blinzelt, wischt über die Arbeitsfläche, wischt die Brösel in die Abwasch, stopft das Brotpapier und das Plastik vom Käse in den Müll, steckt die Messer in den Geschirrspüler, stellt die Butter in den Kühlschrank zurück, schleppt sich in ihr Zimmer und fällt aufs Bett.

You should learn when to go, singt Courtney Love, you should learn how to say no, schreit Courtney, »Anna«, ruft die Mutter, sie hat keine Chance gegen Courtney, die Mutter geht zum Stereoturm und dreht die Musik leiser. »Das ist doch nicht gesund«, sagt die Mutter, »hast du nichts zu tun?«

Anna hebt den Kopf und zuckt mit den Schultern.

»Willst du nichts unternehmen«, fragt die Mutter, »du kannst doch nicht das ganze Wochenende herumliegen, wir fahren zum Haus, wir würden uns freuen, wenn du mitkommst.« Anna schüttelt den Kopf.

»Bist du noch immer so traurig wegen diesem Kurt?«, fragt die Mutter und Anna möchte schreien, so laut wie Courtney möchte sie schreien, die Mutter ist doch froh, denkt Anna, dass es aus ist mit Kurt.

»Ich habe meine Tage«, sagt sie, »ich fühle mich wie hingeschissen.«

»Sprich nicht so«, sagt die Mutter.

»Ich fühl mich aber so«, sagt Anna.

»Wenn das so weitergeht, müssen wir zu einem Arzt gehen«, sagt die Mutter und geht aus dem Zimmer. Anna greift zur Fernbedienung und dreht lauter, go on, take everything, take everything, I want you to, wenn es nur Kurt wäre, denkt sie und dass sie selbst schuld ist, wenn sie alleine im Keller, wenn sie alleine auf der Straße mit jemandem, den sie kaum kennt, dass ja nichts passiert ist, denkt sie, dass sie es vergessen muss, das Gewicht des fremden Penis in ihrer Hand, wie er ihn ihr einfach in die Hand gelegt hat, als hätte sie darum gebeten, sie hat ganz sicher nicht darum gebeten, ganz sicher nicht, denkt sie immer wieder.

Anna geht die Stufen hinunter, den Gang entlang nach hinten zum Kaffeeautomaten. Sie spuckt den Kaugummi in den Mülleimer, wirft Geld in den Automaten und drückt auf den Knopf. Kaffee und Kaugummi, denkt sie, heute hat sie nur Kaffee und Kaugummi gegessen, gestern hat sie nur Kaffee und Kaugummi gegessen, wie viele Tage kann sie nur Kaffee und Kaugummi essen bis das, was sie davor gegessen hat, wieder verschwunden ist, bis sie wieder diesen Hunger bekommt. Sie sieht Melli auf sich zukommen, Melli mit ihren langen blonden Haaren und ihren langen Beinen, Melli mit ihren großen Brüsten und ihrem großen Mund.

Melli gibt ihr ein Bussi. Anna will Melli fragen, warum sie nie zurückruft, warum sie nichts mehr mit ihr machen will, will Melli sagen, dass sie sie vermisst, aber sie will nicht hier in der Schule zu heulen beginnen, sie will überhaupt nicht heulen, also fragt sie Melli nur, wie es ihr geht.

»Super«, sagt Melli, »ich hab so viel gelernt, ich hab mich fast überall gebessert, ich schaffe es vielleicht ganz ohne Nachprüfung und meine Mama sagt, wenn ich es schaffe, dann darf ich zum Sonic Youth-Konzert nach Wien fahren.«

»Sonic Youth«, sagt Anna.

»Ja, die Petra will nicht, willst du mit?«, fragt Melli und Anna nickt und Melli lässt sich auch einen Kaffee herunter und sagt: »Der Edi besorgt die Karten. Der Kurt ist auch dabei.«

Anna schiebt sich einen Kaugummi in den Mund und kaut, sie weiß nicht, ob ihr vom Automatenkaffee, vom Kaugummi auf nüchternen Magen oder von der Vorstellung flau wird, mit Kurt gemeinsam nach Wien zu fahren, sie weiß nur, dass sie sich in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen zusammenreißen, dass sie sicher keine Schokolade, dass sie überhaupt nichts Süßes, dass sie nichts Fettes, dass sie überhaupt nur essen wird, wenn sie wirklich großen Hunger hat, dass sie bis zum Sonic Youth-Konzert ein paar Kilo abnehmen muss.

Anna sieht Kurt sofort, obwohl seine Haare nicht mehr blond, sondern braun sind, sie denkt an die Fotos von Kurt Cobain im Schlafanzug mit braunen Haaren, sie denkt, dass ihr Kurt Cobain auf diesen Fotos gefällt. Kurt gefällt ihr nicht mehr wirklich, aber der Stich im Bauch oder ist es das Herz, der Stich in der Mitte ist immer noch da und der leichte Schwindel, als sie auf ihn zugeht, als er sie ansieht, als sie seine Stimme hört, die ihren Namen sagt.

Edis Iro ist grün, er nickt ihr zu, Melli gibt ihr ein Bussi und Anna folgt den anderen auf den Bahnsteig, in den Zug, den Gang entlang zu einem leeren Viererabteil, sie ziehen die Vorhänge zu. Kurt öffnet den Rucksack, derselbe Rucksack wie früher, ein roter Rucksack voll mit Bier. Er macht sich eine Dose auf und trinkt. Er zündet sich eine Zigarette an, alle zünden sich Zigaretten an, alle außer Anna.

»Willst du noch immer wachsen?«, fragt Kurt.

Anna nickt und zuckt gleichzeitig mit den Schultern, schaut weg, wieder hin, hält seinem Blick stand. Er sagt nichts, sagt die ganze Fahrt lang nichts, er trinkt sein Bier, raucht seine Zigaretten und sieht sie hin und wieder an.

Sie sagt auch nichts, hört Edi und Melli zu und sieht Kurt hin und wieder an. Vielleicht hat sie sich deshalb in ihn verliebt, denkt sie, weil auch er nicht reden kann, vielleicht hat er sich deshalb in sie verliebt, weil sie beide nicht reden können. Sie sieht auf Kurts Knie, er hat eine neue Hose, ganz ohne Loch.

Sie steigen aus und folgen Edi, Edi kennt sich aus, sie steigen in eine U-Bahn, die U-Bahn schaukelt hin und her, Kurts Beine schaukeln hin und her, seine Beine sind so lang, sie reichen fast an Annas Beine heran, ihre Beine sind zu kurz.

Sie gehen mit anderen Sonic Youth-Fans die Straße entlang, stehen vor dem Bierstand, vor den T-Shirts, vor der Bühne. Anna versucht über die Köpfe hinweg auf die Bühne zu sehen, Kurt hält ihr eine selbst gedrehte Zigarette hin.

»Das ist keine Zigarette«, sagt er, »das ist was Besseres.«

Now you better take a deep breath, singt Kim Gordon, Anna greift nach Kurts Zigarette, zieht daran, einmal, zweimal, dreimal, trinkt einen Schluck Bier. I guess it’s true it’s never too late, der Rhythmus der Gitarren in Annas Körper, still I don’t know what to do today, der Körper verschwimmt mit dem Rhythmus, oh why can’t I set you free, der Körper wird zum Rhythmus, alles schwillt an, verdichtet sich, sie verdichtet sich, spürt sich und spürt sich auch nicht, spürt etwas in sich und es ist egal, dass sie Kurt nicht mehr sehen kann, es ist egal, dass sie die anderen verloren hat, es ist egal, wer sie ist, wie dick oder dünn, sie will, dass dieser Rhythmus nie mehr aufhört und sie schreit mit den anderen »more more more« und johlt und klatscht und it’s just a dream I had.

Später, als es leise wird, als die Menge sich auflöst, als sie über die Wiese geht, über die Plastikbecher steigt, Kurt und die anderen wiederfindet, als Edi vorschlägt, auf die Band zu warten und die Bandmitglieder wirklich auf dem T-Shirt unterschreiben, das sie sich gekauft hat, ist Anna noch immer high. Sie folgt Edi und Kurt und Melli wieder zur U-Bahn, wieder eine andere U-Bahn, irgendeine Wohnung von irgendeinem Kumpel, sie legt sich auf irgendeine Matratze und später, viel später, liegt Kurt neben ihr und berührt sie nicht.

Die Mutter sagt nichts, Heinz sagt nichts, als Anna ihnen das Zeugnis zeigt. Anna sagt nicht, dass sie in Geschichte und in Biologie und in Chemie und in Latein noch eine Prüfung hätte machen können, dass sie noch bessere Noten bekommen hätte können, wenn sie es nur wirklich gewollt hätte, sie erzählt nicht, dass sie zu faul war, dass sie darauf verzichtet hat, besser zu sein. Sie nimmt das Geld, das Heinz ihr hinhält, das Geld, das Heinz ihr gibt, obwohl er Besseres von ihr gewöhnt ist, sie steckt das Geld ein und dividiert die Summe durch den Preis einer Tafel Schokolade.

 

»Aufstehen«, hört Anna die Stimme der Mutter, »die Sonne scheint«, ruft die Mutter und zieht den Vorhang über dem Bett zurück, »das Meer wartet auf dich.« Anna fragt sich, ob die Mutter komplett verrückt geworden ist, ob sie wirklich glaubt, dass sie ihr diese Fröhlichkeit abnimmt. »Frühstück«, trällert die Mutter, »na wird’s bald, ich hab Hunger«, sagt Heinz. Dass sie vorgehen, dass sie alleine gehen sollen, dass sie liegenbleibt, will Anna sagen, aber die Mutter zieht Anna die Decke weg und Heinz klatscht in die Hände. Dass sie fünfzehn ist und nicht fünf, will Anna schreien, aber stattdessen läuft sie ins Bad, spritzt sich Wasser ins Gesicht und versucht, nicht in den Spiegel zu sehen. Sie zieht sich an und folgt der Mutter und Heinz hinunter in den Frühstücksraum, folgt ihnen zum Buffet und nimmt sich ein Stück Brot und ein Stück Käse, sie setzt sich zwischen die Mutter und Heinz an den Tisch, trinkt ihren Kaffee und beißt in das Brot, obwohl sie keinen Hunger hat, eigentlich weiß sie nicht, ob sie Hunger hat, eigentlich dürfte sie keinen Hunger haben, eigentlich hat sie nie Hunger in der Früh, eigentlich hat sie gestern genug gegessen, mehr als genug. Sie hat das ganze Menü gegessen, sogar mit Fleisch, sogar das Dessert, und jetzt isst sie das Brot, Weißbrot natürlich, und Käse und sie könnte noch Butter aufs Brot streichen, sie könnte noch ein Brot essen, weil es auch schon egal ist, weil sie es sowieso nicht schafft.

Anna geht hinter der Mutter und Heinz zum Strand, legt sich neben die Mutter und Heinz auf die Liege und liest ein Buch, liest und vergisst den Körper, vergisst, dass er faul und fett auf einer Liege am Strand liegt, genauso faul und fett wie all die anderen Körper hier auch. »Anna«, hört sie die Stimme der Mutter, »willst du nicht mal ins Wasser gehen?« Anna schüttelt den Kopf. »Oder mit mir am Strand entlang spazieren?«, fragt die Mutter, »Bewegung«, hört Anna, »ist wichtig.«

»Ich lese«, sagt Anna und presst die Zähne zusammen, »geh doch mit Heinz spazieren«, sie sieht die Mutter an, die Mutter zuckt mit den Schultern, als wäre sie beleidigt, als wäre sie wirklich beleidigt, dass Anna nichts mit ihr machen will. Die Mutter sieht zu Heinz, »lass sie halt«, hört Anna, sieht ihn aufstehen, der Mutter die Hand auf den Nacken legen, er schiebt die Mutter davon. Danke, denkt Anna, sie darf nie wieder mit den beiden auf Urlaub fahren, sonst wiegt sie am Ende hundert Kilo, eigentlich wundert sie sich, dass sie nicht schon viel fetter ist. Sie sieht die Mutter und Heinz kleiner werden, greift in die Tasche, greift nach dem Tagebuch und beginnt zu schreiben. Sie legt das Tagebuch zur Seite, blickt auf den Bauch, versucht die Bauchdecke nach innen zu ziehen, sie kommt nicht sehr weit, das Abendessen von gestern steckt noch in ihr, das Abendessen von gestern zieht sie runter, warum hat sie es gegessen, warum hat sie diese ganzen Kalorien in sich hineingelassen, sie weiß es nicht, weiß nicht, wann sie zum letzten Mal wirklich Hunger hatte, wann ihr zum letzten Mal etwas geschmeckt hat, wann sie sich zum letzten Mal über etwas gefreut hat.

Anna geht die Straße entlang, sie weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, sie biegt ums Eck, weiß nicht mal, ob sie sich über die Einladung freut, sie steht vor der Tür und wartet. Sie wartet, bis die Tür sich öffnet und Kurt sie anschaut, er lächelt, gibt ihr ein Bussi und dreht sich wieder um. Sie folgt ihm die Stufen hinunter in einen Keller, der fast so aussieht wie der Keller, nur ohne Bar. Es riecht auch nach Keller, nach Bier, nach Zigaretten, Gras, Schweiß und Feuchtigkeit. Einige Leute stehen bei den Instrumenten, Edi nickt Anna zu, ein dicker Typ verbeugt sich in ihre Richtung, Kurt drückt ihr ein Bier in die Hand und deutet auf ein Sofa und darin fast versunken sitzt Paul.

»Was machst du hier?«, fragt Anna.

»Geschäfte«, sagt Paul, zuckt mit den Schultern und grinst und Anna schüttelt den Kopf und lässt sich neben Paul auf das Sofa fallen. Das Sofa ist weich, sie rutschen in der Mitte zusammen, Anna rutscht ein wenig zur Seite und blickt hinüber zu Kurt, sieht die Bierdose vor seinem Gesicht, seine Jeans hat wieder ein Loch. Kurt stellt das Bier ab, die anderen zupfen an ihren Gitarren herum, schlagen auf ihre Gitarren ein, Edi schlägt auf das Schlagzeug und Kurt kreischt ins Mikro, als würde er sterben. Paul berührt Anna am Ellbogen und hält ihr einen Joint hin, sie zieht daran, zieht noch mal daran und trinkt sehr langsam ihr Dosenbier.

»Anna, willst du singen?«, ruft Edi.

»Wir brauchen eine Frauenstimme«, ruft einer der anderen.

»Sie singt nicht«, sagt Kurt.

Anna nickt, sie wünschte, sie könnte singen, schreien, kreischen wie Kurt, auf irgendetwas einhämmern wie Edi, sie wünschte, sie könnte irgendetwas, aber sie kann nichts, sie trinkt weiter an ihrem Dosenbier, zieht wieder am Joint, lehnt sich zurück, versinkt im Sofa, wenigstens ist sie hier, es ist besser als nichts, besser als alleine zu Hause.

»Hey, Anna.«

Sie richtet sich auf, greift nach der Bierdose, die Kurt in der Hand hält, trinkt gegen den schlechten Geschmack im Mund.

»Die anderen sind schon weg«, sagt Kurt.

»Wie spät ist es«, fragt Anna, »ich muss nach Hause.«

»Anna«, sagt Kurt, »ich hab dich lieb.«

»Schon wieder«, sagt sie.

»Ich hab dich immer lieb gehabt«, sagt er.

Anna nickt und Kurts Lippen schmecken nach Zigarettenrauch, nach Bier, sie schmecken ein kleines bisschen vertraut.

Beim nächsten Mal im Proberaum sind sie allein, sie reden so viel wie noch nie, wie normale Menschen, denkt Anna, wie in einer richtigen Beziehung. Ein anderes Mal zeigt Kurt ihr die Akkorde von Polly auf der Gitarre, sie spielt und Kurt singt und sie denkt, sie ist glücklich. An einem anderen Abend im Proberaum ist Kurt betrunken oder eingeraucht oder betrunken und eingeraucht, noch betrunkener und eingerauchter als sonst. Eigentlich, denkt Anna, hat sie ihn noch nie nüchtern gesehen.

»Weißt du«, sagt Kurt, »ich bin scheiße, ich finde mich und mein ganzes Leben, ich finde das Leben an sich scheiße.«

»Ja«, sagt Anna, »ich eh auch.«

»Aber du«, sagt Kurt, »du bist doch nicht scheiße, dein Leben ist nicht scheiße, du hast doch keine Probleme, du machst doch alles richtig. Ich will nicht mehr in die Berufsschule gehen, ich will gar nichts mehr machen, ich will nur mehr Drogen nehmen.«

Er nimmt einen Schluck Bier und sieht sie an. »Ich habe schon Drogen genommen«, sagt er, »richtige Drogen, das ist alles, was ich will.«

Richtige Drogen, denkt Anna, sie denkt über falsche und richtige Drogen nach, als sie nach Hause geht, vom Proberaum über den Hauptplatz, durch die Fußgängerzone, sie denkt darüber nach, wie es wäre mit Kurt und ihr und den richtigen Drogen, bei richtigen Drogen denkt sie an Heroin, bei richtigen Drogen denkt sie an Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, bei richtigen Drogen denkt sie an Go ask Alice, und daran, wie sie geweint hat, als die Protagonistin am Ende stirbt. Vor richtigen Drogen hat sie Angst, denkt sie und sie hasst sich dafür, dass sie Angst hat, dass sie zu feig ist für eine ordentliche Selbstzerstörung, dass sie nicht sterben will, nicht so schnell, dass sie leben will, sie schämt sich dafür, aber eigentlich will sie leben, sie muss mit Kurt reden, aber sie kann nicht reden, reden kann sie noch immer nicht.

»Wo warst du bitte«, sagt die Mutter, als Anna die Tür aufmacht, »wie du stinkst«, und Anna zuckt mit den Schultern, »nur im Keller«, sagt sie, geht in ihr Zimmer und macht die Tür zu. Sie setzt sich an den Schreibtisch, nimmt ein weißes Blatt Papier.

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