Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen

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2.2.3.3 Gebundene Kürzungen

Mit den Kürzungskomposita eng verwandt sind die gebundenen Kürzungen, die ebenfalls nicht frei vorkommen. Bei einer gebundenen Kürzung wird „das Erstglied oder ein präponiertes Adjektiv kopfwortartig reduziert und mit dem Zweitglied fest kombiniert“ (Nübling 2001:182), wobei die zugrunde liegende Vollform nicht zwingend ein Kompositum sein muss. In einigen Fällen erfolgt die Bildung der gebundenen Kürzung nicht kopfwortartig, sondern nach dem Muster der Silbeninitialwörter (dt. Schuko- < Schutzkontakt) oder diskontinuierlichen Kurzwörter (dt. Fla-Panzer < Flugabwehrpanzer). Die meisten gebundenen Kürzungen sind nicht auf ein bestimmtes Zweitglied festgelegt, sondern können sich mit unterschiedlichen Morphemen verbinden. Dies unterscheidet sie von den Kürzungskomposita, die in der Regel fest an ein bestimmtes Zweitglied gebunden sind. Da es allerdings bei beiden Typen Ausnahmen gibt, d.h. Kürzungskomposita mit unterschiedlichen Zweitgliedern und gebundene Kürzungen mit festem Zweitglied existieren, eignet sich dieses Kriterium nicht für eine definitorische Abgrenzung dieser beiden Typen. In der bisherigen Kurzwortforschung wurden diese nicht-prototypischen Kürzungskomposita und gebundenen Kürzungen und die mit ihnen verbundene Abgrenzungsproblematik bislang jedoch kaum thematisiert. In dieser Arbeit werden Kürzungskomposita und gebundene Kürzungen also nur durch ihre Bildungsweise und nicht durch ihre Distribution voneinander unterschieden: Kürzungskomposita entstehen nach dem Muster der Buchstabierwörter, gebundene Kürzungen werden dagegen wie Kopfwörter, in manchen Fällen auch wie Silbeninitialwörter oder diskontinuierliche Kurzwörter gebildet. Gemeinsam ist beiden Typen, dass der gekürzte Teil nicht frei vorkommen kann.

Zwischen gebundenen Kürzungen und Konfixen bestehen gewisse Ähnlichkeiten, da beide semantischen Gehalt haben und nicht frei vorkommen können. Wie bei der Abgrenzung beider Phänomene in Kapitel 2.3 ausführlich dargelegt werden wird, werden Konfixe in dieser Arbeit nicht als Kurzwörter betrachtet, auch wenn die Grenzziehung im Einzelfall schwierig sein kann. Der Unterschied liegt darin, dass eine gebundene Kürzung auf eine Vollform zurückgeführt werden kann und zumindest anfangs in einer lexikalischen Variation zu derselben steht, während die Wortbildung mit Konfixen direkt und ohne die Zwischenstufe einer Vollform erfolgt.1

Belege für den Kurzworttyp der gebundenen Kürzungen finden sich in beiden Sprachen (siehe Tabelle 11), wenngleich dieser Typ im Schwedischen etwas häufiger ist als im Deutschen.2 Die wenigen Beispiele für gebundene Kürzungen, die Laurén (1976) für das Schwedische nennt, werden unter „medial reduktion“3 eingeordnet.


deutsche gebundene Kürzungenschwedische gebundene Kürzungen
Ku'damm < Kurfürsten (Kurfürstendamm)psykförsvaret < psykologiska försvaret ‚psychologische Verteidigung‘
Iso- < Isolier (z.B. Isomatte)eko- < ekonomisk (z.B. ekobrott ‚Wirtschaftskriminalität)‘
Pharma- < pharmazeutisch (z.B. Pharmaindustrie)fys- < fysisk (z.B. fystränare ‚Fitnesstrainer‘)
Schuko – < Schutzkontakt (z.B. Schukostecker)rea- < reaktions (z.B. reaplan ‚Düsenflugzeug‘)

Tabelle 11: deutsche und schwedische gebundene Kürzungen

In letzter Zeit lässt sich im Deutschen vermehrt beobachten, dass ehemals gebundene Kürzungen wie Schoko < Schokolade nun auch frei vorkommen. Scheller-Boltz (2008) analysiert dieses Phänomen anhand des Belegs bio als ein paralleles Vorkommen von gleichlautenden Konfixen und frei vorkommenden Kurzwörtern. Möglich ist stattdessen allerdings auch eine Analyse, wonach ein Kurzwort die Kurzwortklasse wechselt und aus einer gebundenen Kürzung ein Kopfwort wird. So weist beispielsweise Steinhauer (2000:38) darauf hin, dass Reha < Rehabilitation nicht mehr nur als Erstglied in Komposita wie Rehazentrum vorkommen, sondern auch allein stehen kann. Es dürfte lohnenswert sein, diese Tendenz zur Eigenständigkeit gebundener Kürzungen bei der zukünftigen Forschung im Blick zu behalten. Es ließe sich sogar spekulieren, ob gebundene Kürzungen bei häufigem Gebrauch automatisch zu freien Morphemen werden und diese Kategorie somit eine Art Übergangskategorie darstellt.

Die Tatsache, dass gebundene Kurzwörter nur in Verbindung mit einem Zweitglied vorkommen können, macht sie wie auch die Kürzungskomposita zu Sonderfällen der Kurzwortbildung, die keine prototypischen Vertreter der Kurzwörter sind, sondern sich am Rand dieses Phänomens bewegen.

2.2.3.4 Elliptische Kürzungen

Wie bei Kopf- und Endwörtern bleiben bei dem in beiden Untersuchungssprachen produktiven Kurzworttyp der elliptischen Kürzungen kontinuierliche Anfangs- bzw. Endsegmente der Vollform erhalten, weshalb sie zuweilen unter Kopfwörter und Endwörter subsumiert werden (z.B. bei Vieregge 1978, Wahl 2002 und Fleischer/Barz 2007). In einem wichtigen Punkt unterscheiden sie sich jedoch von diesen Kurzwörtern i.e.S.: Die Bildung von elliptischen Kürzungen erfolgt nicht in erster Linie nach phonologischen, sondern nach morphologischen Kriterien. Die zugrunde liegende Vollform, in der Regel ein Kompositum, wird stets auf ein Morphem gekürzt. Dies kann das Erst- oder Zweitglied der Vollform sein (dt. Blei < Bleistift, Rad < Fahrrad; schwed. flyg < flygplan ‚Flugzeug‘, skiva < grammofonskiva ‚Schallplatte‘ und weitere propriale und appellativische Beispiele in Tabelle 12). Diese von Kurzwörtern i.e.S. abweichende Bildungsweise spricht dafür, elliptische Kürzungen gesondert zu erfassen und sie der Gruppe der Sonderfälle zuzuordnen. Des Weiteren werden durch elliptische Kürzung keine neuen Wortwurzeln geschaffen, sondern es finden lediglich bisher gebundene Wurzeln eine freie Verwendung (vgl. Nübling 2001:183 und Ronneberger-Sibold 1992:14f.).1

Die Abgrenzung von elliptischen Kürzungen und Kopfwörtern ist nicht immer eindeutig, da sich z.B. bei Entlehnungen selten nachweisen lässt, ob den Sprachbenutzern die fremdsprachlichen Morphemgrenzen bewusst sind. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass naive Sprachbenutzer diesbezüglich weitgehend unkundig sind, es sei denn, das getilgte Morphem wird im Deutschen bzw. Schwedischen ebenfalls frei verwendet. Fälle wie das deutsche bi < bisexuell werden daher als elliptische Kürzungen betrachtet, da sexuell im Deutschen ein freies Morphem ist. Belege wie Piano < Pianoforte, bei denen das getilgte fremdsprachliche Morphem forte nicht zum Inventar freier Morpheme des Deutschen gehört, werden hingegen zu den Kopfwörtern gezählt.


deutsche elliptische Kürzungenschwedische elliptische Kürzungen
Union < Christlich Demokratische Union DeutschlandsModerna < Moderna museet
Hort < Kinderhortdricks < drickspengar ‚Trinkgeld‘
Nicki < Nickipulloverkort < vykort ‚Ansichtskarte‘
Pille < Antibabypilletermos < termosflaska ‚Thermosflasche‘

Tabelle 12: deutsche und schwedische elliptische Kürzungen

In der schwedischen Kurzwortliteratur wird nicht zwischen elliptischen Kürzungen und Kopf- und Endwörtern differenziert. Entsprechende Belege, die nach der hier verwendeten Einteilung zu elliptischen Kürzungen zählen würden, werden wie auch Kurzwörter i.e.S. als „kortord“ oder „ellipsord“2 bezeichnet. Auch in der Typologie von Laurén (1976) werden elliptische Kürzungen zusammen mit Kopf- bzw. Endwörtern unter „final“ bzw. „initial reduktion“3 aufgeführt. Bei Lauréns Belegen werden zwar elliptische Kürzungen getrennt von Kopf- bzw. Endwörtern aufgeführt, die Unterschiede zwischen diesen Typen jedoch bis auf die Anmerkung, es könnten „hela morfem eller delar av morfem“4 getilgt werden, nicht thematisiert.

2.3 Abgrenzung des Phänomens

Nach der Vorstellung der verschiedenen Kurzworttypen sollen Kurzwörter nun von anderen Phänomenen abgegrenzt werden, an denen ebenfalls Kürzungs­prozesse beteiligt sind, die ich jedoch nicht zur Kurzwortbildung zähle. Dabei folge ich in dieser Arbeit der heute im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Unterscheidung zwischen Kurzwort und Abkürzung, wonach Abkürzungen reine Schriftformen sind, die mit ihrer Vollform gesprochen werden und keine eigene Lautform haben. Diese Differenzierung geht auf Henrik Bergstrøm-Nielsen zurück, wobei für ihn Kurzwörter eine Untergruppe der Abkürzungen darstellen. Ein Kurzwort unterscheidet sich von einer Abkürzung dadurch, dass „die Aussprache der Schreibung folgt. Der Unterschied zwischen Abkürzung und Kurzwort liegt also in der Aussprache.“ (Bergstrøm-Nielsen 1952:2) Abkürzungen wie z.B. für zum Beispiel oder d.h. für das heißt im Deutschen oder f.d. für före detta ‚ehemalig‘ oder t. ex. für till exempel ‚zum Beispiel‘ im Schwedischen werden wie ihre Vollform gesprochen. Kurzwörter haben dagegen eine eigene, ebenfalls gekürzte Aussprache. So werden beispielsweise dt. EDV oder schwed. adb als Buchstabenfolgen ausgesprochen und nicht in die entsprechenden Vollformen elektronische Datenverarbeitung oder automatisk databehandling ‚elektronische Datenverarbeitung‘ aufgelöst. Im Gegensatz zu Abkürzungen, bei denen lediglich die graphische Seite gekürzt wird, betrifft der Kürzungsprozess bei Kurzwörtern sowohl die graphische als auch die lautliche Seite, was ihnen deutlich mehr Eigenständigkeit verleiht als den auf die schriftliche Kommunikation beschränken Abkürzungen. In der schwedischen Literatur wird dies jedoch nicht immer so gehandhabt, sodass teilweise auch schriftliche Abkürzungen gemeinsam mit Akronymen vom Typ mc < motorcykel ‚Motorrad‘ behandelt werden (so beispielsweise Sigurd 1979, Svenblad 1998 oder Kjellin 2005, hingegen Svenska Språknämnden 2000 mit einer Trennung zwischen rein schriftlichen Kürzungen und solchen mit eigener Aussprache). Auch wenn sich diese Differenzierung zwischen Kurzwörtern und Abkürzungen in der schwedischen Forschung bislang nicht etabliert hat, wird sie in dieser Arbeit auf die Belege beider Untersuchungssprachen angewendet. Das bedeutet, dass Abkürzungen, also rein schriftliche Kürzungen, nicht erfasst und diskutiert werden, sondern als Belege nur Kurzwörter berücksichtigt werden.

 

Neben Abkürzungen wurden reine Lehnkurzwörter ausgeschlossen, d.h. bereits gekürzt entlehnte Elemente wie das im Rechtschreib-Duden belegte bit < binary digit oder das in Rechtschreib-Duden und SAOL verzeichnete CD/cd < compact disc, bei denen die Kurzwortbildung in einer Fremdsprache – häufig im Englischen – und nicht im Deutschen oder Schwedischen erfolgt ist. Solche Belege werden direkt als Kürzung entlehnt und geben daher keinen Aufschluss über die Mechanismen der Kurzwortbildung im Deutschen bzw. Schwedischen oder über bevorzugte Lautstrukturen deutscher und schwedischer Kurzwörter. Häufig ist den Sprechern der Zielsprache auch gar nicht bewusst, dass die Lexeme in der Herkunftssprache auf einem Kürzungsvorgang beruhen. Lehnkurzwörter wurden daher nicht erfasst und explizit untersucht. In Kapitel 6.4 wird jedoch auf Gemeinsamkeiten von Kurzwörtern und Entlehnungen eingegangen.

Ebenfalls von der Betrachtung ausgeschlossen werden Lehnkurzwörter, deren ursprüngliche Vollform Grundlage für eine Lehnübersetzung war, die nun im Deutschen bzw. Schwedischen parallel zu dem Lehnkurzwort existiert und als dessen Vollform fungiert, auch wenn zwischen den Bestandteilen der Langform und der Kurzform nicht zwangsläufig eine enge Beziehung besteht. Dies kommt besonders bei Eigennamen, insbesondere bei Namen von Unternehmen und Organisationen vor. Der englischen Kürzung EFTA liegt beispielsweise die Vollform European Free Trade Association zugrunde. Ins Deutsche und ins Schwedische entlehnt wurde lediglich die Kürzung; die Vollform resultierte in der deutschen bzw. schwedischen Lehnübersetzung Europäische Freihandelszone bzw. Europeiska frihandelssammanslutningen, die wie die Vollform eines deutschen bzw. schwedischen Kurzworts gebraucht wird. Ein vergleichbarer Fall liegt bei UNO < United Nations Organisation vor. Diese Kurzform wird viel häufiger gebraucht als das deutsche Kurzwort VN, dafür jedoch mit der deutschen Langform1 Vereinte Nationen kombiniert. Im Schwedischen existiert für diese Organisation eine lehnübersetzte Vollform (Förenta nationerna), aus der ein schwedisches Kurzwort (FN) gebildet wurde. Nicht alle Sprachen gehen jedoch so vor. Das Französische behandelt beispielsweise derartige Beispiele anders. Es wird eine Lehnübersetzung gebildet, die dann Grundlage für ein französisches Kurzwort wird, z.B. OTAN < Organisation du traité de l’Atlantique Nord. Das Schwedische kennt bei diesem Beispiel interessanterweise beide Kurzformen, sowohl NATO als auch OTAN; eine schwedische Vollform wie nordatlantiska fördragsorganisationen oder atlantpakten ist jedoch nur wenig gebräuchlich, wobei im Deutschen lediglich die Kurzform NATO, häufig mit der lehnübersetzten Vollform Nordatlantikpakt gebraucht wird. Ein appellativisches Beispiel für dieses Phänomen ist NGO für die englische Phrase non-governmental organization. Im Deutschen wird die englische Kürzung parallel zu einer lehnübersetzten Vollform Nichtregierungsorganisation verwendet. Das entsprechende deutsche Kurzwort NRO findet dagegen nur selten Gebrauch. Im Schwedischen ist neben dem Lehnkurzwort NGO die Rede von einer icke-statlig organisation ‚nicht-staatliche Organisation‘. Auch wenn diese Kombination einer Entlehnung und einer längeren Lehnübersetzung höchst interessant ist, wurden derartige Lehnkurzwörter vom Typ EFTA, zu denen eine morphologisch unabhängige Langform existiert, die wie die Vollform eines Kurzworts gebraucht wird, nicht in die Kurzwortkorpora dieser Arbeit aufgenommen, da es sich dabei nicht um Kurzwortbildung an sich mit einer im Deutschen bzw. Schwedischen entstandenen Kürzung aus einer zugehörigen Vollform handelt.

Nicht berücksichtigt werden Kunstwörter (z.B. dt. Persil) und Wortkreuzungen oder Kontaminationen2 (z.B. dt. Botel < Boot u. Hotel, schwed. jaguon < jaguar u. lejon ‚Kreuzung eines Jaguars mit einem Löwen‘), zu denen nie eine Vollform im tatsächlichen Sprachgebrauch existiert hat, auch wenn diese im Rechtschreib-Duden zum Teil als Kurzwörter gekennzeichnet werden (z.B. im Fall von Bionik < Biologie u. Technik). Im Bereich der Eigennamen, besonders der Unternehmens- und Produktnamen, wird eine Langform oftmals bereits im Hinblick auf die Kürzung entwickelt, sodass es sich letztlich um ein Kunstwort handelt und nicht um eine auf der natürlichen Sprachentwicklung beruhende Kürzung. Im Fall des Eigennamens CeBIT wurde beispielsweise die Langform Centrum der Büro- und Informationstechnik später zu Centrum für Büroautomation, Informationstechnologie und Telekommunikationstechnik geändert, was keinerlei Auswirkungen auf die Kurzform hatte. Insbesondere bei Namen von Firmen und Organisationen dient eine Langform häufig nur dazu, eine eingängigere Kurzform zu bilden, ohne dass tatsächlich beide Formen in Gebrauch sind, wie beispielsweise auch im Fall von Mitropa, das durch einen Kürzungsvorgang aus der Mitteleuropäischen Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft entstanden ist oder dem deutschen Naturschutzbund NABU, dessen sperrige Langform Naturschutz, Artenschutz, Biotopschutz, Umweltschutz den wenigsten Sprechern bekannt sein dürfte bzw. häufig durch die naheliegende Langform Naturschutzbund ersetzt wird. Ein schwedisches Beispiel ist das ehemalige Unternehmen Mack< Mathiasson, Andersson, Collin och Key, dessen Name jedoch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch bzw. heutzutage ausschließlich als Appellativum mack ‚Tankstelle‘ verwendet wird.

Des Weiteren werden Konfixe ausgeschlossen, d.h. gebundene Wortbildungselemente mit lexikalischer Bedeutung, die basisfähig, in unterschiedlichem Maße produktiv und miteinander kombinierbar sind wie biblio- oder tele-.3 Es kann mitunter vorkommen, dass Konfixe freie Formen entwickeln (z.B. das Gemüse ist bio); diese sind jedoch nicht das Resultat eines Kürzungsvorgangs, „weil sie keine gleichwertige Variante zu ihrer vermeintlichen Basis darstellen.“ (Donalies 2000:154) Das Unterscheidungskriterium ist also auch hier die Existenz einer Vollform, wobei es gerade bei dem Kurzworttyp der gebundenen Kürzungen zu Grenzfällen kommen kann.

Anhand der deutschen Beispiele öko und bio soll hier kurz aufgezeigt werden, welche Überlegungen für die Abgrenzung von Kurzwörtern und Konfixen angestellt werden müssen (vgl. dazu auch die Ausführungen von Kobler-Trill 1994:109ff.). Beide Beispiele kommen überwiegend in Komposita vor (z.B. Ökobauer, Ökotourismus, Ökosprit, Biogemüse, Bioladen4). Öko und bio scheinen also Konfixe zu sein, die reihenbildend sind und darüber hinaus inzwischen auch freie Formen entwickelt haben (er ist öko, sie steht auf bio). Als primär anzusehen sind in diesem Fall jedoch die gebundenen Konfixformen. Da jedoch zu diversen, wenn auch nicht allen, Belegen eine Langform existiert und in Gebrauch ist, was individuell geprüft werden muss, stellt sich doch wieder die Frage, ob öko und bio nicht als Kurzwörter zu analysieren sind. Es wurde daher am 10.03.2012 eine kurze Google-Suche unter „Seiten auf Deutsch“ durchgeführt, deren Ergebnisse in Tabelle 13 zusammenstellt sind.


„Bioladen“: 2180000 Treffer„biologischer Laden“: 6 Treffer, davon keiner sinnvoll
„Biogemüse“: 478000 Treffer„biologisches Gemüse“: 26300 Treffer
„Ökosprit“: 34700 Treffer„ökologischer Sprit“: 9 Treffer, aber alle sinnvoll
„Ökotourismus“: 1640000 Treffer„ökologischer Tourismus“: 43600 Treffer

Tabelle 13: Verteilung der Kurz- und Langformen von bio und öko in einer Google-Suche

Im Fall von Bioladen ist bio- demnach eindeutig ein Konfix, da die Langform5 keine verwertbaren Treffer erzielte. Bei Biogemüse stellt sich die Situation etwas anders dar, da die Langform durchaus in Gebrauch zu sein scheint, wenn auch deutlich seltener als die Kurzform. Hier wäre zunächst zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich um ein Kurzwort handelt. Im Fall von Ökosprit zeigen die Inhalte der Treffer für die Langform, dass Synonymität durchaus gegeben zu sein scheint; von einer Varianz von Kurz- und Langform ist aufgrund der extremen Frequenzunterschiede in der Praxis jedoch nicht auszugehen. Eher möglich scheint eine Varianz dagegen bei Ökotourismus. Es bleibt unklar, warum zwischen Ökosprit und Ökotourismus solche Unterschiede bestehen, da der semantische Gehalt des Bestandteils öko- in diesen Beispielen ja ähnlich ist. Insgesamt ergibt sich also weder für bio- noch für öko- ein eindeutiges Bild. Die Belege, bei denen eine Kurzwortyanalyse möglich scheint, wären jedoch nicht als prototypische, sondern höchstens als periphere Kurzwörter einzuordnen.6 Da für bio- und öko- allenfalls im Einzelfall eine Analyse als Kurzwort überhaupt möglich gewesen wäre, wurden sämtliche Belege dieser Art als Konfixe gewertet und nicht in die Kurzwortkorpora dieser Arbeit aufgenommen. Bio < Biologieunterricht ist dagegen ein eindeutiges Kurzwort. Die freie Form Öko im Sinne von „umweltbewusster Mensch“ ist hingegen kein Kurzwort, sondern eine aus dem Konfix öko- entstandene freie Form. Eine differenzierte Betrachtung dieser Problematik bietet Scheller-Boltz (2008), der zu der Schlussfolgerung kommt, dass Bio/bio drei verschiedene Vorkommen hat: als gebundenes Konfix in Komposita wie Bioprodukt, als Kurzwort und als expressives Modewort. Das Kurzwort kann wie oben erwähnt die Kurzform von Biologieunterricht sein; daneben analysiert Scheller-Boltz einen Teil der frei vorkommenden Belege von bio als Kurzwörter, die ihre konkrete Bedeutung im Äußerungskontext erhalten.7 So handelt es sich in der Äußerung „Ich kaufe nur noch Bio“ für ihn um ein Kurzwort für Bioprodukte (254). Schließlich entfällt laut Scheller-Boltz ein Teil der freien Vorkommen von Bio/bio auf Fälle, in denen es ein „expressives Modewort“ (256) ist. Es lässt sich in diesen Fällen weder als Konfix noch als Kurzwort einordnen und hat „lediglich eine expressive Funktion“ (255). Diese Art der Verwendung findet sich vor allem in der Werbe- und Marketingsprache, z.B. bei dem von diversen Herstellern oder Verkäufern von Bioprodukten benutzten Slogan „Wir lieben bio.“

Problematisch ist die Frage nach der Abgrenzung des Phänomens der Kurzwortbildung auch deshalb, weil nahezu jeder Autor eine etwas andere Abgrenzung vornimmt und daher ein wirklich exakter Vergleich der Daten und Ergebnisse stark erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Der Kennzeichnung der Einträge durch den Rechtschreib-Duden kann nicht gefolgt werden, da völlig unklar ist, welche Kriterien ihr zugrunde liegen. Die von mir als Kurzwörter eingestuften Belege sind im Rechtschreib-Duden teils mit „Kurzw.“ oder „Kurzwort“ (wie im Fall von Abi < Abitur), „kurz für“ (wie bei Info < Information), teils nur durch Angabe der Vollform (wie bei EKG < Elektrokardiogramm) gekennzeichnet. Andererseits markiert der Rechtschreib-Duden Einträge als Kurzwörter, die nach den oben erläuterten Kriterien eindeutig ausgeschlossen werden, z.B. Wortkreuzungen wie Edutainment aus education und entertainment oder das Lehnkurzwort bit < binary digit. Auch der Eintrag Alufolie, den ich als Kompositum aus dem Kurzwort Alu < Aluminium und dem Zweitglied Folie betrachte, wird vom Rechtschreib-Duden als Kurzwort für Aluminiumfolie angegeben. In SAOL werden Kurzworteinträge nicht explizit markiert; in etlichen Fällen wird jedoch die zugehörige Vollform zusätzlich angegeben (wie bei labb < laboratorium), was letztlich auch eine Art Markierung darstellt. Dies ist allerdings auch nicht bei jedem Kurzwortbeleg der Fall und kann daher nicht als eindeutiges Kriterium für den Status als Kurzwort gewertet werden.8 Bei der Erstellung der Korpora musste daher jeder Beleg separat dahingehend geprüft werden, ob er ein Kurzwort im Sinne dieser Arbeit ist.9

 

In der vorliegenden Arbeit werden Kurzwörter sämtlicher Wortarten untersucht, im Unterschied zu diversen anderen Arbeiten zu deutschen Kurzwörtern, die sich auf Substantive beschränken (z.B. Bellmann 1980, Vieregge 1983 oder Greule 1996). Bei Kobler-Trill (1994:15) findet sich sogar die Behauptung, nur Substantive seien mögliche Vollformen für die Kurzwortbildung. Eine ähnliche Sicht vertritt Greule (1992:59), der den Wortstatus einer Kürzung daran festmacht, ob sie genus- und artikelfähig ist. Da diese Kriterien ohnehin nur auf Substantive angewendet werden können, werden andere Wortarten damit unnötigerweise ausgeschlossen. Die Einschätzung, deutsche Kurzwörter könnten nur Substantive sein, kann nicht geteilt werden, da es auch im Deutschen Gegenbeispiele für Kurzwörter anderer Wortarten gibt, ohne dass diese in einem sekundären Wortbildungsprozess aus einem Kurzwort gebildet worden wären. Zwar sind Substantive unter den deutschen Kurzwörtern bei Weitem am häufigsten, vereinzelt finden sich aber durchaus auch Belege anderer Wortarten, die nicht ausgeschlossen werden sollten. So existieren die umgangssprachlichen gekürzten Verben funzen < funktionieren und telen < telefonieren sowie eine ganze Reihe von gekürzten Adjektiven wie bi < bisexuell oder assi < asozial, deren Flexion jedoch eingeschränkt ist. Sie können meist nur prädikativ und nicht attributiv verwendet werden, vgl. sie ist bi vs. eine *bie Frau. Auch bei der Kürzung der Präposition über in Verbindung mit einer Altersangabe wie bei Ü30 < über 30 kann von einem Kurzwort ausgegangen werden, da eine passende Vollform existiert und die Kürzung eine graphisch und eine lautlich gekürzte Seite hat. Während Verben und Präpositionen als Kurzwörter im Deutschen nur Einzelfälle darstellen, sind die Belege von adjektivischen Kurzwörtern etwas häufiger, allerdings im Verhältnis zu den substantivischen Kurzwortbildungen zugegebenermaßen sehr selten. Auch wenn bei Kurzwortbildung im Deutschen in erster Linie Substantive entstehen, zeigt die Existenz nicht-substantivischer Kurzwörter, dass Kurzwortbildung bei anderen Wortarten auch im Deutschen nicht per se unmöglich ist. Gerade bei einem deutsch-schwedischen Vergleich ist eine Betrachtung sämtlicher Wortarten unbedingt angezeigt, da im Schwedischen neben gekürzten Substantiven auch etliche gekürzte Verben wie arra < arrangera ‚arrangieren‘ und seltener auch gekürzte Adjektive wie poppis < populär auftreten. Besonders die Kurzwortverben werden im Laufe der Arbeit immer wieder thematisiert.