Raphael Reloaded

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From the series: Raphael-Rozenblad-Krimis #2
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Kapitel 2

„Gute Arbeit“, sagte Piet und balancierte einen Berg Quinoa­salat in den Mund. Die mittagsvolle Kantine summte und klang von Geplapper und Geklirr. Eine Frau lachte hell. Raphael musterte Piet misstrauisch. „Schmeckt’s?“

Piet kaute. „Schmeckt“, sagte Anna an seiner statt, die dasselbe auf dem Teller hatte. „Solltest du auch mal probieren!“

Raphael stach stoisch mit der Gabel in den Pommes-Berg vor ihm. Klick, machten die Zinken auf dem Porzellan, klick-klick-klick, Pommes bis zum Anschlag und rein in den Mund.

Anna schüttelte den Kopf. Wie zufrieden er aussah.

Zufrieden. Bullshit zufrieden. Raphael konnte nicht mal selber sein Tablett an den Tisch bringen; sie war dabei gewesen, als ihm alles runtergekracht war und als es nochmal geschah und als er es aufgab. Und dann die Schmerzen. Er sprach selten darüber, aber manchmal konnte man es in seinen Augen sehen. Anna beugte sich über ihren Teller und aß schweigend weiter. Der Mann hatte jede Freude verdient.

„Der Werner“, Raphael gestikulierte mit der Gabel, kauend. „Der kocht sowas ständig, verdammt. Ich werf ihn raus! Irgendwann werf ich ihn raus!“

Anna grinste. Er war gut drauf. Jetzt war er gut drauf. Vorhin war sie nicht so sicher gewesen. Als sie die Freundin des Pianisten von ihm übernommen hatte, hatte die Frau fast geweint. Raphael musste ihr fürchterlich zugesetzt haben; Piet hatte was von Bulldogge gesagt, als sie ihn danach im Beobachtungsraum sprach. Sie hatte mit Raphael kurz die Befragungsergebnisse ausgetauscht; die Frau bestritt die Tat heftig und gab an, beim Joggen gewesen zu sein; der Pianist hatte einen kleinen Karriereknick eingeräumt und Annas ermutigende Worte gerne entgegengenommen. Im Übrigen beschuldigte er seine Partnerin hartnäckig und gab an, dass es in Strömen gegossen hatte, was sich nach einem Anruf beim Koninklijk Meteorologisch Instituut als richtig erwies.

In der zweiten Halbzeit hatten sie das Tempo erhöht – Raphaels Magen hatte geknurrt und er hatte gewusst, bald würde ihm die Konzentration wegbrechen und dann kämen die Schmerzen zurück und etwas, das schlimmer war: Der eine Gedanke, den er so mühsam bezwungen hatte und den er nicht mehr lange würde niederhalten können. Azif.

Raphael linste nach dem Handy in seinem Schoß. Später. Haddock.

Haddock war ein Codewort. Sie hatten das ausgemacht. Er und Grit. Für wenn es am schlimmsten war. Kapitän Haddock war seine Lieblings-Comicfigur, ein unbedachter Draufgänger und lieber Kerl, der göttlich fluchte und mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hatte. Ein Held.

Haddock hieß: Nicht aufgeben. Nicht nachlassen. Nicht jetzt. Raphael lächelte den Mann an, der seine feinen Pianistenfinger knetete. „Wie geht das jetzt, das Spielen, mit Ihrer Hand?“, fragte er freundlich. Der Mann sah ihn an. „Schlecht“, sagte er betrübt.

Raphael lächelte noch immer. „Es lief schon länger schlecht, nicht?“

„Nein. Eigentlich nicht. Nicht wirklich“, er hörte mit Kneten auf. „Nicht wirklich“, wiederholte er. „Aber es ist schwer, wenn man ganz oben ist.“

„Man fällt sehr tief“, sekundierte Raphael eifrig. Der Pianist biss sich auf die Lippen.

„Und man wird fallen gelassen“, Raphael stieß heftig die Luft aus. „Die Leute ziehen weiter. Die Kollegen. Die Freunde. Alle.“

Maksim Pjotrow fixierte ihn aufmerksam. „Sie kennen das.“

Raphael erstarrte. „Wir machen eine Pause“, sagte er hart und verließ die Szene. An der Tür drehte er sich nochmal um. „Jep.“ Dann rollte er raus.

* * *

„Das hat ihn gebrochen“, erklärte Piet zufrieden und schob den nächsten Quinoa-Berg in den Mund. „Cooler Trick, Raphael!“

Als Raphaels Blick ihn traf, stoppte er mit kauen. „Kein Trick“, sagte er schnell.

Das hat ihn gebrochen“, konstatierte Anna trocken.

Dann redeten sie nicht mehr davon. Der Mann hatte seine Selbstverstümmelung gestanden, noch ehe die Freundin zugegeben hatte, im regennassen Park jemandem begegnet zu sein, einer Polizistin, die sie weinend am Wegrand gefunden und angesprochen hatte. „Wir hatten gestritten“, gab sie zu. Es war unschwer nachzuprüfen gewesen.

Raphael riss ein neues Mayo-Tütchen auf und spratzte den Inhalt über den Pommes-Rest. Sich selbst zu verstümmeln. Verdammter Idiot. Er kaute heftig. Der Mann würde einen guten Arzt brauchen. Nicht nur wegen der Hand.

Zum zwanzigsten Mal zog er sein Handy raus. Wischte Displayfett in die Hose. Keine Nachricht von Azif. Oder von der Spusi. Oder von irgendwem. Anna lächelte ihm zu und er schob das Gerät in den Hosenbund zurück.

Im Büro grub er sich in die Akten. Er würde die Überwachungsbilder der überfallenen Hotels sichten. Alle. Bloß nicht nachdenken. Machen. „Ja. Jetzt. Alle“, bellte er in den Hörer. Die Sache mit der Fahrerflucht lag auch noch an. Der Typ hatte ein Kind totgefahren. Ein Mädchen. Acht Jahre alt. Dutzende Zeugen und keiner hatte was gesehen.

Es war sein erster frischer Fall gewesen, nachdem er wieder hier war. Sie hatten ihn nicht schicken wollen. Ein totes Kind, Raphael. Glaubst du, du schaffst das? Du bist doch noch … Du brauchst doch nicht … Anna war dabei gewesen und sie hatten auch die Todesnachricht überbracht.

Anna hatte sie überbracht: Die Mutter wohnte zwei Treppen hoch, Altbau. Kein Lift.

Später war Raphael mit der Frau im Krankenhaus gewesen, wo sie die Tochter identifizieren musste. Er hatte ihr versprochen, alles zu tun, um den Täter zu fassen. Er hatte geglaubt, dass es ein Leichtes wäre; es war direkt bei der Schule passiert, kurz vor Unterrichtsbeginn. Die ersten Zeugenbefragungen hatten nichts ergeben – der Schock, hatte er gedacht und dass sich noch wer melden würde vor dem Wochenende, es war am Freitag gewesen. Eine Liste aller Eltern, Schüler und Lehrer bekam er nicht. Datenschutz, sagte die Direktorin, und ob er jetzt bitte gehen könnte. Der Ruf unserer Schule, Sie verstehen. Raphael hatte sie angesehen. Stör ich hier als Krüppel? Als Bulle? Oder beides, verdammt? Überlassen Sie das mir, hatte er gezischt und die Tür zugeschmissen.

Lackspuren hatten sie auch keine gefunden. So ein Kind war weich. Vermutlich hatte der Wagen nicht mal ‘ne Delle. Raphael ballte die Fäuste.

Der Fall war jetzt drei Tage alt. Er musste sich dringend was einfallen lassen.

Dann war da noch ein zweiter Messerstecher. „Ich komm da nicht weiter. Dein Milieu“, hatte Piet gesagt und ihm die Akte weitergereicht. Raphael zog die Mappe aus dem Stapel. Samstagabend war das gewesen, auf dem Eiermarkt. Partyzone. Der Messerstecher nannte sich Ahmed Hadada. Er war erfolgreich gewesen. Wenn man das so sagen konnte. Die Frau war sofort tot gewesen. Durch den Bauch direkt ins Herz getroffen. Keine Rippen, die die Waffe aufhalten konnten. Raphael rieb sich die Stirn. Liebe geht durch den Magen, hatte sein Lehrer für mittelalterliche Kampfkünste das genannt.

Der Mann war ein Profi.

Oder er hatte einfach Glück gehabt. Wenn man das so sagen konnte. Oder er war es nicht. In dem Tumult auf dem belebten Platz hatte man einen Mann verhaftet. Das war alles. Der Mann behauptete, unschuldig zu sein, und sie hatten ihn gehen lassen. Sie mussten. Auch wenn irgendjemand irgendwen „Allahu akbar“ rufen gehört haben wollte.

Allahu akbar. Raphael kniff die Augen zu und versuchte, nicht an ihn zu denken.

Azif. „Er ist undercover unterwegs. Keine Details. Sorry“, hatte der Kollege von der Federale Politie gesagt, als Raphael anrief, weil er Azif nicht erreichen konnte. „Alles im grünen Bereich“, hatte der Mann noch hinzugefügt. Es hatte belustigt geklungen, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

Raphael schmiss die Mappe auf den Stapel zurück. Verdammt viel Zeug. Bis vor zwei Wochen war er noch in der Klinik gewesen. Und dann noch das. Raphael fasste nach der untersten Akte und zog die Hand wieder zurück.

Nachher.

Gleich nachher würde er sich die vornehmen.

„Ich bin im Archiv“, sagte er gegen niemand Bestimmtes und verließ das Büro.

* * *

Das Sofa war noch immer dasselbe. Raphael plumpste auf das Polster und ließ die Hände über die glänzenden neuen Leder­stücke gleiten, mit denen der iranische Polsterer geschickt die rissigsten Stellen gerichtet hatte. Azif hatte dafür gesorgt, zusammen mit Fanny. Die kleine Archivarin hatte das marode Möbel wie eine Löwin vor dem Sperrmüll verteidigt, für den es von der Hausverwaltung bestimmt gewesen war. Eine Löwin. So hatte Azif das gesagt.

Raphael suchte eine bequeme Position und fand keine. Fanny war so. Ließ nicht locker, wenn sie wen retten wollte oder was. Er dachte daran, wie sie gekämpft hatte, als ihr Bruder unschuldig im Gefängnis saß. Ronny.

Das jungenhafte Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Die angstvoll aufgerissenen Augen. Das Geheul der Bremsen. Der brandige Geruch gequälter Reifen auf Asphalt. Und dann das Geräusch, das seine Knochen gemacht hatten.

Raphael mahlte mit dem Kiefer. Der Junge hatte ihn zu Brei gefahren, aber ein Schleuser war er nicht. Fanny hatte an ihn geglaubt. An Ronny. Und an ihn, Raphael, dass er es schaffen würde, Ronnys Unschuld zu beweisen.

An jemanden glauben – das hatte er auch mal gekonnt. Raphael fühlte nach seinem Handy und ließ die Hand wieder sinken und rieb seine Beine, da, wo es am meisten weh tat. Er sah auf Fanny, die mit einer dampfenden Kaffeetasse ankam.

Fanny bettete die Tasse zwischen die tätowierten Finger und erntete ein mühsames Lächeln. Sie begann Akten zu sortieren. Bloß keine Fragen jetzt.

 

„Raphael kommt wieder“, hatte sie Azif beschworen, „er braucht das Sofa noch!“

„Inshallah“, hatte der Afrikaner geantwortet, mit diesem Gesichtsausdruck, den niemand deuten konnte. Sie besuchten Raphael damals fast täglich in der Klinik. Einmal hatte er gesagt, dass er wünschte, tot zu sein.

Fanny biss sich auf die Lippen.

Azif hatte Raphael bei der Hand genommen: „Ich kenne das.“ Dann hatten sie geschwiegen, Hand in Hand, eine lange Weile. „Das ist sehr cool“, hatte er schließlich gesagt.

„Sich umbringen?“

„Drüber reden.“

Raphael hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt.

Fanny betrachtete ihren Gast seufzend. Der Mann sah nicht viel besser aus als an jenem Tag, so wie er sich jetzt an dem Kaffeepott festklammerte und wortlos in die schwarze Brühe starrte.

„Wie geht's Azif?“, fragte sie jetzt doch und bereute es sofort. Verdammt, sie hätte es wissen müssen.

„Verdammt, ich hätte es wissen müssen“, warf sie in den Schimpftiradenfluss, der vom Sofa kam, und der Fluss stoppte.

„Azif …“, Raphaels grobe Finger fuhren durch die Puddeln von übergeschwappten Kaffee auf dem Leder. Sein Blick flackerte hoch. „Fanny, ich weiß es nicht.“

Fanny sog scharf die Luft ein. Diese Augen. Wenn er von Azif sprach, war da immer so ein Leuchten in Raphaels Augen gewesen. Jetzt war da ein Abgrund, bodenlos. „Verdammt“, sagte sie.

Sie hasste die Flucherei, aber sie musste ihm nahe bleiben, irgendwie.

„Hör auf zu fluchen, verdammt“, sagte Raphael heiser. Fanny war wie ein Groupie.

Sein Groupie. Plötzlich fing er an zu lachen. Mehr Kaffee schwappte. Fanny floh.

Irgendwann kam sie mit einem Lappen zurück. Raphael sah, dass sie geweint hatte. Wütend feudelte sie durch den Kaffeesee, bis seine große Pranke die kleine Hand stoppte.

„Fälle mit Magiern …“, sanft zog er den Lappen an sich und begann selber zu wischen, „Zauberern, Gauklern, Illusionskünstlern, irgendwas“, er hielt inne und versicherte sich, dass sie zuhörte. „Haben wir da …?“

„Ja“, sagte Fanny schlicht.

Raphael machte den Mund auf, aber sie war schon weg. Reglos hielt er den Lappen in der Hand und wartete.

Der einzige Gaukler, den er kannte, war Azif.

Haddock. Haddock. Haddock.

Raphael kippte den Kaffeerest runter. Seine Kehle war trocken. Irgendwo weit weg hörte er Fannys eifrige Schritte.

Fanny. Sie war mitten in der Ausbildung zur Kinderschwester gewesen, als die Sache mit Ronny passiert war. Sie hatte schon mehrere Ausbildungen abgebrochen, Bürokauffrau, Mechatroniker, Bauzeichner, aber das mit der Kinderschwester war etwas anderes gewesen. „Man muss sich doch kümmern“, hatte sie Raphael erklärt, und dass ihre eigene Kindheit ziemlich verkorkst gewesen war.

Raphael sah auf die junge Frau, die mit einem Packen unterm Arm auf ihn zukam. Sie hatte sich dann um ihren Bruder gekümmert. Und jetzt gehörte sie hierher.

„Schau“, sagte Fanny tapfer und nahm Raphael das nasse Tuch ab. Sie reichte ihm ein Bündel abgegriffener Mappen. „Zuletzt passierte es 2014.“

„Passierte was?“ Raphael stellte den Becher auf den Boden und begann zu blättern.

„Fälle mit Magiern. Gauklern. Illusionskünstlern“, Fanny bückte sich nach dem Becher. „Kaffee?“

Raphael nickte abwesend. Irgendwas in ihm fragte sich vage, warum die junge Frau das tat. Sie hatte bekommen, was sie wollte: Ihr Bruder war frei. Sie könnte Dienst nach Vorschrift schieben oder zurück an die Schwesternschule gehen; sie war ja nicht mal eine Polizistin und würde vermutlich nie eine sein. Ein verdammtes Groupie, das war sie. Bice war auch so gewesen. Ein Kind. Raphael seufzte.

Wahre Liebe war für die anderen. Er hatte Fanny.

Und Helen.

„Meine Patienten sagen, dass sie gut ist“, hatte Grit gesagt, als sie ihm damals Helens Nummer gab. Raphael blätterte weiter. Vielleicht war es besser so. Wenn es nur nicht so teuer wäre. Und die Kasse zahlte nichts; Grit hatte alles versucht. „Ja, Kaffee, bitte. Gerne!“, sagte er, aber die Frau war längst zwischen den Regalen verschwunden.

Eine knappe Stunde später fuhr er ins Büro zurück, die Tasche mit Akten gefüllt. Ein weiteres Bündel balanciert er auf dem Schoß. Er fuhr auf den Hinterrädern, damit nichts runterfiel. Beinahe wäre er vor aller Augen umgekippt.

Raphael grinste schief und schmiss die Akten auf seinen Schreibtisch, zu den anderen. Er musste mehr trainieren, verdammt.

Er rief die Spurensicherung an, aber sie hatten noch nichts. Raphael knallte den Hörer auf den Apparat. Piet schaute böse.

„Gib ihnen Zeit“, sagte Anna. Sie linste durch den Aktenberg, der mittlerweile eine ansehnliche Höhe hatte. „Kommst du zurecht?“

Sie sahen einander an. Plötzlich begann Raphael zu lachen. Ob er zurechtkam.

Anna grinste und legte den Finger auf die Lippen. „Zeig mal“, sie rollte mit dem Schreibtischstuhl zu ihm rüber und begann den Berg zu untersuchen. „Zirkus Zarathustra“, las sie belustigt. „2013 abgeschlossen. Was willst du denn damit?“ Raphael verschluckte sich und hustete. Er tastete nach den Kippen. „Ich bin mal kurz weg“, keuchte er und zog den Rollstuhl ran. Er hatte die Woche schon dreimal das Rauchen aufgehört, da kam es auf einmal mehr oder weniger nicht an.

„Warte!“ Anna, die mit einer Akte wedelte.

Der Akte.

Raphael blieb sitzen. „Ach, das“, sagte er gedehnt. Er hasste diese Kindesmissbrauchsfälle. Jeder hasste sie. Plötzlich war ihm kalt. Azif, dachte er. Azif würde ihn verstehen.

Haddock.

„Mach ich später“, nuschelte er.

„Ich könnte das übernehmen“, sagte Anna beiläufig.

Raphael kniff die Augen zusammen. „Wenn du meinst …“ Er machte eine einladende Geste und hoffte, dass er ebenso beiläufig geklungen hatte, und Anna rollte mit der Akte an ihren Platz zurück. Dann sprachen sie nicht mehr davon.

Im Auto auf dem Parkplatz ordnete Raphael das Chaos in seinem Kopf, Kippe in der Hand. Ein leichter Regen tickte gegen die Scheiben. Er durfte den neuen Korpschef nicht enttäuschen. Und Piet. Und Anna. Auch ohne den Fall hatte er noch genug zu tun. Bald würden die Überwachungsfilme von den Hotels kommen. Genug Arbeit für Tage. Und Nächte, dachte er bitter, meist saß er ohnehin bis zum Morgengrauen wach und machte irgendwas und kassierte anderntags Rügen von Werner, der es immer merkte, irgendwie. Er war so eine verdammte Mutti.

Dann waren da noch die Akten von Fanny. Schwarzarbeit, Taschendiebstahl, Tierquälerei. Von wegen Magier. Wanderzirkusse waren das. Und fast alles ungelöst. Naja, sie hatte es gut gemeint.

Zirkusse. Heißt das wirklich Zirkusse? Raphael blies große Rauchringe. Zirkusse. Zirken. Zirküsse. Gedankenverloren schnippte er Asche aus dem Schritt.

Raphael, konzentrier dich. Für sowas hatten sie eh kein Budget, verdammt. Er fokussierte seine Gedanken auf den Mann, der als muslimischer Messerstecher Schlagzeilen gemacht hatte. Ahmed Hadada. Oder so. Einer von Tausenden Transmigranten wahrscheinlich, die überall unkontrolliert herumlungerten. Eine Nadel im Heuhaufen.

Raphael schnaubte. Er zürnte den Kollegen nicht, die den Mann freigelassen hatten. So waren die Regeln und so war es gut. Das hier war Brügge und nicht Guantanamo und er, Raphael, trug sein Teil dazu bei, dass es so blieb. Aber er musste den Täter finden und seiner Strafe zuführen. Das war sein Job.

Raphael fischte nach der nächsten Belga und versuchte nicht daran zu denken, dass es die vorletzte war, und zündete sie an. Er würde sich mal in der Szene umhorchen. Er hatte Kontakte. Und er hatte …

Stop. Nicht. Nicht daran denken. Du schaffst das auch ohne …

Azif, dachte er dann doch.

Er musste was tun.

Jetzt.

Raphael presste die Kippe in den randvollen Ascher und ließ den Motor an.

* * *

Künstliche Kälte schwappte ihm entgegen, als er durch die breite Türe in die Leichenschauhalle des städtischen St.-Jan-Krankenhauses fuhr. „Hallo?“, er kurvte zwischen den Stahl­tischen umher und hob Tücher, die auf kalkweißen Gesichtern lagen.

„Rozenblad!“

Raphael ließ das Tuch sinken, das er gerade hielt. Die Stimme der Ärztin klang angestrengt fröhlich. Raphael drehte sich herum und lächelte. Polizisten kamen mit drängenden Fragen, Forderungen. Arbeit. Das sah niemand gern. „Die Leiche vom Strand“, sagte er fest, „wo habt ihr die?“

„Moment, ich schau mal nach …“, Dr. Christiaens huschte hi­naus. Raphael starrte ihr nach. Warum zeigte sie ihm nicht einfach, wo der Tote lag?

„Ich wollte sichergehen“, die Ärztin trat wieder durch die Türe. Sie hob entschuldigend die Hände. „Er ist noch nicht hier, Rozenblad. Morgen wahrscheinlich. Sorry.“ Sie zog Gummihandschuhe an und beugte sich angelegentlich über einen ihrer stummen Pa­tien­­ten. Gespräch beendet.

Raphael schnappte nach Luft. So unerwünscht hatte er sich hier noch nie gefühlt. Wütend riss er weitere Tücher hoch, bis er sich besann und grußlos den Raum verließ. Er musste die Toten ruhen lassen. Vorerst.

Endlich fiel ihm ein, Anna anzurufen, aber kriegte kein Netz. Nicht hier in dieser Gruft. Tote telefonierten nicht und waren nicht auf Facebook.

Doch. Waren sie schon. Raphael dachte an Accounts, die er besuchte wie einen Schrein, wenn der Morgen nicht kommen mochte. Den Account eines Kollegen, der im Dienst verunglückt war. Den seines Cousins Zubin, der sich das Leben genommen hatte. Den von Amira, die ertrunken war, damals, als sie von dem brennenden Boot ins Wasser sprang …

Die verdammten Tabletten. Raphael schüttelte sich und der Gedankenstrom stoppte. Bloß weg hier. Raus.

Es regnete noch immer, als er wieder ins Auto kletterte, aber er hatte Anna erreicht, die ihm riet, nach Hause zu gehen; vielleicht war was in seiner Stimme gewesen. Ich mach auch bald Schluss, hatte sie gesagt und dass sie sich mit jemand treffen würde, sie hatte freudig geklungen und es hatte ihm ins Herz geschnitten. Viel Spaß, hatte er geknurrt, und Anna, die schöne, kühle Anna, hatte gelacht.

Raphael zupfte das erste Rad vom Rollstuhl und schmiss es auf die Rückbank. Er fluchte, als der nasse Reifen eine Dreckspur über seine Jacke zog. Warum konnte er nicht besser aufpassen. Mürrisch verräumte er den Rest. Dann fummelte er im Handschuhfach nach der letzten Zigarette und legte den Kopf zurück und blies Rauchringe gegen das vergilbte Wagendach. Werner würde sich freuen; er wusch für sein Leben gern.

Einen Augenblick dachte er an die riesige Waschmaschine des psychiatrischen Krankenhauses, in der Werner beinahe umgebracht worden wäre, weil er gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen. Der einzige Zeuge. Es war ein Wunder, dass der Mann jetzt so normal war. Naja, normal. Raphael grinste. Werner war prima. Vergebens überlegte er, wann er ihm das zum letzten Mal gesagt hatte. Dann vergaß er es wieder.

Der Feierabendverkehr nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Alles hastete heim, zu Frau und Fernseher und Kind. Zu Bier. Bett. Freunden. Fuck. Raphael sog heftig. Hustend fingerte er über das Handy-Display. Ein Fahrradbote schnitt ihn. Deli-Express. Raphael rammte die Bremse rein. Wütend zog er wieder das Handgas, dass die Reifen kreischten. Der Radler piekte mit dem Mittelfinger nach ihm. Idiot. Endlich fand er die Nummer. „Azif!!!“, brüllte er, aber niemand ging ran.

* * *

Der Regen hatte einer schüchternen Abendsonne Platz gemacht, die den hübschen weißen Renaissancebau der Grundschule Hemels­daele am St.-Jans-Platz beschien. Auf dem regenschimmernden Pflaster vor der Schule breitete sich ein Meer von Kerzen, Teddys, Bildern, Blumen.

Raphael bremste sanft und fuhr rechts ran. Niemand würde den mattschwarzen Miniwagen bemerken, der in einigem Abstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Raphael wartete.

Er war schon mehrmals bei der Gedenkstätte gewesen, das erste Mal, ehe er die Mutter in die Leichenhalle begleitet hatte. Vielleicht, dass er verstehen könnte, nachvollziehen, wie sie sich fühlte, ein bisschen wenigstens. Zu der Zeit hatte es nur ein paar Kerzen gegeben und ein paar Kinderzeichnungen in Plastikmappen.

Raphael dachte an seine eigene Zeichnung, die er für die Therapeutin hatte machen müssen. Ein Baum, ein Zelt, ein Mädchen. Eine Sonne. Ein Motorrad. Gut, hatte die Therapeutin gesagt. Sie hatte ihm die Zeichnung in Folie geschweißt und er hatte sie unter sein Kopfkissen gelegt wie eine Smith & Wesson.

 

Einmal hatte die Zeichnung ihm das Leben gerettet, zumindest glaubte er das. Raphael rieb sich über die Augen. Da drüben beugte sich jetzt eine Frau zu den Sachen runter. Es waren viele. Jedes Mal, als Raphael hier übers Wochenende vorbeigekommen war, hatte die Menge der abgelegten Gegenstände zugenommen. Mehrmals war er ganz dicht vorübergefahren und hatte zu studieren versucht, welche davon neu waren. Alle Dinge hatten eine Sprache, man musste sie nur entziffern.

Das Licht der tief stehenden Sonne beschien die Szene. Die Frau hob einen Teddy aus der Menge heraus und drückte ihn gegen ihr Gesicht. Als ein auf dem Gehweg radelndes Kind seine Hupe quietschen ließ, schreckte sie auf, ließ den Bär fallen und rannte davon.

Er wusste, wer die Frau war, und jetzt sah er auch, dass Dinge fehlten. Er wartete, ob sie zurückkäme. Nach ein paar Minuten stieg er aus.

Gleich beim Abfallkorb neben dem Schultor hatte er Erfolg. Raphael linste in die dunkelgrüne Eisentonne, Einwurfschlitz auf Kinnhöhe. Immer der Nase nach, dachte er und fischte zwei Teddy­­bären aus dem Müll. Der Geruch von verschimmeltem Pausenbrot und vergorenem Apfel klebte auf seinen Schleimhäuten, als er die Bären zu den anderen zurücksetzte. Über das holprige Pflaster steuerte er den Abfallkorb am anderen Ende des kleinen Platzes an, von einer Gruppe japanischer Touristen staunend beäugt.

Insgesamt hatte er fünf Bären, zwei Kerzen und eine Zeichnung an ihren Platz zurückgebracht und den zu Boden gefallenen Teddy auch, als er sich wieder ins Auto setzte und heimfuhr. Die Frau hatte sein Kärtchen. Sie war am Ende. Sie würde sich melden.

* * *

Werner hatte vegane Pasta Bolognese gemacht. Das hat gar kein Cholesterin, Raphael, probier mal! Raphael kaute langsam und versuchte zufrieden auszusehen. Er fasste nach der Ketchupflasche. Dann ließ er die Hand wieder sinken. „Schmeckt“, sagte er ehrlich überrascht, und Werner strahlte.

Dann machten sie den Abwasch; es war fast wie früher, mit Grit, aber sie war nicht so akkurat gewesen und kochen hatten sie beide nicht gekonnt. Raphael grinste wehmütig und schrubbte zum dritten Mal einen Teller, den Werner hatte zurückgehen lassen, vorwurfsvoll auf die Pastapampe weisend, die im Geschirrtuch klebte.

Grit. Die er rausgeworfen hatte. Damals hatte er gedacht, es wäre besser so.

Sie arbeitete noch immer im St. Jans. Sie war gut. Zu gut für ihn. Raphael seufzte.

Grit hatte ihm einen Wert gegeben und einen Platz in der Welt. Alles, was er war, verdankte er ihr. Alles, was er getan hatte, hatte er nur für sie getan. Selbst als er sie rauswarf. Er hatte ihr nichts zu bieten gehabt. Gar nichts.

Raphael spülte die letzte Schüssel und trocknete seine Hände ab. „Ich muss zum Training.“

„Raphael. Nicht mit dem Geschirrtuch“, Werner hielt ihm ein Frotteehandtuch hin. „Training ist dienstags“, ergänzte er streng. Raphael seufzte. Wann die Wheeled Warriors trainierten, bestimmte er immer noch selbst.

Als Raphael nach der Armbrustattacke in der Klinik gewesen war, hatte Werner sich rührend um die rollende Kampfsporttruppe in der Bruchbude am Hafen gekümmert, aber ein Sportler war er nicht und die Sache war schon eingeschlafen gewesen, als Azif auf den Plan trat und den versprengten Haufen wieder zusammenklaubte.

Zuerst hatten sie ihn Schwuchtel genannt, aber der Afrikaner war furchtlos und wunderbar. Er kämpfte wie ein Derwisch und umsorgte sie wie eine Mutter und sie liebten ihn, weil er sie respektierte und verstand. Eine Landmine hatte ihm den Bruder verstümmelt und ihn selbst hatte ein Motorrad zermalmt. Azif kannte viel Leid und wenig Mitleid und sie gaben alles für ihn.

Raphael biss sich auf die Lippen. Wo bist du, verdammt? Azif hatte ihn in die Trainerposition zurückbeordert, sobald er halbwegs grade im Rollstuhl hatte sitzen können, aber manchmal tauchte der Afrikaner plötzlich auf und brachte sie zum Lachen und dazu, über Grenzen zu gehen. Er würde wiederkommen. Bestimmt.

„Bis später“, Raphael schnappte sein Sportzeug und verschwand.

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