Schlafe mein Kind, bevor du stirbst

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Schlafe mein Kind, bevor du stirbst
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Axel Lechtenbörger

Schlafe mein Kind,

bevor du stirbst

Thriller

Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen alleine beim Autor. Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar.

Alle Rechte sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche, schriftliche Erlaubnis darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadensersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt.

Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie.

Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Personen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Es besteht keine Absicht, diverse Orte, Firmen oder Markennamen sowie Personen des öffentlichen Lebens in irgendeiner Art und Weise zu schädigen oder negativ darzustellen.

Axel Lechtenbörger

Schlafe mein Kind,

bevor du stirbst

Thriller


Impressum

© 2019 Axel Lechtenbörger

Texte: © by Axel Lechtenbörger

Umschlag: © by k-e-coverdesign@gmx.de

Bild(er): © Pixabay

Lektorat: ela .marwich@gmx.de

Satz: k-e-coverdesign@gmx.de

Bildquelle: pixabay

Verlag:

Neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

Danke

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst ist Fiktion. Alle Namen sind frei erfunden. Solltet ihr in diesem Buch dennoch welche finden, die der Wirklichkeit entspringen, wie z. B. diese hier: Kerstin Hub, Andreas Jetschin, Andreas Rothberger, Karl-Heinz Schroer, Renée, oder auch Sandra Wiedemann, dann möchte ich mich ganz herzlich für ihre wichtige Vorarbeit, dem Manuskript-Lesen, bedanken.

Des Weiteren geht mein Dank an Dich, liebe Michaela Marwich, für das Lektorat und die unkomplizierte und sympathische Zusammenarbeit.

Das ansprechende Gesicht dieses Buches verdanke ich Maike Chaoslady Auteur. Auch Dir vielen Dank dafür, ich finde das Cover wunderhübsch.

Falls ich vergessen habe, mich bei jemandem zu bedanken, dann mache ich das ganz herzlich in dieser Zeile.

Mein ganz besonderer Dank gilt meiner lieben Sabine. Tag und Nacht hattest Du ein oder zwei offene Ohren für meine Fantastereien, ob Du wolltest oder nicht. Du gabst mir Inspiration und ohne Dich hätte ich einiges versemmelt. Deine Kritik war hervorragend, auch wenn ich ganze Kapitel löschen und neu schreiben musste. Dafür liebe ich Dich!

Liebe Leserin, lieber Leser, natürlich bedanke ich mich auch bei Ihnen, da Sie ihre wertvolle Zeit beim Lesen dieser Lektüre opfern. Aber ich hoffe, dass sie Ihnen gefallen hat und freue mich auf Ihr Feedback, oder die eine oder andere Rezension.

Axel Lechtenbörger, Mai 2019

Für Sabine

Prolog

F

lauschige Fallschirmchen stiegen an diesem sonnengefluteten Frühlingstag von den Kappen der Pusteblumen auf, als Lisa mit ihrer fünfjährigen Schwester Lea ausgelassen über die Blumenwiese tollte. Einige von ihnen landeten auf Leas pinkfarbenen Ballerinas, weitere streiften ihr weißes, kurzärmeliges Kleidchen, verweilten einen Augenblick, um purzelnd davon zu schweben. Lea sah den Schirmfliegersamen fasziniert hinterher, die vom lauen Wind davongetragen wurden. Einen dieser putzigen Samenträger blies sie von ihrem bloßen Arm. Sie schaute ihm nach, wie er sich wieder in den vorbei wehenden Schwarm eingliederte.

Lea freute sich schon sehr auf das Picknick. Lisa auch, aber aus einem anderen Grund als ihre Schwester.

Ein leichter Schauer lief ihr den Rücken herab, als sie sich die nächsten Minuten vorstellte. Sie hatte sich diese Situation oft vorgestellt und sogar davon geträumt. Aber, kommt da nicht der Hauch eines Zweifels in ihr auf? Ist da etwas in ihr, das ihr etwas sagen will? Lisa lächelt. Nein, da ist nichts!

Der intensive Duft frisch gemähten Heus strömte von einer Nachbarwiese herüber und löste in ihr ein angenehmes entspannendes Gefühl aus. Nun würde ihr Wunsch endlich wahr werden.

Die beiden Geschwister waren vorausgelaufen und hatten ihre Eltern weit hinter sich gelassen.

Das war ein Teil von Lisas Plan.

Lea folgte einem hin- und herflatternden Schmetterling. Ihr Haar wallte bei jedem ihrer Schritte und schimmerte golden in der Sonne. Sie kicherte vergnügt und war voller Lebensfreude.

Die neunjährige Lisa machte sich nichts aus schicken Klamotten. Sie bevorzugte eher schwarze Kleidung und trug eine Latzhose, dazu passende Chucks und ein dunkles T-Shirt. Das perfekte Outfit für diesen Tag.

Die Geschwister empfanden ein großes Glücksgefühl. Lisa, weil sie sich ihrem Ziel näherte, und Lea, weil sie mit ihrer älteren Schwester, die ihr sonst immer nur Schmerzen zufügte, endlich mit großem Spaß herumtollen durfte. Lisa musste sich sputen, um den Tag für sich noch fantastischer ausklingen lassen zu können. Sie wendete sich um, um zu sehen, ob Lea ihr folgte, und winkte ihr aufmunternd zu. Leas Gesicht war vor Begeisterung gerötet. Sie freute sich schon lange auf das Picknick und lachte vergnügt.

Lisa lächelte. Lea vertraute ihrer vier Jahre älteren Schwester grenzenlos.

Warum auch nicht?

Lea lief prompt in ihre Schwester hinein, weil sie aus heiterem Himmel stehen blieb. Beide kullerten zu Boden. Lea rollte noch ein Stück weiter und hielt sich kichernd die Hand vor den Mund.

Dein süßes Lachen wird dir noch vergehen, dachte Lisa, als sie sich wieder aufgerappelt hatten.

Sie näherten sich ihrem Ziel bis auf ein paar Meter. Lisas Herz klopfte bis zum Hals. Es rauschte und säuselte in ihren Ohren. Sie dachte einmal mehr daran, wie sie mit ihrer Schwester im Garten gesessen hatte. Sie aßen Mamas leckeren Kirschkuchen. Lisa lobte ihn, wie gut er doch schmecken würde. Aber ihre Mutter reagierte überhaupt nicht. Sie beachtete sie nicht einmal. Ihr Interesse galt dem kleinen, putzigen Mädchen mit den Zöpfen, das ja erst laufen gelernt hatte und dem der mit Kirschen verschmierte Mund abgeputzt werden musste. Dann tätschelte sie ihr auch noch liebevoll den Kopf.

Lisa war wütend darüber. Sie rammte ihrer kleinen Schwester in einem unbemerkten Moment die Kuchengabel an den Kopf, genau dorthin, wo die Mutter sie zuvor liebkost hatte.

Es war eigenartig erregend für sie. Eine merkwürdige Last fiel von ihr ab und sie war auf einmal wie befreit.

Sie führte die blutüberströmte Schwester, der das Blut in die Augen lief und nichts sehen konnte, zu ihrer Mutter und erzählte ihr, dass sie in einen Stacheldrahtzaun gefallen sei.

Lisas Mundwinkel zuckten spöttisch, als Lea indessen einer Heuschrecke hinterhersprang. Sie winkte Lisa zu. Die hob eine Hand leicht an und lächelte.

Zwei Schritte noch, dann ist es soweit.

Lisa hatte ihren Vater einmal beim Reparieren ihres ramponierten Zaunes, der von einem Auto gerammt worden war, beobachtet und sich die Werkzeuge – Hammer, Seitenschneider, Säge und Nägel – gemerkt.

»Wer zuerst am Zaun anschlägt ist Sieger«, rief Lisa ihr mit honigsüßem Schmelz in der Stimme zu. Schlage aber sanft an, fügte sie in Gedanken hinzu, sonst passiert vielleicht ein Unglück.

Lea rannte los. Freudestrahlend schlug sie als Erste gegen den Bretterzaun, der den gefährlichen Abhang absicherte und den Lisa Tage zuvor mit dem Werkzeug ihres Vaters bearbeitet hatte.

Von einem Moment auf den anderen war Lea mitsamt dem Zaun von der Bildfläche verschwunden. Sie hatte nicht einmal einen Schrei ausstoßen können.

Es war still um Lisa. Sie wurde sich nicht ihrer eigenen, erregten Atemzüge bewusst. Sie war enttäuscht. Das ging alles so schnell. Hatte Lea geschrien, oder war sie stumm hinabgestürzt?

Wie in einem Rausch näherte sie sich der Stelle, an der vor wenigen Augenblicken ihr kleines Schwesterchen den Zaun berührt hatte.

Gebannt starrte sie den Abhang hinab und entdeckte Lea tief unten mit verrenkten Gliedmaßen.

In Lisas Blick lag kein Mitgefühl, nur gefühllose Kälte. Das geschah ihr recht, ihr freundliches Gehabe würde ihr endlich erspart bleiben. Vorbei war das übertriebene Getue ihrer Eltern. Jetzt war sie die Nummer eins in der Familie. Die kleine Süße, die immer wieder bevorzugt behandelt wurde, gab es nicht mehr.

Sie würde jetzt nicht mehr um Zuneigung betteln müssen.

Sie hörte nicht die panischen Angstschreie ihrer Eltern, die die Situation aus der Ferne hilflos mit angesehen hatten und atemlos bei ihr aufgetaucht waren.

Voller Entsetzen erreichten sie den manipulierten Zaun. Tief unten erblickten sie ihre jüngste Tochter.

Ein Luftzug kam auf. Er brachte den herrlichen Duft frisch gemähten Heus mit sich und erfasste Lisas brünettes Haar. Sie lauschte in sich hinein, aber die wispernde Stimme hatte aufgehört zu ihr zu sprechen.

In ihren Ohren säuselte nur noch der Wind.

*

Manch einer befindet sich auf der Sonnenseite des Lebens, wenn er seinen Weg geht und sich von niemandem beirren lässt.

 

Egal was geschieht!

Der Weg kann einfach sein, manchmal aber auch sehr beschwerlich und so können nützliche Abkürzungen geradezu in die Irre führen.

Wie du deinen Weg auch gehen wirst, er führt auf einem schmalen Grat entlang.

Manchmal spürst du Gegenwind.

Er kann lau sein. Dann spiele mit ihm.

Stürmt er kräftig von der Seite, mit all seiner Kraft, spielt er mit dir. Dann setze stets einen Fuß vor den anderen, damit du nicht zur falschen Seite hinfortgerissen wirst, denn sonst lebst du in deiner eigenen

Apokalypse.

Kapitel 1

S

chweißgebadet erwacht Maik Stahl aus seinem Albtraum. Diese Szenen würde er niemals aus dem Kopf bekommen. Sein intaktes rechtes Auge blinzelt in das Licht der aufgehenden Sonne.

Sein Brustkorb hebt und senkt sich, es rasselt wie ein löchriger Blasebalg. Sein Herz schlägt in seinem Kopf wie ein Vorschlaghammer, der von innen heraus seine Schädeldecke knacken will. Maik verzieht das Gesicht. Der widerliche Gestank von Erbrochenem löst Brechreiz in ihm aus. Er wischt sich mit dem Ärmel seines heruntergekommenen Ledermantels durch das entstellte Gesicht, tastet über die tiefe Narbe, die das verbrannte Gesicht am verlorenen Auge in zwei Hälften teilt. Unter seinen Fingerkuppen fühlt er die Augenklappe, die die zerklüftete Höhle bedeckt.

Er kann sich an den Unfall, bei dem er sein Auge und sein Gedächtnis verlor, nicht erinnern.

Diese Albträume überfallen ihn stets, sobald der Whiskeypegel in seinem Blut zu sinken beginnt. Er spürt einen Druck auf seiner Brust und schlägt die schmutzige Decke zur Seite, um seinen hageren Körper aufzurichten.

Er erstarrt. Ein grünes Augenpaar blickt ihn unverwandt an.

Eine Katze. Sie liegt auf seiner Brust. Sie scheint nicht die Absicht zu haben, sein Gesicht zerkratzen zu wollen, dazu wirkt sie zu schwach.

»Was machst du denn hier, hast du kein Zuhause?«, hört er eine Stimme krächzen, die seine zu sein scheint.

Maik hat mit seinem vertrauten Freund, dem Alkohol, wie so oft die Nacht verbracht und den üblen Geschmack von Urin im Mund. Er weiß nicht, wo er sich befindet, aber die Gegend kommt ihm bekannt vor. Ächzend setzt er sich etwas auf, sodass das kraftlose Tier haltlos in seinen Schoß rutscht. Maik ahnt, dass sie krank oder verletzt ist.

Aber wie kam sie zu ihm? Hatte er sie vergangene Nacht vielleicht irgendwo aufgelesen? Er weiß es nicht mehr, kann sich aber nicht vorstellen, dass sie sich so einfach auf seine Brust gelegt hatte. Aber das Tier ist hübsch. Es hat ein hellgraues Fell, einen buschigen Schwanz und lange Beine mit weißen Stiefelchen. Der Größe nach zu urteilen muss es ein Kater sein.

Vorsichtig schiebt er ihn mit seinen nachtklammen Händen in das vom Frühtau überzogene Gras, wo er lethargisch liegen bleibt. Er greift nach seiner im Gras liegenden Kubacap und stülpt sie sich umständlich über den kahlen Schädel, wobei er peinlichst darauf achtet, dass sie sein halbverbranntes Ohr bedeckt.

Maik wuchtet seine Einmeterfünfundneunzig hoch und wischt klebrigen Sand und Grashalme von seiner verwaschenen Bluejeans. Er putzt seine ehemals braunen und schiefgelaufenen Drifter Stiefel an den Hosenbeinen ab. Dass er dabei seine Hose versaut, ist ihm egal.

Maik weiß jetzt, wo er sich befindet. Er schaut zur Dyckerhoffbrücke hinüber, die die Hafeneinfahrt des Schiersteiner Hafens bis zur Bismarcksaue überspannt und die ihn stets magisch anzuziehen scheint. Dort trifft er manchmal auf seinesgleichen, die hinunterspringen wollen, weil sie dieses Leben nicht mehr ertragen. Aber Maiks Meinung nach taugt die Brücke nicht dazu, sich das Leben zu nehmen. Einige überleben den Sprung, manche ertrinken dabei, weil sie nicht schwimmen können, und werden anschließend wie Exkremente in einer Kloschüssel vom Rhein fortgespült.

Leblos und blass, kalt und nass.

Kein schöner Reim. Er hatte dort oben gestanden, um hinabzuspringen. Aber er ist ein zu guter Schwimmer.

Er hatte sich ein Seil aus einem alten Kahn besorgt, eine Schlinge geknotet, es am Geländer vertäut und sie sich um den Hals gelegt. Dann hatte er eine Flasche Whiskey auf ex geleert und war in die Tiefe gesprungen. Er erwachte mit schrecklichen Halsschmerzen in einer Klinik, denn das modrige Seil war gerissen. Ein Skipper der DLRG-Station, der ein Boot kontrollieren wollte, hatte beobachtet, wie er im Wasser landete, und ihn noch rechtzeitig herausziehen können. Seitdem ziert eine wulstige Narbe seinen Hals. Schöne Scheiße! Danke dafür!

Sich mit Unmengen von Alkohol totzusaufen, gefällt ihm daher schon viel besser. Maik weiß nicht, worauf er noch warten soll, es gibt nichts mehr für ihn zu tun auf dieser Welt.

Er betrachtet das hechelnde Fellbündel. Warum soll er sich mit dieser kranken Kreatur belasten? Er hat mit sich selbst doch schon genug zu tun. Er seufzt und geht in die Hocke. Sein linkes Bein, an dem er vor fünfeinhalb Jahren einen offenen Splitterbruch erlitten hatte und gerade so an einer Amputation vorbeigerauscht war, schmerzt dabei. An seinem anderen Bein, an dem das Feuer nur das Muskelgewebe verbrannt hatte und nichts mehr schmerzte, weil die Nerven tot waren, umspannte pergamentene Haut seine Knochen.

Er packt den Kater im Nacken und nimmt ihn hoch in seine Arme. Maik kann ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Weiß der Teufel, wie er in diesem Zustand auf seiner Brust zu liegen kam. Vielleicht würde er ja unterwegs eine Stelle finden, an der er ihn zurücklassen konnte und ihn jemand finden würde. Er hat schließlich anderes zu tun, als Kindermädchen zu spielen.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen, als Katzen schon einmal eine Rolle in seinem Leben gespielt haben.

Man fand sie tot im Rhein, zusammen mit zwei Leichen, im Innenraum eines Autos.

Leblos und blass, kalt und nass.

Sie wollten zu einem Tierarzt, um die Katzen gegen irgendetwas impfen zu lassen. Er weiß nicht mehr wogegen. Es ist ihm jetzt auch scheißegal.

»Einfach nur zum Impfen«, flüstert er der aufsteigenden Sonne entgegen. Als würde sie das interessieren. »Hey mein Lieber«, murmelt er dem nach Sauerstoff ringenden Tier zu, »was hast du nur für ein Problem?«

Der Kater hechelt apathisch den schmutzig braunen Ärmel seines Mantels an.

Maik setzt sich auf eine der Holzbänke, die hier an der Uferpromenade stehen und auf denen er schon oft seinen Rausch ausgeschlafen hat. Er setzt den Kater auf seinen Schoß ab und schlägt die Decke so um ihn, dass er noch genügend Luft bekommt. »Ich sollte dich einfach hier liegen lassen, Kumpel. Irgendwann wird sicherlich jemand vorbeikommen und dich mitnehmen.« Er legt den Kater auf der Bank ab, zückt die halbvolle Whiskeyflasche aus seiner Manteltasche, schraubt den Verschluss ab und lässt den Alkohol die Kehle herabrinnen, der ihm schier die Speiseröhre zu verbrennen scheint.

»Ich habe mit mir schon genug zu tun. Im Gegensatz zu dir trage ich meine Medizin ständig am Körper.«

Er verschließt die Flasche und lässt den billigen Fusel wieder in seine Manteltasche gleiten. Die Sonne hinter ihm hatte sich mittlerweile etwas weiter nach oben geschoben. Maik betrachtet seinen in die Länge gezogenen Schatten auf dem Gehweg, der sich nun aufrichtet und fortschleicht. Maik vernimmt das armselige Hecheln des Katers. Unsicherheit macht sich in ihm breit. Was ist, wenn ihn niemand finden wird? Die nächsten Stunden würde er wohl kaum überleben.

Das in die Länge gezogene Schattenmonster vor ihm verharrt jäh.

Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich dich irgendwo abgeben würde?, meldet sich sein Gewissen. Maik kann es nicht übers Herz bringen und ihn sich selbst überlassen. Ihm fällt ein, dass ganz in der Nähe hin und wieder eine mobile Ambulanz steht, die Obdachlose versorgt. Eine junge Ärztin, die armseligen Pennern ihre Hilfe anbietet. So eine Weltverbesserin. Vielleicht steht sie wieder an der Barke. Sie könnte ja mal nach dem Kater sehen und er wäre ihn wieder los.

Maik folgt der Hafenstraße, und obwohl der Kater so ausgehungert wirkt, liegt er schwer in seinen Armen.

Es ist früh am Morgen. Maik nimmt einen weiteren Schluck Whiskey und lässt die fast geleerte Flasche unbeholfen in der Manteltasche verschwinden. Vor ihm taucht das Speiselokal Barke auf, bei dem sich die weltverbessernde Ärztin gelegentlich aufhält. Tatsächlich steht dort ein buntes, mit Graffiti besprühtes Krankenmobil auf der Straße.

Maik klopft an eines der mit Gardinen verhangenen Fenster. Die Ärztin, die jung und attraktiv sein soll, kennt er nur vom Hörensagen. Ihn interessiert das aber nicht die Bohne. Wozu auch? Hübsche Frauen sind für ihn uninteressant und vor allem unerreichbar. Er braucht keine Frau, wer würde sich auch schon für ihn interessieren, für einen in Selbstmitleid zerfließenden, körperlichen und seelischen Krüppel?

Im Fahrzeug poltert es. Unvermittelt schwingt die Tür auf und ein Blondschopf schaut heraus.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, sagt er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ein strahlender Blick himmelblauer Augen trifft ihn. Die Frau lächelt ihn freundlich an. Grübchen bilden sich in ihren Wangen.

Maik ist beeindruckt, obwohl er stark angetrunken ist. Er hält ihr den Kater hin. »Können Sie vielleicht etwas für ihn tun?«

*

Auch wenn man schon sehr tief gesunken ist und alles um sich herum verdammt, befindet sich tief im Innern immer noch eine Spur von Mitleid, auch wenn man es selbst nicht wahrhaben will.

Kapitel 2

D

ie Ärztin schaut ihn aufmunternd an. Maik will ihr den Kater eigentlich nur in die Hände drücken und sofort wieder verschwinden. Aber er kann nicht anders, ihr Blick mit den faszinierenden Augen zieht ihn magisch an. Als würde seine verstorbene Frau ihn anschauen. Verwirrt reißt er sich aus den Tiefen ihrer Augen. Wie lange hatte er sie wohl angestarrt? Obwohl der Alkohol seine Sinne stark benebelt hat, ist es ihm peinlich.

»Kommen Sie herein, aber halten Sie das arme Tier gut fest.«

»Aber ich,» … erwidert Maik zögernd.

»Na kommen Sie schon rein!«

Zögerlich steigt Maik auf die herausgeklappte Stufe des Wohnmobils, der Duft von Desinfektionsmitteln schlägt ihm entgegen.

»Keine Angst, ich beiße nicht.« Sie lächelt ihn an, während sie ein Handtuch auf der Tischplatte ausbreitet. »Es sieht so aus, als würde es dem armen Tier gar nicht so gut gehen. Legen Sie ihn bitte auf den Tisch.«

Maik atmet ihren Fliederduft ein, wie er den hechelnden Kater umständlich auf der Tischplatte ablegt. Am liebsten hätte er jetzt in seine Tasche gegriffen und sich einen großen Schluck aus seiner Flasche gegönnt. Aber es ist ihm in diesem Moment irgendwie unangenehm.

»Übrigens, ich heiße Nicole, Nicole Voss»

Sie hält ihm ihre Hand hin. Maik ergreift sie zögernd und spürt ihren festen Händedruck. Er lässt sie schnell wieder los, als hätte er sich verbrannt. Scheinbar erwartete sie, dass er sich ebenfalls vorstellen würde, aber er denkt gar nicht daran. Sie zuckt mit den Schultern und schaut sich das Tier genauer an.

»Wenn Sie wollen, dass Ihr Kater überlebt, dann muss er sofort in eine Tierklinik gebracht werden.«

»Es ist nicht mein Kater«, erwidert Maik stur, »ich habe ihn nur gefunden.«

»Das ist mir egal. Es sieht nicht gut aus mit ihm, er muss sofort in eine Tierklinik, am besten nach Hofheim.«

»Okay, dann bringen Sie ihn nach Hofheim.« Maik wendet sich der Tür zu, um zu gehen.

»Warten Sie, Sie können jetzt nicht so einfach von hier verschwinden. Wenn ich dem Kater helfen soll, dann müssen auch Sie mir helfen. Alleine kann ich ihn nicht fahren, weil ich leider keinen Transportbehälter für Kleintiere dabei habe. Setzen Sie sich bitte und halten Sie Ihren Kater fest, damit er beim Fahren nicht vom Tisch fällt.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, er ist nicht mein Kater«, erwidert Maik etwas zu schroff. Seine Hände zittern, er braucht jetzt dringend etwas von seinem Alkohol.

»Setzen Sie sich«, erwidert sie energisch und deutet auf die Sitzbank am Tisch.

Maik ist über sich selbst verwundert und schluckt eine harte Erwiderung herunter. Aber diese Augen, sie erinnern ihn so sehr an Laura. Er kauert sich widerstrebend auf die Bank, nimmt den Kater und legt ihn auf seinen Schoß. Die Ärztin beobachtet ihn, schlüpft anschließend durch den Zwischenraum der beiden vorderen Sitze, telefoniert mit der Tierklinik und startet den Motor. Maiks Gedanken schweifen ab.

 

Er denkt zurück an die Zeit, in der er viele Monate wegen eines Unfalls, bei dem er sein Gedächtnis verloren hatte, im Koma auf der Intensivstation verbringen musste.

Nur blitzartige Erinnerungsfetzen tauchen bei ihm nach und nach wieder auf.

Nach zwanzigminütiger Fahrt vom Schiersteiner Hafen zur Tierklinik in Hofheim parkt Nicole Voss ihr Fahrzeug auf dem großzügigen Parkplatz ein und öffnet Maik, der das kranke Tier in seinen Armen trägt, von außen die Seitentür. Am Empfang wird ihnen der Kater von einer Tierärztin und dem Personal abgenommen und nach ein paar klärenden Worten ziehen sie sich in die Notaufnahme zurück. Maik begibt sich nach draußen und setzt sich auf eine der für Herrchen und Frauchen bereitgestellten Bänke.

Ihm ist übel. Sein Alkoholpegel ist abgesackt und seine Hände zittern. Aus dem Augenwinkel sieht er Nicole Voss kommen, die sich kurz darauf neben ihn setzt. Maik starrt vor sich zu Boden und zieht seine Kappe tief in die Stirn.

»Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt«, hört er sie sagen.

Maik antwortet nicht, die Zementplatten am Boden scheinen ihn mehr zu interessieren.

»Sie sind Maik, richtig?«

Maik ist überrascht. Woher weiß sie das? Er wirft ihr einen neugierigen Blick zu.

»Sie sind der einäugige Maik. Einige meiner Patienten haben mir von Ihnen erzählt.«

Maik räuspert sich. »So? Was erzählt man sich denn über diesen Maik?«

»Es wird gesagt, dass der Einäugige sich schützend vor hilflose Menschen stellt, wenn diese bestohlen oder überfallen werden. Es wird erzählt, dass er einmal hinter einem Mann hergelaufen sein soll, der seinen Hund im Rhein ertränken wollte. Er stutzte ihn zurecht und gab ihm selbst das Rheinwasser zu saufen.«

Maiks Hände zittern. Er leckt sich über die spröden Lippen. Ihm ist es unangenehm, er mag solche Lobhudeleien nicht. Der Alkoholpegel in seinem Blut ist mittlerweile wieder auf einem Tiefstand. Er muss sich schleunigst den Rest seines Whiskeys einverleiben.

Nicole Voss blickt ihn fragend an. Aber anstatt ihr zu antworten, steht er auf und geht mit steifen Gliedern zur Toilette der Klinik. Herrchen und Frauchen, die mit ihren Haustieren auf ihren Termin warten, erkennen direkt den Obdachlosen in ihm und werfen ihm argwöhnische Blicke zu. Aber das ist ihm egal. Er stößt die Tür zum Vorraum der Toilette auf und betrachtet sein Konterfei in dem über dem Waschbecken hängenden Spiegel. Ein armseliger Obdachloser mit einer schmutzigen Kappe auf dem kahlen Schädel stiert ihn mit einem Auge an. Die hässliche Narbe, die von der Stirn bis fast zum Mundwinkel reicht, wird nur teilweise von seiner Augenklappe bedeckt. Seine Hand gleitet in die Manteltasche. Er tastet gierig nach der Flasche Jim Beam, umschließt sie mit bebenden Händen und setzt sie an.

Plötzlich macht sich Ekel in ihm breit, Ekel vor sich selbst. Der Whiskey brennt an seinen rissigen Lippen und rinnt an seinem Kinn herab in den Halsausschnitt. Er reißt die Flasche von seinem Mund und schleudert sie neben das Waschbecken in den Papierbehälter. Das Glas zerbricht mit einem hässlich klirrenden Geräusch. Alkoholdunst weht ihm entgegen und unter dem Papierkorb bildet sich eine Whiskeylache. Das Zittern seiner Hände überträgt sich auf seinen gesamten Körper. Ihm wird schlecht. Maik saugt keuchend Luft in seine Lungen. Ein Schwächeanfall überkommt ihn, er muss sich auf das Waschbecken stützen. Kurz darauf geht es ihm schon wieder besser und er stakst, als würde er unter Trance stehen, wieder hinaus zur Bank, auf der Nicole Voss sitzt und das Ergebnis der Tierärztin abwartet.

Kritisch betrachtet sie ihn, als er sich neben sie setzt und ihr dabei eine Alkoholfahne entgegenweht.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragt sie ihn, als hätte sie das von ihm erwartet.

Maik erwidert nichts. Warum auch.

»Was sind Sie für ein Mensch? Sie sind ein obdachloser Trinker, sind selbst nicht gesund und sorgen sich um eine kranke Katze? Sie haben Mitleid mit Lebewesen, was hat Sie nur so aus der Bahn geworfen?«

Maik hat überhaupt keinen Bock darauf, über sein Leben zu philosophieren. Das, was er erlebt hat, geht sie einen feuchten Dreck an. Sie wäre die Letzte, der er erzählen würde, warum er seine Träume in Alkohol zu ertränken versucht, in denen die beiden Leichen ihn Nacht für Nacht im Traum aufsuchen, wie sie ihm zuwinken und zuflüstern, dass er zu ihnen kommen soll. Der Gedanke daran lässt ihn wieder einmal erschauern. Er schließt sein Auge. Bilder tauchen in ihm auf, Bilder von Körpern, die in einem Auto am Grunde des Rheins, wie Algen im Meer, gemächlich hin und her wogen. Wie sie ihn mit ihren toten Augen vorwurfsvoll anblicken, wie aus ihren zum Biss geöffneten und von Algen überwucherten Mündern nadelspitze Zähne herausragen. Wie tote Glubschaugen sich auf einmal mit Leben füllen und ihn unvermittelt anstarren, zu Fischen werden, die moränengleich aus ihren Höhlen schnellen, um ihm mit ihren Zähnen die verbrannte Haut vom Körper nagen zu wollen.

Hilf uns, schreien die Leichen ihn jedes Mal vorwurfsvoll an. Warum hilfst du uns nicht?

Schweiß rinnt von Maiks Stirn.

»Sie möchten nicht darüber reden, stimmt’s? Geht es Ihnen nicht gut?«

Nicoles Stimme holt ihn aus seinen Gedanken und er wird jäh aus seinem Wahn gerissen. Maik schluckt einen dicken Kloß herunter. Er kann ihr in seiner jetzigen Verfassung unmöglich antworten. Diese Frau bringt in völlig durcheinander. Er will aufstehen, fortlaufen und sich völlig besaufen, er kann diese Tagträume nicht länger ertragen.

Die Tierärztin erscheint, sie trägt den Kater in einem Karton, der mit Luftlöchern versehen ist.

»Er hat ein Herzproblem und benötigt diese Medikamente. Ich habe ihm bereits eine Spritze injiziert, die sollte fürs Erste genügen.« Sie hält ihr eine Packung hin. »Und weil die Intensivstation für heute überbelegt ist, müssen sie den Kater wieder mitnehmen und morgen noch einmal vorbeischauen, falls sich sein Zustand verschlimmern sollte« versteht Maik noch, bevor er sich abwendet und dem Gespräch nicht weiter folgt, weil er sowieso nichts davon versteht.

Als Nicole Voss kurz darauf mit dem Karton bei ihm auftaucht und ihm übergibt, um mit ihm zu ihrem Fahrzeug zu gehen, zögert er kurz.

»Steigen Sie ein, ich fahre Sie wieder zurück.«

Sie öffnet die Tür zum Behandlungsraum im Fahrzeug und Maik stellt den Karton mit dem Kater hinein. Dann geht sie um das Fahrzeug herum, startet den Motor und wartet darauf, dass Maik die Tür schließen würde. Aber der ist verschwunden. Nicole steigt wieder aus und verriegelt die Tür selbst. Sie erwägt, nach ihm zu rufen, überlegt es sich aber anders und fährt ohne ihn los.

Maik beobachtet aus dem Schatten der Klinik heraus das in der Ferne immer kleiner werdende Wohnmobil. Maik kennt in der Nähe eine Tankstelle. Dort würde er sich gewiss eine Dröhnung besorgen können. Er macht sich auf den Weg und hofft, dass dieser Ekel ihn nicht wieder übermannen wird. Er erwirbt dort zwei Flaschen, eine davon ist nach den ersten Schlucken bereits halb leer und sein erbärmliches Zittern flaut ab. Er spricht einen Truckfahrer mit Wiesbadener Kennzeichen an, der ihn glücklicherweise in der Nähe des Schiersteiner Hafens absetzt. Er könnte in eines der Boote klettern, die zur Reparatur oder Wartung auf dem Gelände der Bootsverleiher aufgebockt auf ihre Überholung warten. Aber ein alter Freund hatte ihm vor einiger Zeit erlaubt, auf dessen Boot zu übernachten, falls er mal nichts anderes finden sollte und er haust jetzt schon einige Tage darauf herum. Die Anlegestege dort werden zwar durch Tore gesichert, aber Maik weiß, wo der Schlüssel von einem der Stege zu finden ist. Für die nächsten Stunden wird er ein Dach über dem Kopf haben und genügend Alkohol, um seine schrecklichen Träume darin zu ersäufen.