Nach Hause kommen

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Weihnachtsgeschichten

ELVEA


Die unvollendete Geschichte

Drachen-Weihnacht

Die Walnuss und der Nikolaus

Eine Weihnachtsgeschichte

Eine Dose voller Glück

Mamas Weihnachtsharmonie

Die Quoten-Weckfrau

Schmetterlinge zu Weihnachten

Die kleine Weihnachtsbank

Die Flügelein

Der Weihnachtsschlitten

Joyeux Noël und frohe Weihnachten

Wer feiert schon gerne unter Palmen?

Plätzchenduft

Hoffnungsvolles Warten

Der Weihnachtseinkauf

Der verlorene Glaube

Ach du liebe Zeit

Ostsee-Weihnacht

TUNA

Heilig Abend ohne Strom

Schwere Kinderherzen

Weiße Weihnachten

Alle Jahre wieder …

Santa Nikolas

Wo das Christkind wohnt

Heiligabend auf der Flucht

Weihnachten bei uns zu Haus

Peter Malter und die Weihnachtsengel

Maggies Begegnung mit dem König der Wichtel

Es ist soweit

Autoren

Impressum


Andersautor Alexander Brummer († 2018)

Wie jeden Morgen im Dezember rannte Paul Anstifter – kaum, dass er mit einem Bein aus dem Bett gekrochen war – mit ungestümer Vorweihnachtsfreude zu seinem Weihnachtskalender, der an seinem Stammplatz an der Treppe baumelte. Mit großen Augen öffnete er sein allerletztes Türchen und rief begeistert: »Hurra, heute ist Weihnachten. Hurra! Endlich, endlich, endlich! Solange hatte es gedauert.«

Die Wartezeit war dem Jungen nahezu unendlich vorgekommen.

Heute durfte er das größte Türchen öffnen. Das war bestimmt dreimal so groß wie die vorherigen. Das, was er nun in seinen Händen hielt, sah sehr geheimnisvoll aus: Es steckten ein, in glitzerndes Goldpapier verpackter, Schokoladenengel und eine kleine Schachtel drin. Vorsichtig öffnete er ihren Deckel. Aus der Schachtel kamen eine bunte Lichterkugel, mit einem Anschaltknopf sowie eine Weihnachtskarte zum Vorschein. Was es wohl damit auf sich hatte? Als er sich das Kärtchen näher anschaute, waren darauf nur lauter unbekannte Buchstaben, Ziffern und Symbole zu erkennen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Nur den letzten Satz von der Karte konnte er entziffern.

Da stand zu lesen: »Lieber Paul! Hab noch ein bisschen Geduld, der Weihnachtsmann erklärt dir erst heute Abend, was die Winterzauberkugel alles kann! Aber den Schokoladenengel, den darfst du schon jetzt verputzen.«

Das ließ Paul sich nicht zweimal sagen. Ungeduldig pfriemelte er das Goldpapier ab und ließ sich die Schokolade schmecken. Die geheimnisvolle Schachtel ließ er vorerst in seiner Pullovertasche verschwinden und marschierte dann mit Schokoladenfingern in Richtung Küche, um zu frühstücken. Dabei lief er auch am großen Fenster vorbei. Die letzten Tage im Advent hatte er besonders gespannt hinausgeschaut, um zu gucken, welche Laune das Wetter hatte. Er sehnte sich so sehr nach Schnee. Aber auch an diesem Tag sah alles nur matschig und grau aus – dabei war doch Weihnachten … Warum zeigte das Wetter keine Weihnachtsstimmung? Seit ein paar Jahren gab es zu Weihnachten einfach keinen Schnee mehr. Das machte Paul unglaublich traurig. Vorletztes Jahr hatte er vom Weihnachtsmann Skier bekommen, aber es gab keinen Schnee. Noch nie hatte er sein Geschenk ausprobieren können und es stand seither nutzlos in der Garage. Im letzten Jahr hatte er einen neuen Schlitten bekommen, auch den konnte er noch nie benutzen. Der Schlitten lehnte ebenso verloren an der Garagenwand, wie die dicken Schneestiefel. Irgendwo mussten zwischen all den Sachen auch noch seine Schlittschuhe verkramt sein. Die hatte er bisher nur einmal ausprobieren können, als er mit seiner Mutter zu einer weit entfernten Schlittschuhhalle in der Stadt gefahren war, weil der See im Ort einfach nicht zufrieren wollte. Dass er auch in diesem Jahr ein Geschenk bekommen würde, für das man Schnee oder gar Eis bräuchte, glaubte er nicht. Die wenigen Matscheflocken, die gerade vom Himmel herabfielen, sahen nicht besonders vielversprechend aus. Nein, das Wetter hatte absolut keine gute Laune und die Weihnachtsferien versprachen nichts als Stubenhockerei, wie Mama es nannte, wenn man wegen des Wetters nicht raus gehen konnte. Wie zum Ausgleich, blinkerte und blitzte es in der Straße, in der Paul mit seiner Mama wohnte, an jedem Haus. Man könnte denken, die Bewohner hätten im Lotto gewonnen und das ganze Geld nur in die Weihnachtsbeleuchtung gesteckt, so viel wurde geschmückt. An jedem Haus sah man grellbunt dekorierte Fenster und Lichterketten zierten sämtliche Tannen, Fichten und Sträucher. Pauls Mama behauptete, Nachbarin Rosa hätte dieses Jahr eine besonders pompöse Beleuchtung gekauft, weil sie mit ihrem Erzfeind, Nachbar Seitenhieber, einen heimlichen Wettstreit starten wollte. Sieger des Jahres sei derjenige, der die meisten Lichter in den Bäumen hängen hatte. So war die ganze Straßenseite alleine von den beiden Nachbarn, selbst mitten in der Nacht, taghell beleuchtet.

Mama und Paul hatten nur einen großen beleuchteten Weihnachtsmann sowie eine schöne Sternschnuppe an der Garage hängen und das Wohnzimmerfenster war reich beklebt mit selbst gebastelten Sternen und Engeln. Außerdem hatte Paul das ganze Wohnzimmer mit seinen Lichtspielzeugen aus dem Adventskalender bestückt. Bunte Lichtkreisel, blinkende Flummy-Bälle, Murmeln, die im Dunkeln leuchteten zierten das Fenstersims. Seine neue Lichtkugel passte bestimmt ganz hervorragend dazu. Paul liebte solche Spielzeuge sehr und auch das bunte Farbenspiel da draußen fand er unheimlich toll. Ein einziges Lichtermeer. Er konnte sich kaum daran sattsehen und lehnte sich nach dem Frühstück stundenlang auf die Fensterbank, um das Lichtspektakel zu genießen. Der Einzige, der in der Straße nicht mal ein winziges Lichterspiel aufgehängt hatte, war Pauls Lieblingsnachbar Gandalf von Gegenüber. Gandalf hieß eigentlich Gunnar, aber alle Kinder in der Straße nannten den alten Mann Gandalf, weil er mit seinen langen grauen Haaren und dem weißen Bart genauso aussah, wie der alte, weise Mann aus dem Film Herr der Ringe. Bei Gandalf gab es am Fenster nicht eine einzige bunte Kugel zu sehen, keine Lämpchen, keine Kerzen, geschweige denn leuchtende Sterne. Der Anblick machte Paul noch trauriger und seine Weihnachtsstimmung verflog so schnell, wie sie gekommen war. Für den Jungen war eines ganz klar: Wer zu Weihnachten sein Haus nicht schmückt und es nicht, wie all die anderen, in ein großes schimmerndes Farbenmeer verwandelt, ist nicht glücklich und lebt nicht richtig! Vor Gandalfs Fenstern hingen nur trostlose graue Vorhänge herab und im Zimmer hinter den Fenstern war es immer dunkel. Dass der alte Mann etwas sonderbar geworden war, seit vor zwei Jahren seine geliebte Frau Else starb, wusste Paul. Mama sagte sogar manchmal, er sei recht wunderlich geworden. Paul konnte die Traurigkeit des alten Mannes gut verstehen. Auch er hatte vor gut zwei Jahren seine Großeltern verloren und wusste daher, wie es sich anfühlte, wenn plötzlich jemand Wichtiges im Leben fehlte. Erst war der Opa gestorben und kurz darauf war die Oma hinterhergegangen, wie Mama erklärte. Das war eine ganz schlimme Zeit gewesen. Damals war es Mama und ihm ganz schlecht gegangen und nichts war mehr so wie vorher. Auch jetzt noch gab es immer wieder Tage, wo die Großeltern ganz arg fehlten. In der Weihnachtszeit war es besonders schlimm. So ähnlich musste es wohl auch für Gandalf sein, dachte sich Paul. Mama sagte immer, dem Eigenbrötler von nebenan sei die Einsamkeit ins Gesicht geschrieben, weil seine Mundwinkel immer ganz weit nach unten gezogen waren und er anderen Menschen nie ein Lächeln schenkte. Aber für Paul hatte der alte Mann manchmal ein kleines Lächeln im Gesicht, wenn sie sich zum Beispiel im Sommer beim Entenfüttern am nahegelegenen See trafen oder wenn sie sich zufällig in dem alten Trödelladen an der Ecke begegneten, um in den verstaubten Regalen zu stöbern. Für Paul war Gandalf, mit der Zeit, zu einer Art Opa-Ersatz geworden. Der Junge hörte ihm gerne zu, wenn er von seinen Erlebnissen aus der Kindheit erzählte und manchmal sprachen sie auch über die Schule. Darüber, wie es früher war und was heute alles anders ist. Einige Male waren sie gemeinsam zum Bäcker gegangen und kauften dort Kekse oder ein Stück Butterkuchen, um die Leckereien hinterher auf der Bank am See zu verspeisen. Doch seit der Herbst angebrochen war, hatte Paul den alten Mann kaum noch gesehen. Den ganzen Advent über hatte der sich nicht einmal auf der Straße oder im Vorgarten blicken lassen und im Trödelladen waren sie sich auch nicht mehr über den Weg gelaufen. Ob der alte Mann wohl Pauls Hilfe brauchte?

Der Gedanke ließ Paul einfach nicht los. Den ganzen Vormittag ratterte es wie verrückt in seinem Kopf, sodass er darüber sogar die geheimnisvolle Schachtel in seinem Pullover vergaß.

 

Weil sein Gedankenkarussel einfach nicht stillstehen wollte, fasste er einen Entschluss: Dem alten Gandalf musste geholfen werden. Nur wie und womit? Das war die große Frage.

Am Nachmittag konnte Paul einen Blick in Gandalfs Wohnzimmer erhaschen. Dort saß der alte Mann zusammengekauert in seinem Schaukelstuhl und starrte sinnlos ins Leere. Paul konnte sich die Tränen nicht verkneifen und ihm rannen vor lauter Mitleid ein paar dicke Tropfen die Wangen hinunter. Ich muss ihm helfen, dachte er immer wieder, ich muss es einfach! Mal schauen ob Mama eine Idee hat, überlegte er und wischte sich die Tränen am Pulloverärmel ab. Aber ob Mama ihm auch weiterhelfen konnte, war die Frage. Sie fand nämlich, dass Gandalf ein ganz komisch-seltsam-merkwürdig-verkauzter alter Kauz war. Ja, genauso sagte sie das immer.

Als Pauls Mutter, am späten Nachmittag, endlich von der Arbeit Heim kam – sie arbeitete in einem Krankenhaus und musste daher sogar am Heiligen Abend »ranrauschen«, wie sie es formulierte, stürmte der Junge ihr sofort entgegen. »Mama, Mama, du musst mir unbedingt helfen«, rief er und zerrte seine Mutter zum Fenster. »Schau mal, wie traurig und alleine Gandalf in seinem Schaukelstuhl sitzt. Wir müssen was machen. Wir müssen ihm helfen! Hast du eine Idee?«

»Jetzt beruhig dich erst mal«, sagte Pauls Mama und strich ihrem Sohn vorsichtig über den Kopf. »Du bekommst ja kaum Luft beim Sprechen.« Sie warf ihre Haustürschlüssel auf das kleine Schränkchen im Flur. Dann sagte sie: »Weißt du, wir haben heute keine Zeit. Heute ist doch Heiliger Abend. Hast du das etwa vergessen? Wir müssen jetzt unsere Sachen packen und dann zu Tante Mira und Onkel Bernd fahren. Die warten doch schon auf uns und der Weihnachtsmann kommt doch auch noch vorbei und will …« Aber Paul ließ seine Mutter nicht ausreden. Enttäuscht rief er mitten in ihren Satz hinein: »Ach Mann«, und lief tränenüberströmt in sein Zimmer. Er hatte plötzlich gar keine Lust mehr zu den doofen Verwandten zu fahren und was der Weihnachtsmann wollte, war gerade auch überhaupt nicht wichtig. Viel lieber wollte er sich zusammen mit Mama, etwas Schönes für Gandalf ausdenken und den Weihnachtsabend mit dem einsamen Mann verbringen. Nachdem Mama sich schnell die Schuhe und die Jacke ausgezogen hatte, folgte sie ihrem Sohn ins Zimmer. »Paul«, meinte sie tröstend, »ich verspreche dir, dass ich dir helfe, sobald Weihnachten vorbei ist. Dann überlegen wir uns etwas Schönes für Gandalf, okay?«

»Aber Gandalf braucht jetzt unsere Hilfe, Mama, und nicht erst nach Weihnachten!«, rief Paul verzweifelt. »Er ist doch so allein!«

Mama zuckte nur mit den Schultern und wusste so gar nicht, was bloß in ihren Jungen gefahren war. Besorgt machte sie sich daran, die Sachen für den Heiligen Abend zu packen. Die Geschenke mussten in die Geschenkekiste und sie hatte ein paar schöne Weihnachtsschlemmereien gekocht und gebacken, die noch in Plastikbehälter gefüllt werden mussten, bevor es losgehen konnte. Außerdem hatte sie einen geheimnisvollen Zettel für den Weihnachtsmann vorbereitet, den dieser Paul unterm Weihnachtsbaum vorlesen sollte. Zum Schluss legte sie noch für sich selbst und für Paul feierliche Anziehsachen bereit, die sie noch in der letzten Nacht fein säuberlich gebügelt hatte. Was war nur plötzlich mit ihrem Jungen los, fragte sie sich und wusste keine Antwort. Ja, auch sie hatte sich schon so manches mal gefragt, wie es dem alten Mann von Gegenüber wohl so erging, aber Paul schien sich ja regelrecht in seine Idee, dem Alten helfen zu wollen, hineinzusteigern. Sogar auf dem Weg zur Bushaltestelle konnte Paul an nichts anderes denken und er schielte seine Mutter vorwurfsvoll und enttäuscht von der Seite an.

»Paul was ist denn mit los dir?«, fragte Mama deshalb, »Du guckst mich so komisch von der Seite an. Du hast dich doch so auf den Heiligen Abend bei Tante Mira und Onkel Bernd gefreut.« Doch der Sohnemann zuckte nur lustlos mit den Schultern, brummte etwas vor sich hin und setzte missmutig einen schleppenden Schritt vor den anderen. Na, das konnte ja ein tolles Fest werden…

Nach dem Weihnachtsessen saß Mama mit Tante Mira und Onkel Bernd noch lange am Tisch, während Paul im Nebenzimmer mit Arumabus, dem alten Kater von Tante Mira und Onkel Bernd spielte. Eigentlich wollten sie jetzt zur Bescherung übergehen. Die Geschenke lagen schon alle unter dem Tannenbaum bereit und der Weihnachtsmann würde schon ganz bald an der Tür klingeln. …

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.‹

(Prediger 3,1-4)

Unser ›Anders-Autor‹ Alexander hatte die Zeit nicht mehr, diese Geschichte zu beenden. Trotzdem haben sich der Verlag und seine Autorenkollegen entschieden, diese unvollendete Geschichte in die diesjährige Anthologie aufzunehmen. Es soll unsere Anerkennung ausdrücken, die wir alle darüber empfanden, dass er, obwohl er eben anders war und es schwerer hatte, es immer wieder geschafft hat, Geschichten und sogar sein Buch ›Manuel – das Anderskind‹ zu schreiben. Wer immer dieses Buch gelesen hat, kennt sein Schicksal, das ihn von Kindheit an begleitete und bedrohte. Dieses Mal hat er es leider nicht geschafft und deshalb wird die Geschichte unvollendet bleiben. Somit hat uns unser ›Anders-Autor‹ eine ›Anders-Geschichte‹ hinterlassen und es bleibt jedem Leser selbst überlassen, das fehlende Ende mit eigenem Inhalt zu füllen.


Claus Beese

Der Eingang zu der Höhle war riesig und gähnte ihn als gigantisches schwarzes Loch an. Zu groß für eine Bärenhöhle, aber selbst als Tor zu einer Drachenhöhle waren die Ausmaße reichlich dimensioniert. Zögernd blieb der Mann vor dem gähnenden Schlund in die Unterwelt stehen, fasste sein Schwert noch fester, sodass die Knöchel an seiner Hand weiß hervortraten. Welch ein Wahnsinn, sich mitten im Winter so weit im Norden auf ein solches Abenteuer einzulassen. Doch sprach nicht die Sage von einem gar holden Frauenzimmer, das seit langen Zeiten von einem monströsen Drachen hier gefangen gehalten wurde? Gerüchten zufolge sollte es eine Prinzessin sein, derer sich das geflügelte Ungeheuer bemächtigt hatte. Viele Jahre hatte er mit der Suche nach Details zum Standort der Drachenhöhle verbracht, war von Ort zu Ort gezogen und hatte die Bibliotheken vieler Klöster und Burgen besucht, und nun war er sich sicher. Dieses war der Ort. Die Größe des Höhleneingangs ließ nur einen Schluss zu, es musste der Eingang zur Drachenwelt sein, die sich hier im Untergrund unter dem ewigen Eis und Schnee der Arktis befinden musste.

Er tastete nach dem Kreuz unter seinem Umhang, fühlte die Kühle des Metalls, spürte das feste Band, an dem es um seinen Hals hing. Mit tastenden Schritten bewegte er sich vorwärts, hinein in die Dunkelheit, die ihn nach wenigen Schritten verschluckte. Er verspürte die aus dem Untergrund aufsteigende warme Luft, die jedoch merkwürdigerweise gar nicht nach Drachen roch. Der Duft erinnerte ihn an etwas aus seiner Kindheit, doch konnte er nicht sagen, woran. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, und all seine gespannten Sinne lauschten in den vor ihm liegenden, nach unten führenden Tunnel hinein. Sehr tief unter ihm schienen Geräusche zu sein, doch das Klirren seines Kettenhemdes und das Rascheln seines Umhangs übertönten alles. Er verhielt, doch war unmittelbar in seiner Nähe nichts zu hören. Er schien allein in dieser fremdartigen Welt, trotzdem war ihm, als würden tausend Augen ihn beobachten.

Ein Stück weiter unten durchdrangen seine Blicke die Finsternis, die lichter wurde, wie die Nacht, kurz bevor der Tag anbricht. Er meinte, huschende Schatten zu sehen, die vor ihm den Stollen kreuzten und in kleineren Gängen verschwanden. Waren das die Trolle, von denen die nordischen Sagen berichteten? Die vielleicht zusammen mit den letzten Drachen in der Unterwelt lebten? Alles, was er bei seinen Studien gelernt hatte, war, dass man nicht sicher wusste, welche von beiden Spezies gefährlicher war. Die Trolle sollten schon manchen Menschen verspeist haben, und die Drachen wurden vielleicht mit den Überbleibseln ihrer Opfer gefüttert. Er verfluchte seinen adligen Ritterstand, der es ihm gebot, edel und hilfreich allen geknechteten Menschen zur Seite zu stehen, also auch gefangenen Prinzessinnen.

In diesem Augenblick blendete grelles Licht auf, hunderte Fackeln entzündeten sich wie auf Kommando an den Wänden und erleuchteten den düsteren Stollen. Von weiter unten erklang Hufschlag, der sich rasch näherte. Dann verstummte er, und in der Luft lag ein hohles Sausen und Rauschen und eine tiefe Bassstimme rief:

»Hohoho, meine Rentiere, auf geht es! Die wunderbarste Nacht auf Erden bricht an und wir haben viel zu tun. He! Du da! Aus dem Weg, verdammt! Halte uns nicht auf!«

Ritter Arnhold fühlte sich von unzähligen Händen zu Boden gerissen und konnte vor wimmelnden Zwergen, die auf ihm lagen, kaum erkennen, wie ein von Rentieren gezogener Schlitten über ihn in Richtung Höhlenausgang hinwegbrauste. Kurz nur sah er den alten, weißbärtigen Mann im roten Mantel, der ihm freundlich zuwinkte.

»Hohoho, armer Ritter! Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest!«

Dann knallte ein zusammengerolltes Bündel, versehen mit einer roten Schleife, vor seine Brust, und Ritter Arnhold, der sich gerade erst mühsam aufgerappelt hatte, ging erneut zu Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen, alle Lichter erloschen, als würden alle Fackeln auf einmal ausgelöscht. Erneut ein Huschen, ein Flüstern und Wispern und leise tappende Schritte, die schnell in der Dunkelheit verklangen, und Arnhold war wieder allein. Erst nach einer geraumen Weile wagte er es, sich zu bewegen. Er tastete sich auf die Beine, stolperte aber bereits nach dem ersten Schritt über das flauschige Paket, das ihn schon einmal umgeworfen hatte. Der edle Rittersmann griff danach und tapste verstört bergan. Dort musste der Ausgang liegen. Er wankte auf den immer größer werdenden Ausschnitt von Sternenlicht zu, bis er unter dem weiten Sternenzelt des Polarhimmels in der Kälte stand. Der Nordstern leuchtete so hell, dass er sich problemlos das Bündel näher betrachten konnte. Er löste das Schleifenband und entrollte einen langen flauschigen Pelzmantel, der ihn auf dem Heimweg ausgezeichnet vor der beißenden Polarkälte schützen würde.

Im Mantel steckte ein Papier, und staunend las er:

›Werter Herr Ritter,

Sie sind zu spät gekommen, der letzte Drache starb schon vor vielen, vielen Jahren, und die einzige Prinzessin, die hier lebt, habe ich geheiratet. Sie ist meine Frau und möchte gar nicht gerettet werden.

Mit weihnachtlichen Grüßen – Santa Claus.‹

Arnhold drehte sich noch einmal um und schaute in den dunklen Schlund hinein. Nun erinnerte er sich an den Duft, den er aus seiner Kindheit kannte. Es roch nach frischem Gebäck und Tannengrün, nach Wärme und Geborgenheit, nach Liebe und Heiliger Nacht.