Handbuch des Strafrechts

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5. Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens

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Einen Versuch, diese (und andere) Zielkonflikte mit Hilfe eines Meta-Prozessziels aufzulösen, hat namentlich Schmidhäuser mit seinem vielfach (allerdings wohl nicht immer inhaltsgleich[33]) rezipierten[34] Begriff des Rechtsfriedens unternommen. In diesem sieht er ein „letztlich (…) übergeordnetes Ziel“, indem ein Zustand geschaffen werden soll, „bei dem sich die Gemeinschaft über den Rechtsbruch beruhigen kann“,[35] d.h. mit dem Prozessausgang „zu-frieden sein kann“. Dieses Ergebnis wird in der Literatur vielfach zumindest insoweit übernommen, als der Rechtsfrieden als ein Ziel des Strafprozesses genannt wird.[36] Jedoch werden daneben noch andere Prozessziele genannt, und nicht zuletzt aus diesem Grund entsteht bei vielen Autoren der Eindruck, dass unter dem Begriff des Rechtsfriedens „nur“ die (von Schmidhäuser ja gerade nicht damit gleichgesetzte, vgl. o.) Rechtssicherheit gemeint wird.[37] Damit aber weichen – selbst bei Übernahme des Schmidhäuser’schen Begriffs – diese Autoren augenscheinlich vom offensichtlich wichtigen Grundgedanken ab, dass der Rechtsfrieden gerade andere Prozessziele mehr oder weniger aus- (bzw. ein-) schließt, da es eben nur ein letztes und eigentliches bzw. in den Worten Schmidhäusers: „letztlich (. . .) übergeordnetes Ziel“ geben könne.

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Ein wirklich operabler Ansatz ist damit freilich nicht geschaffen. Denn weil der „Rechtsfrieden“ in diesem Sinne kaum als empirisch-gesellschaftlicher Zustand, sondern als normative Größe verstanden werden muss, ist er letztlich von einer Abwägung abhängig, in die gerade die widerstreitenden Begriffe bzw. Interessen einbezogen werden müssen. Die Bezeichnung eines so gefundenen Ergebnisses als „Rechtsfrieden“ ist zwar plakativ, bringt aber keinen wirklich neuen Erkenntniswert. Vielmehr ist sie sogar geeignet, unbestreitbare Zielkonflikte innerhalb des Verfahrens zu camouflieren. Darüber hinaus ist aber die Bestimmung eines einzelnen, allen anderen übergeordneten Prozesszieles auch nicht erforderlich, da in vielen juristischen Bereichen allgemein anerkannt ist, dass es Zielkonflikte geben kann und dass zwischen verschiedenen Rechtsgütern eine Abwägung stattfinden und letztlich eine praktische Konkordanz hergestellt werden muss. Hierbei sieht man nicht das Ergebnis der praktischen Konkordanz (oder abstrakt diese selbst) als höheres Gut oder als Synthese der antinomischen Werte auf höherer Stufe; sondern die wechselseitigen Begrenzungen werden als bereits immanent angelegte Schranken der jeweiligen Rechtsgüter selbst betrachtet. Auch lassen sich aus einem Verfahrensziel „Rechtsfrieden“ keine verbindlichen Anhaltspunkte dafür gewinnen, wie im Einzelfall die Abwägung zwischen „Gerechtigkeit“ und „Rechtssicherheit“, zwischen „Wahrheit“ und „Persönlichkeitsschutz“ etc. ausfällt.[38] Die Abwägung muss vielmehr ausgehend von den widerstreitenden Begriffen in einem methodisch korrekten Vorgehen erfolgen. Bezeichnet man dann das so gefundene Ergebnis als „Rechtsfrieden“, mag das den Vorteil eines schlagkräftigen Namens für den Vorgang haben, bringt aber keinen neuen Erkenntniswert. Entscheidend sind vielmehr die konkreten Forderungen, die aus der Interessenabwägung abgeleitet werden.

III. Ziele, Zwischenziele und Zielkonflikte

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Mithin erscheint insgesamt vorzugswürdig, ein zentrales Ziel des Strafprozesses (als Institution) in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts zu betrachten, welche freilich bereits mit bestimmten prozessualen Vorwertungen aufgeladen ist. Ein wichtiges Zwischenziel hierzu ist die Wahrheitsfindung (welche ihrerseits normativ etwa durch Persönlichkeits- und Gestaltungsrechte der Beteiligten beschränkt ist). Soweit die Regelungen des verwirklichten materiellen Rechts abstrakt betrachtet „gerecht“ sind, dient die Durchsetzung des materiellen Strafrechts auch dieser Gerechtigkeit. Gleichsam als Reaktion auf die mit der Wahrheitsfindung und Rechtsdurchsetzung notwendigerweise verbundenen Belastungen für den Bürger auch schon vor Abschluss des Verfahrens (und damit noch zur Zeit der Geltung der Unschuldsvermutung) beinhaltet das Strafprozessrecht verschiedene Schutzmechanismen. Da die prozessualen Regeln mithin einerseits der Verwirklichung der Ziele und Zwischenziele des Strafverfahrens als Institution dienen, andererseits aber auch gerade den damit verbundenen Gefahren entgegenwirken, kann eine einheitliche Zielvorgabe für den durch das Strafverfahrensrecht geprägten Strafprozess nicht formuliert werden.

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Diese verschiedenen Ziele können nun in unterschiedlichem Verhältnis zueinanderstehen, je nachdem, ob sie in die gleiche Richtung weisen, sich gegenseitig Grenzen setzen oder in sonstiger Abhängigkeit zueinanderstehen: Soweit zwei festgestellte Zwecke in dieselbe Richtung weisen bzw. das Erreichen eines Ziels Voraussetzung für das Erreichen des nächsten ist, könnte man von „Zwischenzielen“ sprechen. Anschauliches Beispiel ist – wie bereits erwähnt – die Wahrheitsfindung im Strafprozess: Sie ist kein Selbstzweck, sondern jedenfalls grundsätzlich Voraussetzung für ein gerechtes Urteil und die Verwirklichung des materiellen Strafrechts (zumindest innerhalb des konkreten Prozesses). Für eine konkrete prozessrechtliche Argumentation bringen damit solche „Zwischenziele“ zwar keine grundsätzlich neuen bzw. zusätzlichen Erkenntnisse, können diese aber erleichtern, weil sich etwa bestimmte teleologische Fragen präziser fassen lassen: Ob eine bestimmte prozessuale Maßnahme mit Blick auf die „Verwirklichung des materiellen Strafrechts“ geboten ist, mag im Einzelfall weniger evident zu beantworten sein, als ob sie der Wahrheitsfindung dient. Nicht weniger bedeutsam ist aber, dass das Strafverfahren und insbesondere das Strafverfahrensrecht auch durch diverse Zielkonflikte gekennzeichnet ist:[39] Exemplarisch genannt seien (teils wiederholend, teils ergänzend) nur (Einzelfall-) Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Wahrheitsermittlung und Persönlichkeitsrechtsschutz oder Wahrung der Verhältnismäßigkeit und Gleichheit der Rechtsanwendung.

C. Stellung des Strafprozessrechts im Gesamtgefüge der Rechtsordnung

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Die Stellung des Strafprozessrechts im Gesamtgefüge der Rechtsordnung vollständig zu beschreiben, wäre eine – zumal auf dem vorliegenden begrenzten Raum – unlösbare Aufgabe, da dazu erst einmal dieses Gesamtgefüge überblickt und skizziert werden müsste. Vielmehr muss sich eine solche Betrachtung auf wenige ausgewählte Bereiche der Rechtsordnung beschränken, deren Beziehungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Strafprozessrecht kurz dargetan werden können. Nahe liegen hier (notwendig letztlich willkürlich ausgewählt) Vergleiche mit dem bzw. Beziehungen zum


materiellen Strafrecht (da es um die materiellen und formellen Regelungen über den staatlichen Umgang mit solchen Taten geht, die als besonders gemeinschaftsschädlich erachtet werden) sowie zum
Zivilprozessrecht (als der prozessualen Schwester-Materie innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die rechtshistorisch wichtige gemeinsame Wurzeln mit dem Strafverfahren hat).

Ferner sollen einige Materien kurz angesprochen werden, die Ergänzungen bzw. Modifikationen zum strafprozessualen „Normalverfahren“ liefern.[42]

I. Strafverfahren und Verfassungsrecht

1. Bedeutung des Verfassungsrechts

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Nicht erst[43] unter der Geltung des Grundgesetzes wurde schon früh betont, dass das Strafprozessrecht „angewandtes Verfassungsrecht“[44] oder aber ein „Seismograph der Staatsverfassung“[45] sei. In eine ähnliche Richtung – allerdings mit eher kritischer Konnotation – geht es, wenn Arzt vom Strafprozessrecht als „Kolonie“ des Verfassungsrechts spricht.[46] All diese Metaphern belegen die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen – und zwar in verschiedenen Ausprägungen – für das Strafprozessrecht als einem Prototyp des staatlichen Eingriffsrechts mit besonders sicht- und greifbaren Grundrechtseingriffen.[47]

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Die Intensität dieser Diskussion und die starke verfassungsrechtliche Verankerung des Strafprozessrechts stärken vielfach die Beschuldigtenrechte, derer sich das BVerfG in zahlreichen Entscheidungen angenommen hat.[48] Die Wirkung ist aber durchaus ambivalent, da als ein mit verfassungsrechtlichen Weihen ausgestatteter Argumentationstopos umgekehrt auch die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ (vgl. näher unten Rn. 42) herangezogen wird, um Beschuldigtenrechte einzuschränken (bzw. zumindest um ihrer Erweiterung Grenzen zu ziehen). Auch erschweren die Auflösung der verfassungsrechtlichen Schranken in einfachgesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen auf der einen und die vom Verfassungsrecht her in das Strafprozessrecht diffundierende Abwägungshypertrophie zum anderen die Rechtsanwendung.[49]

 

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Anknüpfungspunkte für verfassungsrechtliche Überlegungen können sich im Einzelnen ergeben mit Blick auf


die Grundrechte (und zwar sowohl auf die „materiellen“ Grundrechte der Art. 1 ff. GG, insb. im Ermittlungsverfahren bei eingriffsintensiven Ermittlungsbefugnissen, als auch auf die sog. Verfahrensgrundrechte),
das Rechtsstaatsprinzip (dessen Ausprägungen den Grundrechtsschutz teils ergänzen, teils aber in Gestalt der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ auch Gegengewichte dazu bilden werden),
den Gesetzesvorbehalt (als weniger materiell als vielmehr formell ausgestaltete Grenze, nach h.M. freilich nicht in Gestalt des speziellen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 Abs. 2 GG, sondern „nur“ des allgemeinen Gesetzesvorbehalts für staatliche Grundrechtseingriffe) sowie auf
Verfahren zur Wahrung der Verfassung (die über die schon mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG auch von den Fachgerichten im Prinzip vollumfängliche Pflicht zur Berücksichtigung der Grundrechte hinausgehen).

2. Materielle Grundrechtsgarantien und Strafverfolgung

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Die „materiellen“ Grundrechte der Art. 1 ff. GG[51] sind insb. als Abwehrrechte gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und daher vorrangig (aber nicht nur, vgl. etwa unten Rn. 30 und 31) im Ermittlungsverfahren von Bedeutung. Die Grundrechte schützen hier all die Lebensbereiche, in welche der Staat im Rahmen seiner Ermittlungstätigkeit einzugreifen gezwungen sein kann. Eine detaillierte Darstellung der grundrechtsorientierten oder gar verfassungskonformen Auslegung der Eingriffsnormen[52] würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Als besonders wichtige Grundsätze gewissermaßen aus der umgekehrten Perspektive – d.h. nicht von der Befugnisnorm, sondern vom Grundrecht her gedacht – erscheinen aber die Folgenden erwähnenswert:

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a) Unter den zahlreichen – naturgemäß im Strafverfahren auch häufig nicht-offenen sowie nicht-konsensual erfolgenden – Eingriffen finden sich zwangsläufig auch solche, die mehr oder weniger deutlich menschenwürderelevant sind. Ebenso wie in anderen Bereichen bietet sich freilich auch hier an, die Menschenwürde nicht mit „zu kleiner Münze“[53] zu messen. Als menschenwürderelevant anerkannt ist aber etwa das Erfordernis, den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung[54] zu respektieren.[55]

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b) Ebenso wie in anderen Rechtsgebieten kommt auch im Strafprozessrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit – ggf. konkretisiert zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) – eine Auffangfunktion zu. Beispiele, in denen die Rspr. diese Position diskutiert hat, sind etwa die Beschlagnahme von Tagebuchaufzeichnungen (soweit nicht schon unter die Menschenwürde isoliert gefasst),[56] die Beschlagnahme einer Karteikarte über den Beschuldigten bei seinem Arzt[57] oder das Abhören von Selbstgesprächen im Krankenzimmer[58] oder in einem Pkw.[59] In neuerer Zeit wird hier auch das „Computergrundrecht“ auf Gewährleistung und Vertraulichkeit der Integrität informationstechnischer Systeme verortet.[60]

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c) Für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, die mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit verbunden sind, gibt es zwar in Gestalt von § 81a StPO eine Befugnisnorm. Sie sind jedoch immer in besonderer Weise an den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen. Bekannt sind hier etwa – auch das gesamte Spektrum an Eingriffsintensität abbildend – Entscheidungen zur Veränderung der Haar- und Barttracht,[61] zur Liquorentnahme[62] sowie zur Hirnkammerlüftung.[63] Insb. zu Ermittlungen in Betäubungsmittelsachen wurde lange Zeit der zwangsweise Einsatz von Brechmitteln diskutiert, welcher durch eine Entscheidung des EGMR im Jahr 2006 im Wesentlichen obsolet geworden ist.[64]

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d) Die Freiheit der Person ist im Strafverfahren thematisch das zentral einschlägige Grundrecht mit Blick auf das Haftrecht, in dem verfassungskonforme Auslegung und besondere Anforderungen von Verfassungs wegen eine besondere Rolle spielen.[65] Dabei wird Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG allerdings ganz maßgeblich durch die spezielleren Garantien des Art. 104 GG überlagert, vgl. auch Rn. 39.

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e) Die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) kann bei Durchsuchungs- oder Überwachungsmaßnahmen beeinträchtigt werden, wenn diese sich gegen Pressemitarbeiter richten und deren Recherchetätigkeit bzw. die Informantenermittlung zum Gegenstand haben. Das BVerfG hat hierzu etwa in seiner CICERO-Entscheidung ausgesprochen, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige dann verfassungsrechtlich unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu ermitteln.[66] Gerichtsverfassungsrechtlich kann die Pressefreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht der Beteiligten in einen Konflikt geraten, was die Auslegung der Reichweite insb. des § 169 GVG beeinflussen kann.[67]

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f) Gerade in der jüngeren Vergangenheit[68] von eminenter Bedeutung sind Probleme im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsgeheimnis des Art. 10 GG. Diese rühren daher, dass aufgrund veränderter technischer Möglichkeiten zum einen Umfang und Intensität der elektronischen Individualkommunikation massiv zugenommen haben und dass zum anderen selbst die nachträglich in die StPO eingefügten Vorschriften nicht immer mit der technischen Entwicklung Stand halten bzw. ihre Auslegung zumindest teilw. ungeklärt ist.[69] Nicht zuletzt durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG sind hierbei durch eine detailliertere und an Vorgaben des BVerfG ausgestaltete Gesetzesformulierung diverse verfassungsrechtliche Konflikte schon in das einfache Gesetzesrecht transportiert und zumindest für viele Fälle aufgelöst worden, einschließlich eines speziellen Rechtsbehelfs in § 101 StPO.

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g) Als praktisch höchst wichtige Ermittlungsmaßnahme greift die Durchsuchung nach §§ 102 ff. StPO regelmäßig in den Schutzbereich des Art. 13 GG ein. Die Anforderungen an solche Eingriffe und an die Anordnungen, insb. auch an die Feststellung der Gefahr im Verzug, sind Gegenstand reichhaltiger Rspr. des BVerfG.[70] Neben einem physischen Eindringen in die Wohnungen ist auch die akustische Wohnraumüberwachung am Maßstab des Art. 13 GG gemessen worden,[71] was die Auffassung des BVerfG, bei einer „Online-Durchsuchung“ sei regelmäßig Art. 13 GG nicht berührt, widersprüchlich erscheinen lässt.[72]

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h) Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz hat als solcher ein großes spontanes „Gerechtigkeitspotential“ und eine thematische Nähe zur Idee der „Waffengleichheit“, die grundsätzlich von Bedeutung für ein rechtsstaatliches Verfahren ist.[73] Freilich werden aufgrund der unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen Verfahrensbeteiligten nicht selten Differenzierungskriterien zu benennen sein, welche eine nicht-willkürliche Ungleichbehandlung ermöglichen. Der scheinbare Vorteil der Weite des Grundrechts führt als Kehrseite insoweit dazu, dass etwaige Verstöße auch weniger leicht „scharf gestellt“ werden können.

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i) Die die persönliche Lebensgestaltung in religiöser und familiärer Hinsicht schützenden Grundrechte aus Art. 4 und 6 GG wirken sich insb. im Zusammenhang mit den Zeugenpflichten (und damit nicht nur im Ermittlungsverfahren, sondern in gleicher Weise in der Hauptverhandlung) aus. Insb. eheliche und verwandtschaftliche Beziehungen sind bereits durch die Einräumung von Zeugnisverweigerungsrechten in §§ 52 ff. StPO berücksichtigt. Zeugnisverweigerungsrechte im Zusammenhang mit der Religionsausübung werfen insb. die Frage ihrer Reichweite auf, so etwa hinsichtlich des vom Zeugnisverweigerungsrecht noch umfassten Bestandteils der Dienstausübung eines Gefängnisseelsorgers[74] oder hinsichtlich der Reichweite des Seelsorgerprivilegs bei Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Yeziden.[75]

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j) Eingriffe in die Berufsfreiheit (und hier insb. mit der für eine Beeinträchtigung des Art. 12 GG erforderlichen objektiv berufsregelnden Tendenz[76]) kommen v.a. gegenüber dem Verteidiger in Betracht, wenn prozessuale Maßnahmen unmittelbar an seine berufliche Tätigkeit anknüpfen. Dies ist immer dann der Fall, wenn es um Bestellung oder auch um Entpflichtung des Verteidigers (insb. gegen seinen Willen) geht,[77] aber auch im Zusammenhang mit dem Umgang mit dem Beschuldigten, etwa bei der Überwachung von Briefverkehr[78] oder der Telekommunikation zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger.[79]

3. Verfahrensgrundrechte im Strafprozess

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Das Grundgesetz enthält auch eine Reihe von Rechtsgewährleistungen des Bürgers gegenüber der Justiz. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Verfassungsbeschwerdefähigkeit werden diese als „Justizgrundrechte“ bezeichnet und gelten (nicht nur, aber selbstverständlich auch und) teilweise sogar exklusiv im Strafverfahren. Die wahrscheinlich wichtigste spezifisch strafrechtliche Garantie in Gestalt von Art. 103 Abs. 2 GG betrifft zwar das materielle Recht; doch andere ebenfalls wichtige Garantien haben das Verfahren(srecht) im Blick:[80]

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a) Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) soll Eingriffe unbefugter Dritter in Gerichtsverfahren verhindern[81] und außerdem dadurch, dass die Entscheidungszuständigkeit bereits ante casum feststeht, dafür sorgen, dass sowohl der Betroffene als auch die Öffentlichkeit grundsätzlich in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit des Gerichts vertrauen können. Die Garantie gilt nicht nur hinsichtlich des zuständigen Gerichts (als übergeordnete Organisationseinheit), sondern auch für die Festlegung des konkreten Spruchkörpers bis hin zu der darin tätig werdenden konkreten Person.[82] Die hervorgehobene Bedeutung des gesetzlichen Richters erhellt etwa daraus, dass Besetzungs- und Zuständigkeitsverstöße nach § 338 Nr. 1 und 4 StPO als absolute Revisionsgründe geltend gemacht werden können. Spezifisch verfassungsrechtlich ist freilich zu beachten, dass Zuständigkeitsmängel, die auch zu einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG führen, in Abgrenzung von bloßen „errores in procedendo“ nur bei willkürlicher Verkennung der Zuständigkeit vorliegen.[83]

 

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b) Als weitere zentrale Garantie stellt sich der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG dar. Die Bedeutung ergibt sich auch daraus, dass die Rüge seiner Verletzung bei erfolgreichen Verfassungsbeschwerden eine durchaus exponierte Position einnimmt bzw. eingenommen hat.[84] Die Garantie des rechtlichen Gehörs wird traditionell weit verstanden und mit gewissen „Vor- und Nachwirklungen“ neben dem eigentlichen Äußerungsrecht bedacht, so dass davon auch ein Anspruch auf Information als Grundlage einer effektiven Äußerung, ein Recht zur Äußerung selbst sowie ein Anspruch auf Beachtung der Äußerung geschützt ist[85] (auch wenn das BVerfG insb. mit Blick auf diesen letztgenannten Gesichtspunkt betont, dass Art. 103 Abs. 1 GG keinen „Anspruch auf ein Rechtsgespräch“ gewähre[86]). Vor dem Hintergrund dieses weiten Verständnisses der Vorschrift stellen etwa die §§ 226, 230, 239, 243 Abs. 4, 257 oder 258 StPO ebenso wie das Beweisantragsrecht oder das Dolmetschererfordernis des § 185 GVG Ausprägungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar.[87]

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Grenzen dieser (durch §§ 33, 33a, 311 und § 356a StPO auch einfachgesetzlich abgesicherten) Garantie ergeben sich zunächst daraus, dass insb. der Angeklagte nur die Möglichkeit haben muss, sich zu äußern, Entscheidungen aber auch getroffen werden können, wenn er sich dieser Möglichkeit mutwillig verschließt. Des Weiteren ergibt sich schon aus der Natur der Sache, dass bei zumindest vielen strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen eine vorherige Anhörung des Betroffenen nicht möglich ist, so dass die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. nochmals § 33a StPO) ausreichend sein muss. Demgegenüber sind – insbesondere gesetzlich nicht vorgesehene[88] – Einschränkungen durch richterliche Anordnungen in der Hauptverhandlung zumindest problematisch und bedürfen einer genauen Überprüfung und Begründung.

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Gewisse Berührungspunkte und damit Abgrenzungsprobleme zum Anspruch auf rechtliches Gehör bestehen zur Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Da dieser grundsätzlich nur den Rechtsweg zum, nicht gegen den Richter eröffnet, ist er originär insb. dort von Bedeutung, wo auch im Strafprozessrecht – generell oder bei Gefahr im Verzug – belastende Maßnahmen durch nicht-richterliche Personen angeordnet werden dürfen. Freilich entnimmt das Verfassungsgericht der Vorschrift auch die Garantie, dass bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten durch den Bürger ausgenutzt werden können. Das kann etwa einen zu engen Begriff vom bestehenden Rechtsschutzbedürfnis verbieten[89] und Einfluss auf die Gestaltung der Rechtsbehelfsbelehrung haben.[90]

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c) Im Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit enthält der Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) eine Entscheidung für die Rechtssicherheit und verbürgt sogleich ein subjektives Recht des Einzelnen, nicht wegen einer Straftat (d.h. wegen derselben Tat im prozessualen Sinne[91]) wiederholt zur Verantwortung gezogen zu werden.[92] Dabei statuiert Art. 103 Abs. 3 GG nach ganz h.M. nicht nur ein Verbot der „Doppelbestrafung“, sondern – vorbehaltlich der engen Möglichkeiten einer Wiederaufnahme nach § 362 StPO – ein weitergehendes Verbot der nochmaligen Befassung nach einem Sachurteil (also auch der späteren Verfolgung nach einem rechtskräftigen Freispruch).[93] Soweit darüber hinaus auch bei anderen Entscheidungen im Verfahren (etwa in Fällen des § 153a oder des § 211 StPO) ein teilweiser Strafklageverbrauch angenommen wird, dürfte dieser nicht durch Art. 103 Abs. 3 GG abgesichert sein. Auch die Anwendung auf den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts dürfte jedenfalls als strenge verfassungsrechtliche Garantie mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift abzulehnen sein (was einen Rückgriff auf allgemeine Vertrauensschutzgedanken nicht ausschließt). Auch gilt die Garantie des Art. 103 Abs. 3 GG selbst nur national, so dass für im Ausland erlittene Strafhaft eine Lösung auf Vollstreckungsebene über eine Anrechnung auf die in Deutschland zu verhängende Strafe (vgl. § 51 Abs. 3 StGB) gefunden werden muss. Auf europäischer Ebene finden sich freilich Erweiterungen insb. in Art. 54 SDÜ[94] bzw. Art. 50 EuGrCh.

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d) Art. 104 GG sichert als grundrechtsgleiches Recht bestimmte prozessuale Voraussetzungen bei Eingriffen in die Freiheit der Person und stellt insoweit ein formelles Gegenstück zur materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar.[95] Gefordert werden ein förmliches Gesetz als Befugnisnorm (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) und die Entscheidung eines Richters (Art. 104 Abs. 2, 3 GG), über die grds. ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist (vgl. Art. 104 Abs. 4 GG). Die strafprozessuale Bedeutung der Vorschrift liegt naturgemäß vornehmlich im Haftrecht.