Hardcore von Herzen

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Hardcore von Herzen
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Annie Sprinkle


HARDCORE VON HERZEN



Herausgegeben von Gabrielle Cody


Aus dem Englischen
von Conny Lösch



Edition Nautilus

Editorische Notiz: Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 2001 bei The Continuum International Publishing Group New York / London unter dem Titel Hardcore from the Heart. The Pleasures, Profits and Politics of Sex in Performance.




Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Alte Holstenstraße 22 · D-21031 Hamburg © 2001 by Annie Sprinkle und Gabrielle Cody © für die deutsche Ausgabe Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg 2003 Umschlaggestaltung: Maja Bechert Foto: © Eric Kroll, www.fetish-usa.com 1. Auflage 2004 www.edition-nautilus.de

1 2 3 4 5 · 08 07 06 05 04

ISBN 3-89401-444-X

Inhalt

Heilige dicke Riesentitten Von Gabrielle Cody

AKTIONEN, RITUALE, PERFORMANCES

Strip Speak: Schwester Sprinkles Sex-Unterricht

Metamorphosexuelles Schlammbadritual: Eine private Performance

MetamorphoSex

Frieden im Bett

Liberty Love Boat

Annie Sprinkles »Herstory of Porn«

PORNOGRAPHOS: SCHRIFTEN EINER PROSTITUIERTEN

Meine zärtlichen Zusammenstöße mit dem Gesetz

Du bist einen weiten Weg gekommen: Zwölf Schritte zur Heilung von Burnout bei Sexarbeiterinnen

INTERVIEWS: EIN BEWEGLICHER FEIERTAG

Annies Frühstück mit Veronica Vera: Die Kunst der Sexarbeit

Lunch im Art/Life Institute: Eine Unterhaltung mit Linda M. Montano, Barbara Carrellas und Gabrielle Cody

Essen mit Richard Schechner und Gabrielle Cody: Sie wollte ein besseres Leben

Annies Dessert mit Mae Tyme, einer Feministin aus der Anti-Porno-Bewegung

Gabrielles Mitternachtsimbiß mit Monika Treut

OUTRO

Ooouuuhhh, Frau Professor, ich liebe es, wenn Sie so akademisch sind Nachwort von Rebecca Schneider

Danksagungen

Ausgewählte Performances, Filmografie und Bibliografie

In liebevoller Erinnerung an Lynda Lee Hart (1953-2000)

»Brich dein Herz nicht länger. Jedesmal wenn du dich richtest, brichst du dir dein Herz. Du nährst dich nicht mehr von der Liebe, die der Quell deiner Lebenskraft ist. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, deine Zeit, zu leben, zu feiern und die Güte, die du bist, zu erkennen. In dir ist nichts Falsches und auch in niemandem sonst. Es gibt nur den Gedanken daran und der Gedanke hat keine Substanz. Du bist wertvoll, göttlich und sehr sehr rein. Erlaube niemandem, nichts, keinem Ideal und keiner Idee, dir im Wege zu stehen. Wenn einer kommt, selbst im Namen der Wahrheit, vergib dem Gedanken, denn er ist unwissend. Kämpfe nicht dagegen an, laß los und atme die Güte, die du bist.«

Kirpal Venanji




Heilige dicke Riesentitten
Von Gabrielle Cody


»Man kann einen Gebärmutterhals nicht entmystifizieren.«

Annie Sprinkle


»Als Performance-Künstlerinnen haben Prostituierte nicht nur die Grenzen der akademischen und nicht-akademischen Öffentlichkeit gesprengt, indem sie das Pornografische und das Karnevaleske in diese Bereiche trugen, sondern sie haben damit auch eine neue soziale Identität hervorgebracht – die Prostituierte als sexuelle Heilerin, Göttin, Lehrerin, politische Aktivistin und Feministin – eine soziale Identität, deren Genealogie bis zur heiligen Prostituierten aus alter Zeit zurückverfolgt werden kann.«

Shannon Bell


Als kleines Mädchen lebte ich mit meinen Eltern im MaraisViertel in Paris. Die Straße, in der wir wohnten, die Rue des Rosiers, war berühmt. Eine Art inoffizielles Mahnmal für tausende von Juden, die während der Besatzung deportiert wurden, die man mitten in der Nacht, verraten von ihren nicht-jüdischen Nachbarn, ihrem Zuhause entriß. Inzwischen aber – abgesehen von den Goldenbergs an der Ecke und dem Tempel an der Rue Malar – säumten pikant duftende türkische Bäckereien und kleine, von Algeriern geführte Obstläden die Straßen des Viertels. Zufällig war die Rue des Rosiers auch eine beliebte Durchgangsstraße für die Damen der Nacht, die in den frühen Morgenstunden mit einem oder zwei Baguettes unter dem Arm von der Arbeit nach Hause gingen.

In meiner dunkelblauen Uniform, mit meinen blonden Zöpfen, die unter einem dicken Mantelkragen hervorlugten, und meiner vollgestopften Schultasche auf dem Rücken wurde ich auf meinem täglichen Weg zur Metrostation St. Antoine zu einem unauffälligen Teil des morgendlichen Treibens. Das kleine katholische Mädchen hatte nun, besonders an grauen Wintermorgen, die Aufgabe, möglichst unsichtbar, dafür aber schnurstracks auf die sicheren, warmen, rauchigen Treppenstufen der Metrostation zuzugehen und die Sticheleien der aus dem gesamten Maghreb nach Frankreich ausgewanderten Straßenkehrer zu ignorieren. Wenn sie nicht gerade die Rinnsteine der Stadt sauber hielten, lebten diese Männer, die seit Jahren von ihren Familien getrennt waren, dicht gedrängt wie die Sardinen unter den Wellblechdächern der Bidonvilles, den Elendsquartieren rund um Paris.

An einem solchen Morgen hörte einer dieser Männer auf zu fegen. Er sah mich durchdringend an und grabschte mir unbeholfen an die noch ungeformten, uniformierten Brüste. Genau in dem Augenblick mischte sich eine Frau ein. Sie sprach sehr ruhig. Sie erklärte dem Mann, daß sie für so etwas zuständig sei. Araber oder nicht, Jude oder nicht, arm oder nicht, sie sei dafür zuständig, und er solle das Mädchen in Ruhe lassen. War denn nichts heilig? Sie nahm meine Hand und brachte mich zur Metrostation. Das war meine erste Begegnung mit der Ethik der Prostitution. Für mich, die ich auf dem Weg in die Klosterschule war.

Jahre später hörte ich an einer amerikanischen Universität etwas über eine Aktivistin und Sex-Arbeiterin, die Performancekünstlerin geworden war, Leute aufforderte, mit einer Taschenlampe ihren Gebärmutterhals zu betrachten und die »Post-Porno«-Spaßpostkarten verkaufte. Ich gestehe, daß ich mich sofort an die Frau erinnerte, die sich für mich eingesetzt und den armen Straßenkehrer halb zu Tode erschreckt hatte.

Aber irgendwie schämte ich mich auch dafür, daß ich so viele Jahre lang das Klischee der »Nutte mit dem goldenen Herzen« als liebste Kindheitserinnerung mit mir herumgetragen hatte. Bis ich Annie Sprinkle traf.

Annie hat mir, unter anderem, beigebracht, daß Autobiografien nicht nur kreativ, sondern auch metaphorisch und transformativ sind. Die Antwort auf Klischees sind nicht keine Klischees, sondern bessere Klischees, dekonstruierte Klischees, rekonstruierte Klischees, performative Klischees. Kurz gesagt, Klischees, die sich nicht vor der eigenen Vergangenheit fürchten. Die französische Definition von Klischee ist anders als viele entlehnte Worte, die sich rasch in unzeitgemäßes Material verwandeln – malaise, soupcon, frisson –, kaum negativ besetzt: »Erfahrung, Bild, Negativ, Film, Prototyp.«1 Annie arbeitet mit und durch die verworfenen Verheißungen ihrer Lebenserfahrung im dialektischen Raum ihres Wandels von der Hure und Porno-Königin zum ehemaligen Mainstream-Pornostar, zur Post-Pin-Up-Fotografin, zur Aktivistin für die Rechte von Sex-Arbeiterinnen, transmedialen Künstlerin und lesbisch-feministischen Meerjungfrau. Durch diesen Prozeß zeigt sie auch, daß es nicht nur eine Klasse von Frauen gibt. Zu den Herausforderungen und dem Vergnügen, die Annies Arbeiten bereiten, gehört auch, daß sie theoretisch anspruchsvoll ist, ohne aber den Anschein zu erwecken. Sie verkörpert Theorie.

 

Ihre Souvenir-Postkarte mit Selbstporträt und dem Titel »Anatomie eines Pin-Ups« ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Das Bild zeigt Sprinkle als Call-Girl im schwarzen Korsett mit Strapsen und hohen Absätzen, das mit angehaltenem Atem darauf wartet, ihrem Kunden zu Diensten sein zu dürfen. Aber der Witz geht auf Kosten des Betrachters. Das selbst-inszenierte Bild von Sprinkles verschwenderischem Dekolleté und ihrer anzüglichen Sexiness ist umgeben von graffiti-artigen, handschriftlichen Dementi wie »Brüste sind echt, aber sie hängen. BHs heben Brüste« oder »Eingeschnürte Lungen, ich kriege keine Luft« oder auch, »Meine Füße bringen mich um«. Wie Shannon Bell erklärt, zeigt »Annie (…) die Verbindung zwischen allen Frauen und weiblichen Pornostars und der Präsenz jeder einzelnen im selben Körper …«2 Ihre Dekonstruktion der Maskerade von Weiblichkeit und der Inszenierung von Verführung zeigt, daß es im Warenkapitalismus keine privaten Frauen gibt.3

Annie weist Herrschaft auf vielerlei Weise zurück. Mit ihren Auftritten imitiert sie die direkte, teilweise improvisierte Art, das Publikum anzusprechen, wie sie sie selbst in den Varietétheatern praktiziert hat. Gleichzeitig verweist sie aber auch auf die Hyper-Intimität der kommerziellen Verführung. Wir werden ständig an unsere Position als Konsumenten erinnert. Wir werden sogar als solche erst konstruiert. Annies para-theatralische Einwürfe lassen an Jahrmarktstände beim Karneval denken. Für ihre Fans sind es Gelegenheiten – im Sinne des »carne-vale« – Annies Körper aufzuwerten, indem sie ein »Titten auf dem Kopf«-Polaroid von sich machen lassen, ihre Köpfe eingerahmt von Annies kokosnußgroßen Brüsten, oder indem sie eines der vielen Sprinkle-Souvenirs in Form einer Pornogebetskerze, Gebärmutterhalsknöpfe, Postkarten, Pornovideos, Bücher oder Tittenbilder erstehen. Stets zwinkert uns Annie zwischen diesen selbst hergestellten Totems zu. Mit Ironie, Pastiche und einer ungerührten politischen Zweideutigkeit verkörpert Annie die Grundlagen der Postmoderne. Ihre zahlreichen öffentlichen Rollen stehen beispielhaft für das »gespaltene« Subjekt der Postmoderne und dieser Standpunkt zeigt sich nirgendwo ausgeprägter als in Annies kategorischer Weigerung, sich von Feministinnen aus der Anti-Pornografie-Bewegung in die stereotype Rolle des Opfers pressen zu lassen. Mit ihren Auftritten und ihrem radikalen Sex-Aktivismus zelebriert sie den experimentellen, psychisch riskanten, aber unweigerlich instabilen Charakter der Identität. Ihr Verständnis der anderen ist ebenfalls von dieser Vorstellung durchdrungen. Sie behauptet trocken: »Ich finde, Andrea Dworkin ist eine hervorragende Performance-Künstlerin.«4

Der Titel ihrer Autobiografie Post-Porn Modernist: My 25 Years as a Multimedia Whore sagt bereits alles über ihre Selbstwahrnehmung als dialektisches Bild – als Ware und Verkäuferin – und ihre Anerkennung der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Kunst und Pornografie, zwischen Selbstermächtigung und Objektwerdung, sowie der disneyartigen Performativität des marktförmigen Konsums. Wir alle sind Huren, scheint der Titel anzudeuten, aber ein paar von uns haben mehr Spaß dabei. In wahrhaft postmoderner Manier zeigt sich Annie auf dem grellbunten Umschlag in einem limettengrünen Tutu und mit Häschenohren, in denen sie wie Lily Tomlin als böse Prom Queen auf dem Abschlußball wirkt. Sie winkt mit einem Zauberstab in der einen Hand und kneift sich verspielt mit der anderen in die linke Brustwarze. Wie bei ihren Live-Auftritten scheint sie die fleischlichen Exzesse und die künstliche Ästhetik eines John Waters-Films zu übernehmen, präsentiert sich auf dem Cover als magische Hure in üppiger Verpackung, obwohl sie mit einem Großteil des Textes die Sakralität tantrischer New-Age-Praktiken heraufbeschwört. Und genau darum geht es. Das Zitat von Frank Zappa über dem Buchtitel läßt mit ironischer Eloquenz den Eindruck entstehen, daß »Amerika durch ihre Bemühungen ein besseres Land geworden ist«. Und tatsächlich, Annie ist ein nationales Gegenkulturgut, deren »Bemühungen« die der avantgardistischen Kunst selbst sind. Der Performancekünstler Frank Moore macht dies deutlich: »Avantgardistische Kunst ist die Art, wie eine Gesellschaft träumt, es ist die Art, in der eine Gesellschaft ihre Freiheit erweitert und gefahrlos das Verbotene erkundet, um gelassener zu werden. Die Gesellschaft braucht ihre Traumkunst, so wie jeder Einzelne träumen muß, damit er nicht verrückt wird.« 5

Das Mädchen von nebenan

Annie Sprinkle – geboren als Ellen Steinberg – ist der Name, den sie in ihrer Golden Shower-Zeit als Pinkel-Künstlerin in einer dem Dadaismus verpflichteten Tradition annahm. Annie gibt an, ihrem Mentor Willem de Ridder, einem Gründungsmitglied der europäischen Fluxus-Bewegung, sei das Verdienst zuzuschreiben, sie ermutigt zu haben, mit Veranstaltungen oder Performance-Auftritten zu experimentieren und Kunst und Pornografie zu verbinden. Laut Annie waren ihre ersten Bühnenshows oder Happenings die Sketche, die sie Ende der 70er Jahre mit de Ridder aufführte. Später entstanden daraus die gespielten Dialoge Strip Speak und Nurse Sprinkle’s Sex Education Class oder das Peace in Bed-Happening, das sie mit ihrer Ehefrau Kimberly Silver in Australien und anderswo inszenierte, wobei sie Angehörige der Presse zu aktiven Teilnehmern machte. In jüngerer Zeit taten sich Annie und andere Sex-Aktivistinnen und Performance-Künstlerinnen auf dem Liberty Love Boat zusammen – einer kollektiven Kunstaktion, mit der sie gegen die anti-kommerziellen Sexgesetze des New Yorker Bürgermeisters Giuliani demonstrierten.

Aber Annie ist in allererster Linie eine Geschichtenerzählerin und ihr Körper ist ihr Text. So wie sie die Geschichte erzählt, begann sie ihre Entwicklung von der schüchternen Ellen Steinberg zum Pornostar Annie Sprinkle im Alter von siebzehn Jahren. Ellen, die gerade ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, verließ ihre Familie im vorstädtischen Süd-Kalifornien und ergatterte einen Job im Plaza Cinema in Tucson, Arizona. Dort verkaufte sie während der Vorführungen eines der erfolgreichsten Pornofilme der 70er Jahre, Deep Throat von Gerard Damiano, für 4.75 Dollar die Stunde Popcorn – bis das Kino von der Polizei durchsucht und geschlossen wurde. Im Anschluß an ihren Job im Plaza bediente Ellen die Telefone des North Star, einem Wohnwagen mit drei Schlafzimmern, der ein »Ganzkörper«-Massage-Unternehmen beherbergte. Annie begriff bereits am ersten Nachmittag, welche Tätigkeiten sich in diesem Business am besten bezahlt machten. Ellen aber verstand erst sehr viel später, welche gesellschaftlichen Sanktionen mit ihrer lukrativen und vergnüglichen Arbeit einhergingen. Annie formuliert es folgendermaßen: »Ich hatte bereits gute zwei Monate als Prostituierte gearbeitet, bevor mir das klar wurde! Als es mir endlich aufging … gefiel mir die Vorstellung. Es war ganz und gar nicht der Alptraum, den man im Fernsehen oder in den Filmen zu sehen bekommt.« 6

An anderer Stelle greift sie die prüden Vorstellungen von Prostitution an. Sheila Marie Thomas erklärt: »Sprinkle gelangte auf indirektem Wege zur Prostitution und unterlief so deren Macht. Anstatt bewußt für Geld Sex mit Fremden zu haben, hatte sie zum Spaß Sex mit ihnen. Als ihr klar wurde, daß ihre Handlungen sie in den Augen der Gesellschaft zur Hure machten, entschied sie sich, diese Rolle aktiv zu übernehmen. Im Moment der Erkenntnis behauptete sie diese Rolle als eigene Identität und sagt, ihr gefiel die Vorstellung, sich selbst als Nutte zu bezeichnen.« 7

Ihre Identität als Hure begann mit einer Performance. Linda Williams erläutert, daß es sich bei Sprinkles Prostitution auch um eine Form der Handlungsermächtigung handelt: »In diesem ersten Fall einer sexuellen Leistung, durch die (Sprinkle) zunächst nicht und dann doch als Hure bezeichnet wurde, liegt die Entdeckung einer handelnden Subjektivität, die dem sie konstruierenden Diskurs nicht entgegengesetzt, sondern in ihm verwurzelt ist. Ihre Ermächtigung als handelndes Subjekt besteht sozusagen darin, daß ihr durch die Wiederholung der sexuellen Leistung, zunächst umsonst, dann für Geld, klar wird, daß der Begriff Hure die Person, die sie ist, nicht vollständig beschreibt. Annie Sprinkle leugnet weder, daß sie eine Hure ist, noch bekämpft sie das System, das sie so nennt.« 8

Aber Marla Carlson behauptet völlig zu Recht, daß Williams »Sprinkles rhetorische Konstruktion ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht ausreichend berücksichtigt. (Williams) behandelt die Geschichte als Darstellung von Sprinkles Erfahrung. Als Darstellung klingt sie nicht glaubhaft. Als Performance jedoch bewirkt sie eine Transformation.« 9


Annie bei einem ihrer zahlreichen Auftritte als Schwester Sprinkle – hier bei einer Benefizveranstaltung für den Performance Space 122 in New York. Foto: © Dona Ann McAdams

Wie Genet, der sich laut Sartre der bürgerlichen Moral entzog, indem er den Status des Dieb/Homosexuellen und Heiligen auslebte – und so seine eigene Kriminalität umkehrte, indem er sie »in Besitz« nahm –, war auch Annies Hurentum eingefärbt von einer psychedelischen Form der politischen Communitas, dem zivilen Ungehorsam einer Gegenkultur zur Hochzeit der sexuellen Revolution in den 70er Jahren. Die Geschichte ihrer Ankunft in New York sechs Monate nach der erzwungenen Absetzung von Deep Throat ist so bizarr wie der Film selbst. Annie wurde als Zeugin bei Gericht vorgeladen, wo man sie aufforderte, ihre Arbeitgeber zu identifizieren. Während der Verhandlung lernte sie Damiano und Linda Lovelace kennen, die Filmheldin, deren Klitoris sich magischerweise in ihrer Kehle befindet. Sprinkle erinnert sich, Damiano gebeten zu haben, ihr die »deep throat«-Technik beizubringen und sie folgte ihm nach Manhattan. In ihrer Lehrzeit lernte sie allerdings mehr als nur jemandem perfekt einen zu blasen.

In New York wurde Sprinkle Lehrmädchen in den Kirt Studios, einer Low-Budget-Hardcore-Spielfilmfabrik. Obwohl sie das Angebot, in Leonard Kirtmans Filmen mitzuspielen, zunächst ablehnte, weil sie, wie sie sagt, »dachte, daß ich eines Tages vielleicht Kunstlehrerin werden wollte« 10, war sie es schließlich doch bald leid, hinter der Kamera zu arbeiten. Mitte der 70er Jahre spielte sie Hauptrollen in über hundert Pornofilmen mit solch plastischen und inzwischen auch kitschig klingenden Titeln wie Teenage Masseuse, Centerfold Fever, Wet Christmas, Slippery When Wet, Teenage Deviate, Kneel before Me und The Devil Inside Her. Außerdem arbeitete sie als Pin-up-Model für Stag, Cheri, High Society, Chic und Hustler, sowie für weniger bekannte Publikationen wie Foot Fetish Times, Enema News und Sluts and Slobs. 1978 kam es zu einer entscheidenden Wende, als sie Willem de Ridder kennenlernte, der neben Künstlern wie Shigeko Kubota, George Maciunas und Yoshiko Chumo zu einem wichtigen Vorbild wurde. Nachdem sie zusammen an einer alternativen Sexzeitschrift mit dem knappen Titel Love gearbeitet hatten, setzten sie sich für anderthalb Jahre nach Italien ab. De Ridder, dem sie ihre Autobiografie widmet, hatte ungeheuren Einfluß auf Annies Entwicklung als bildende Künstlerin, Fotografin und Konzeptkünstlerin: mit anderen Worten, auf ihren Übergang von Porno zu »Post-Porno«, vom »Objekt« zum »Subjekt«. Annie und de Ridder gaben The Sprinkle Report, The Newsletter Devoted to Piss Art heraus, der passenderweise bei R. Mutt Press erschien. Aber Sprinkles Heimindustrie, das Sprinkle Salon Mailorder-Unternehmen »Golden Shower Ritual Kits« – kleine Urinflaschen –, nahm starke Anleihen bei George Maciunas humorvoller Parodie des Risikokapitalismus im Porno- und Fetischgeschäft und seinem Fluxus-Konzept des Mail-Order Warehouse. In ähnlicher Weise bezogen sich auch Arbeiten wie Sprinkles Post-Porn Modernist-Show in den 80er Jahren auf Fluxus-Künstler, die sich bereits mit Ethnie und Sex beschäftigt hatten und deren Arbeiten starke proto-feministische Einflüsse erkennen ließen. Sprinkles berühmt berüchtigtes »Public Cervix Announcement« steht in direktem Zusammenhang sowohl zu Yoko Onos Performance Cut Piece von 1964, »bei der (Ono) bewegungslos auf der Bühne sitzen blieb, nachdem sie das Publikum aufgefordert hatte, auf die Bühne zu kommen und ihr die Kleider vom Leib zu schneiden …« 11, wie auch zu Shigeko Kubotas Vagina Painting-Performance von 1965, bei der sie mit einem Pinsel, den sie sich in die Vagina einführte, Farbe auf Papier auftrug. Nach ihrem Abschluß in bildender Kunst an der School of Visual Arts in Manhattan arbeitete Annie mit Veronica Vera in der High-Heel School of Journalism als Fotografin für einen Großteil der Zeitschriften, für die sie zuvor posiert hatte, außerdem aber auch für Mainstream-Publikationen wie Newsweek, für die sie die Sex-Szene der 80er Jahre dokumentierte.

 

1981 stellte einen weiteren Wendepunkt in Annies Werdegang dar. In diesem Jahr schrieb sie das Drehbuch und führte Regie bei ihrem eigenen Spielfilm, Deep Inside Annie Sprinkle, der im World-Theater in New York Premiere hatte. Bei einer späteren Vorführung in einem riesigen Autokino in Akron, Ohio, präsentierte Annie die Veranstaltung mit dem für sie typischen Elan und forderte die 900 Autos der Zuschauer über Lautsprecher auf, zu hupen und mit den Scheinwerfern zu blinken.

Deep Inside ist eine subversive Verkehrung der Hardcore-Norm, die Frauen stets als gefügig und passiv darstellt. Annie erinnert sich: »Mein Konzept bestand darin, den Film interaktiv zu gestalten. Ich bezog den Zuschauer ein, indem ich direkt in die Kamera sprach. Meine Lieblingsszene ist die, in der ich in ein Kino gehe, wo einer meiner Pornofilme gezeigt wird, und ich Sex mit mehreren der Pornofans habe, die mich auf der Leinwand beobachten. Es gab auch eine sehr intensive Masturbationsszene, während ich in die Kamera blicke und ich hatte dabei multiple Orgasmen, bei denen ich ejakulierte (obwohl wir damals nicht wußten, was das war). Es gab auch eine wunderschön gemachte Golden-Shower-Szene in dem Film, die später allerdings durch den Vertrieb zensiert wurde, um rechtliche Probleme zu vermeiden.« 12

Wie einige feministische Wissenschaftlerinnen ausführten, spielt Annie in Deep Inside Annie Sprinkle absichtlich mit den Konventionen dessen, wer wem Vergnügen bereitet.13 Viel wurde darüber geschrieben, wie sie durch ihre Interaktionen mit Männern auf der Leinwand oder dem, was Chris Straayer als Wiedereinschreibung der Sodomie in die Heterosexualität bezeichnet hat, homosexuelle Pornografie einbindet. Aber der vielleicht radikalste Aspekt an Sprinkles Performance ist nach Linda Williams, daß sie die physische Nähe zwischen Hure und Kunde verwischt, indem sie »einen Kunden intim anspricht, der gar nicht mehr da ist … sie führt Elemente ein, die das Paradigma des aktiven Mannes und der passiven Frau, wie es in der konventionellen Pornografie herrscht, stören.« 14 Laut Thomas ist noch ein weiteres Element des filmischen Szenarios auffällig. Sprinkle macht sich über das abgeschlossene Phantasie-Setting kommerzieller Pornografie lustig: »Sobald Sprinkle den Betrachter in ihr Haus eingeladen hat, zeigt sie ihm ihr persönliches Fotoalbum, das Bilder von ihr als Kind und als junge Frau enthält. Anstatt ihren Kunden in dem Glauben zu lassen, ihre glamouröse Huren-Persönlichkeit sei die echte, wahre Frau, unterstreichen die Fotos die Konstruiertheit ihrer Identität; während Annie die Geschichte erzählt, wie aus Ellen Steinberg Annie Sprinkle wurde, erinnert auch der von ihr gesprochene Text daran, daß es in Sprinkles Macht und nicht in der des (mutmaßlich männlichen) Publikums liegt, den Wandel vom braven Mädchen zur Hure herbeizuführen.« 15

Deep Inside Annie Sprinkle, das zweitbest verkaufte Erwachsenenvideo 1982, etablierte Annie nicht nur als Pornostar, sondern markiert auch den Beginn einer Tradition der direkten Ansprache und interaktiven Ausdrucksweise, die die Grenzen zwischen Leben und Kunst absichtlich verschwimmen lassen. Aber der Film führte auch zu einer wichtigen persönlichen Veränderung. Sie sagt: »Ich hatte keine Lust mehr, die Phantasie anderer Leute zu sein.« 16 Sie zog Angebote für Varieté-Veranstaltungen in Betracht. Aber Annies Vorstellung von Varieté beinhaltete einen eigenwilligen Dreh, oder das, was auch als Avantgarde-Varieté bezeichnet wurde, nämlich die Parodie des Genres. Es ist kein Zufall, daß ihre erste Performance den Titel Strip Speak trug, eine Kombination aus anzüglichen rhetorischen Fragen und einem begleitenden Text, der ihr männliches Publikum verführen sollte, während sie gleichzeitig die Tradition des Voyeurismus auf die Schippe nahm.

Von diesem Punkt an politisierte sich Annie mehr und mehr, »inszenierte« sich als Hure und zerstörte Vorstellungen von der Performanz der Prostitution. Das Szenario ihres nächsten Stücks, Deep Inside Porn Stars, kam vom Club 90, einer Porno-Star-Unterstützergruppe, die in Annies Salon angefangen und dann im Wechsel die Herkunftsorte der anderen Mitglieder besucht hatten. Im Januar 1984 trat eine feministische Performance-Gruppe, Carnival Knowledge, an Sprinkle und ihre Porno-Star-Schwestern Veronica Vera, Candida Royalle, Gloria Leonard, Veronica Hart, Sue Nero und Kelly Nichols heran und fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, bei einer Performance-Reihe mit dem Titel The Second Coming im Franklin Furnace mitzuwirken. Im Programm wurde das Ziel der Veranstaltungsreihe erklärt, das darin bestand, »eine neue Definition von Pornografie zu erproben, durch die weder Frauen noch Männer, noch Kinder erniedrigt werden« 17.


Annie Sprinkle am Ende der Szene mit den 100 Blow Jobs in »Post-Porn Modernist«. Foto: © Dona Ann McAdams

Thomas beschreibt die Bedeutung dieser Performance sehr treffend: »Das Stück spielt in einem Nachbau von Annie Sprinkles Wohnzimmer und beleuchtet den Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Frauen und ihrem wahren Selbst. Während sich die Frauen versammeln, legen sie unauffällig ihre Porno-Kleidung ab und tauschen sie gegen Straßenkleidung ein. Wenn sie sich ausziehen, so unauffällig das geschehen mag, stellen sie (laut Bell) visuell eine Verbindung zum Varieté-Theater her und erinnern den Zuschauer daran, daß die meisten der Frauen als Stripperinnen in diesen Theatern gearbeitet haben und noch arbeiten. Sprinkle verstößt gegen diesen pornografischen Kontext, indem sie jeder Frau bei ihrem Eintreffen Tee und Kekse anbietet.« 18

Im selben Jahr fragte Richard Schechner, der mit seiner Seminargruppe der New York University zum Thema illegales Theater zufällig in Annies Nurse Sprinkle’s Sex Education-Show geraten war, ob Annie ihre Schwester Sprinkle-Nummer aus dem Show World’s Triple Treat-Theater als Teil des Prometheus Project aufführen wolle. Er fand ihre Arbeit faszinierend, weil »Sprinkle den Zuschauer bei jeder Steigerung des sexuellen Angebots befragt und ihn auffordert zu beschreiben, was er sieht oder wie er sich fühlt. Dies schafft automatisch einen Abstand zwischen der Handlung und den eigenen sexuellen Möglichkeiten – wodurch Anti-Porno oder eine Porno-Parodie entsteht.« 19

Die Zusage sowohl zu dem Engagement am Franklin Furnace wie auch zu Schechners Einladung, ihre Strip-Show im Rahmen einer »legalen« Off-Kunst-Szene zu präsentieren, ermöglichte Annie Sprinkle formal den Eintritt in die entstehende New Yorker Performance-Kunst-Szene.

Als kommerzielle Sexarbeit weniger zwingend wurde, suchte Annie zunehmend geistigen Austausch und Ermutigung bei Künstlern. Annie lernte Linda Montano kennen, die sich als »Lifeist« bezeichnet und bereits bekannt war für ihre künstlerische Verarbeitung des Alltagslebens: sie hatte sich ein ganzes Jahr mit einem zwei Meter langen Seil an ihren Künstlerkollegen Techning Hsieh gebunden. 1988 besuchten Sprinkle und Veronica Vera Montanos Summer Saint Camp am Art/ Life Institute in Kingston, New York, wo Sprinkle, wie sie es stolz nennt, »zur Künstlerin getauft« wurde. Annie beschreibt ihre Begegnung mit Montano fast wie ein »religiöses Erlebnis«20. Ihre Freundschaft und Zusammenarbeit führte im Verlauf von vierzehn Jahren schließlich zu vielen Performances und Sex-Workshops unter dem Titel »Sacred Sex«, die über zehn Jahre lang am Wise Woman Center stattfanden. Annies experimentellere, metamorphosexuelle Dokudramen dieser Zeit spiegeln ihren Übergang von der Pornografie zur Kunst. Linda/Les & Annie – The First Female-to-Male Transsexual Love Story dokumentiert ihre Liebesaffäre mit Les Nichols, einem Frau-Mann-Transsexuellen und chirurgischen Hermaphroditen. Der Sluts and Goddesses Video Workshop, der als ein »Augen-Fick« angekündigt wurde, ist eine humorvolle Betrachtung weiblicher Sexualität und sinnlicher Freuden, den Annie nach eigenen Aussagen veranstaltet hat, um Zugang zur Lesbenszene zu bekommen. Heute betrachtet sich Annie als Aktivistin, als Lehrerin und Sexualheilerin und als trans-mediale Künstlerin. Ihre neueren Arbeiten sind mit ihren Worten »feministisch, spirituell, Gender übergreifend und homosexuell …« 21