Immer schaut ein Mensch hervor

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Immer schaut ein Mensch hervor
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Annette Gonserowski

Immer schaut ein Mensch hervor



Erzählungen

Annette Gonserowski

Immer schaut ein Mensch hervor

Erzählungen

© Annette Gonserowski

© Titelbild Claudia Ackermann, Kierspe

2020

In Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeit

Thomas Carlyle

Gerd gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Die schwarze Muschel

Begegnung im Regen

Begegnung

Arbeitslos

Das Bild

Ayse

Das Erwachen der Scham

Hallo, Oma

Am Fenster

Hola, Perrito

Erinnern

Ivan der Schreckliche

Das antike Gemälde

Wir sind so glücklich

Altern

Aber ganz vorsichtig

Die gewünschte Ruhe

Valentinstag

Besuch im Atelier

Der Violinenspieler

Das Hundemädchen im Glück, die Menschen im Himmel

Die Weihnachtsreise

Elmar

Loslassen

Im Café

Annette Gonserowski

Die schwarze Muschel

Sie steht auf der Seebrücke und schaut auf das Wasser. Heute hat die See ihre Sanftheit verloren. In rascher Folge branden die Wellen an die Seebrücke. Weiße, schäumende Gischt spritzt hoch gegen die dicken Bohlen, verläuft auf den Brettern und zwischen ihnen hindurch wieder zurück in die See. Der Saum ihrer Hose ist nass geworden. Sie bückt sich, krempelt die Hosenbeine hoch bis zum Knie. Sie schlüpft aus ihren Schuhen, nimmt sie in die Hand und betritt barfuß den Strand. Der feine Sand umspielt ihre Zehen. Sie liebt dieses Gefühl und spürt, wie die Füße in dem Sand versinken, Spuren hinterlassen im Vorwärtsschreiten. Heute ist sie allein am Strand. Die Ferienzeit ist vorbei, die meisten Urlauber sind abgereist. In den Gaststätten in Küstennähe hat man die Tische hereingeräumt, nur wenige Strandkörbe stehen verschlossen am Badestrand, warten darauf, ihren Platz im Winterquartier zu finden. Nur wenige Zimmer der Hotels sind belegt.

Sie liebt diese Jahreszeit, in der der lange Strand menschenleer ist, sich in seiner Einsamkeit ausdehnt bis zum Horizont. Dann beginnt die Zeit, in der sich die Äste der Kiefern im Sturm biegen, ihr Ächzen sich mit dem Tosen der Wellen mischt. Sie liebt es, wenn der Wald in der Nähe der Steilküste zum grünwogenden Meer wird, sich im Regen und Nebel mit ihm vereint

.

Durch das Rauschen der Brandung klingen einzelne Töne eines Saxophons zu ihr herüber, bevor sie von der Brandung verschluckt werden. Der Saxophonspieler geht in einiger Entfernung vor ihr über den Strand. Seine Silhouette hebt sich schwarz gegen die eilig ziehenden Wolken ab. Angestrengt versucht sie die einzelnen Töne zu einer Melodie zu fügen. Es gelingt ihr nicht. Und doch - sie tragen eine Erinnerung zu ihr, die sie längst vergessen glaubte.

Es war vor vielen Jahren, als sie ihm begegnete. Er verbrachte nur wenige Tage in einem der Häuser am Strand. Oben unter dem Dach eines Fischerhauses hatte er ein kleines Zimmer gemietet.

Es war Spätsommer als er ihr zum ersten Mal begegnete, der Sturm tobte wie heute von der See. Da entstieg er den Wellen, schüttelte das Wasser von sich wie ein junger Hund. Mit fröhlichen Augen lachte er sie an: „Kühl heute.“

Sie lachte mit ihm.

Am nächsten Tag begegnete er ihr wieder, als sie am Abend in Gedanken versunken am Strand stand und der untergegangenen Sonne nachträumte. Die rosa und silbernen Wellen wiegten den schwindenden Tag, während der Horizont in pastellenen Farben einen neuen Morgen versprach.

Er gesellte sich zu ihr, gemeinsam schauten sie auf die See, sahen die Wellen kommen und gehen. Die aufkommende Abendbrise war voller Worte. Es dauerte nicht lange, da waren sie in ein Gespräch vertieft. Als sie sich später voneinander verabschiedeten, war es, als würden sie sich sehr lange kennen. Keine Fremdheit stand zwischen ihnen.

Am nächsten Tag ging sie mit Herzklopfen an den Strand.

„Ob er wohl auch heute einen Abendspaziergang machen wird?“ dachte sie und setzte sich in einen der leeren Strandkörbe, der unverschlossen am Saum der See stand. Wenig später kam er. Sie sah ihn nahen, wie er mit federnden Schritten leicht über den Sand lief. Auch er erblickte sie, klopfte leise an den Korb, steckte seinen Kopf von der Seite her hinein. Seine Augen strahlten: „Wie schön, dass ich sie wieder treffe.“ Sie rückte ein wenig zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. Wieder stellte sich nach wenigen Minuten diese unerklärliche Vertrautheit ein, die ihre Worte nur so sprudeln ließ. Als seine Hand wie unbeabsichtigt nach der ihren griff, durchfuhr die Berührung sie wie ein Blitz. Ihr Atem stockte, ihre Wangen glühten in der untergehenden Sonne. Sie hoffte, dass er es nicht bemerken würde.

Am folgenden Tag trafen sie sich wieder. Er brachte sein Saxophon mit und spielte darauf eine Weise voller Sehnsucht und Zärtlichkeit: „You stole my heart.“ Als die Töne verklangen sagte er leise: „Diese Zeile passt zu dir: „don‘t change your hair, don’t change your smile“, und fügte hinzu: „Weißt du, dass du ein nettes Lächeln hast? Lächeln ist eine starke, positive Kraft.“

Daran erinnerte sie sich, als er abreiste und ihre Spaziergänge einsam wurden. Sie vermisste ihn.

Einige Briefe gingen in der folgenden Zeit hin und her, dann wurde der Kontakt weniger und weniger, verebbte schließlich.

Sie schlendert weiter, blickt auf den Sand, hofft für einen vergeblichen Moment, seine Spuren darin zu finden. Aber der Sand hat seine Spuren nicht bewahrt. Sie sind verweht wie die Zeit, die darüber hinweg gestrichen war. Nur eine schwarze Muschel liegt im Sand, hebt sich von den unzähligen weißen Muscheln ab. Sie bückt sich, hebt sie auf, streicht mit zärtlichen Fingern den Sand von der harten Oberfläche, steckt sie in ihre Jackentasche. Als sie den Kopf hebt, ist der Saxophon-Spieler verschwunden, kein sehnsuchtsvoller Ton dringt noch zu ihr. Nur das Branden der Wellen und der heisere Schrei der Möwen erfüllen die Abendluft.

Da tritt auch sie den Heimweg an.

Wenige Tage später erhält sie einen Brief. Er trägt einen schwarzen Rand und bringt ihr die Nachricht, dass er verstorben ist. Er hatte sie nicht vergessen und ihre Briefe fand man in seinen Unterlagen.

Als sie die Nachricht betrachtet, liest sie, dass ihn genau in dem Moment das Leben verließ, als sie den Tönen des fremden Saxophon-Spielers lauschte und die schwarze Muschel dort fand, wo einst seine Spur war.

Sie erinnert sich seiner Worte: „Lächeln ist eine positive Kraft“ und lächelt traurig.

Begegnung im Regen

Der Regen kam mit dem Sturm von Westen. Er peitschte in Böen durch das Tal, beugte die Gräser bis sie waagerecht in Richtung Osten standen, wehte sie hin und her, so dass sie regenschwer am Boden liegen blieben. Der schmale Bach, der sich an stillen Tagen beschaulich durch die Auen schlängelte, war über die Ufer getreten, gebärdete sich mit lautem Brausen, schnellte stromgleich dahin, führte mit sich Geäst und die Flügel der Libelle, die noch vor wenigen Tagen grünschillernd im Sonnenlicht glitzerten. An manchen Stellen überschwemmte er die Landstraße, die hier fernab der Siedlungen durch das Tal führte. Kein Auto befuhr diese Straße an diesem Spätnachmittag, nur die schwarzen Wolken zogen eilig und sturmgepeitscht darüber hinweg. Eine einsame Fußgängerin beging diese Straße, gemeinsam mit ihrem großen, zottigen Hund. Heute, wie an jedem beginnenden Abend.

 

Die Kapuze ihrer Regenjacke hatte sie unter dem Kinn fest zugebunden, nur eine Strähne ihres Haares lugte unter ihr hervor. Von dieser Haarsträhne tropfte der Regen in dicken Tropfen auf ihre Lippen, die sie hin und wieder mit der Zunge aufzufangen versuchte, bevor diese weiterrannen, über ihr Kinn hinweg. Der Regen lief in Rinnsalen an ihrer gewachsten Jacke hinunter, auf ihre Oberschenkel, der Stoff ihrer abgetragenen Jeans war lange schon durchnässt. Der Hund lief missmutig neben ihr, schüttelte hin und wieder die Nässe aus seinem Fell, so dass Tropfenfontänen in den unablässig strömenden Regen sprühten.

Sie genoss diese Einsamkeit, diese laute Stille, in der die Stimmen der Natur hörbar waren: das Heulen des Windes, wie er durch das Tal fegte und an ihrer Kapuze zerrte, gegen den sie sich stemmen musste, bei jedem Schritt, der den Gräsern und Blättern heute eine laute Sprache gab, die Zweige der Bäume am Wegrand brach und die Äste ächzen ließ.

Sie lauschte dem Springen der Wellen des Baches über den Steinen, hörte das Trommeln der Regentropfen auf dem Asphalt, vernahm ihren Schritt. Der Regen wurde aufgewirbelt bei jedem ihrer Schritte. Sie passte sich dem Tempo ihres Hundes an, der auch heute rechts und links der Straße die Witterung des Wildes und der vorangegangenen Hunde aufnahm. Sie lauschte nach innen, spürte ihr Herz gleichmäßig schlagen, ließ die Gedanken kommen und gehen. Nichts Spektakuläres störte ihr Gleichmaß, die Gedanken verweilten im Hier und Heute, streiften die Geschehnisse des Berufsalltags, auch er war ohne Höhen und Tiefen in immerwährender Wiederholung dahingegangen. Ihre Augen blickten ruhig und zufrieden unter den Augenwimpern, in denen sich der Regen verfangen hatte.

Von weitem hörte sie das Motorbrummen eines nahenden Autos. Ihr Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Es war sein Auto.

Gleich würde er an ihr vorbeifahren, wie an jedem Tag.

Er würde sie anschauen, die Augen hinter der dunkel umrandeten Bille würden sie ernst mustern, er würde nicken, kaum merklich, seine Mine würde sich nicht verändern, kein Lächeln seinem Mund das Ernste nehmen. Dann würde er schon vorbeifahren und vorbeigefahren sein, die Auspuffgase würden in ihre Nase dringen, ein Fahrtwindzug würde sie streifen und vergehen, das Motorengeräusch sich entfernen. Sie würde dem Verlangen, ihm nachzuschauen, nicht nachgeben, nicht sehen, wie das Auto kleiner und kleiner wurde gegen den Horizont, wie es sich hinter der Kurve verlieren würde. Nur ihre Gedanken würden mit ihm gehen, über das Ende des Horizonts hinaus. Sie würde wissen, wie dunkel seine Augen jetzt sein würden. In ihren Gedanken würde sie noch einmal in seinen Augen und der Unendlichkeit versinken, in dem dunklen Kranz um seine Iris, bevor sich, wie damals, auch um ihre Augen ein Schleier legen und die Gedanken ausschalten würde.

Das Auto nahte. Das dunkle Braun der Karosse hob sich kaum gegen die Regenschwaden ab. Beim Durchfahren der Pfützen spritzte das Wasser rechts und links am Auto hoch.

Noch eine kleine Kurve, dann die Brücke – dann würde er da sein und sie nicht einmal den Kopf erkennend heben. Er würde es nicht bemerken, dass ihr Blick ihn erfasste, ja, erwartet, ihn erhofft hatte, ersehnt - wie an jedem Tag.

Er würde ihren Herzschlag nicht hören, der ein wenig aus dem Rhythmus gekommen war bei seinem Nahen und der nicht mehr voll Übermut schlug, wie damals, vor vielen Jahren.

Ob er damals spürte, wie der ängstlich stockte, wie sie zitterte unter seiner sanften Berührung?

Nur noch die Brücke.

Schien es nur, dass er langsamer fuhr an diesem Tag? Behinderte Regen seine Sicht? Sah er zwischen dem prasselnden Regen durch die Windschutzscheibe hindurch? Kaum bewältigten die Scheibenwischer die Wassermassen.

Was wäre, wenn er das Auto anhalten würde, wenn er seinen Fuß nur wenige Zentimeter heben, ihn vom Gaspedal nehmen und auf die Bremse setzen würde? Was würde er machen, wenn das Auto langsam und langsamer würde und neben ihr zum Stehen käme?

Würde er die Scheibe herunterlassen?

Was würde er sagen? Wie würde seine Stimme sein?

Würde sie so dunkel klingen wie damals?

Ganz sanft war seine Stimme gewesen, kaum dass sie die Stimme der Piaf durchströmte, deren Chanson leise aus dem Player klang.

Sie hatte lange Haare gehabt, die weit über ihre Schultern fielen. Er hatte seine Nase darin vergraben, während sie im Ungewohnten erstarrte, seine Stimme nur noch wie durch einen Nebel gehört hatte. Seine Stimme, die so anders geklungen hatte, als an jedem anderen Tag zuvor.

Noch jetzt spürte sie ihren damaligen Herzschlag. Dieser ewige Herzschlag, der sich bis heute doch nicht verändert hatte, bei seinem Nahen.

Und seine Arme hatte sie gespürt. Seine Arme, in die sie sich schmiegte, hinein in diesen Blick und diesen Worten, voller Zärtlichkeit. Diese Zärtlichkeit, - nie war sie verloren gegangen.

Nein, diese Zärtlichkeit war nie verloren gegangen. Nicht am Tag danach, nicht an irgendeinem Tag, auch nicht als eine Andere in seinen Armen war.

Nie ging sie verloren - nie. Das wusste er und sie wusste das ebenso. Sie sprachen nicht darüber. Niemand sprach darüber.

Aber ihren Augen sah man es an, wenn sie sich begegneten.

Warum sprachen sie nicht darüber? Sprachen nicht von damals, nicht von der Trennung, der andere Trennungen folgten, die niemals mehr so schmerzten, wie diese. Warum überschritten sie niemals diese Grenze des Schweigens?

Das Auto passierte die Brücke. Klein und zusammengesunken saß er hinter dem Lenkrad des schweren Autos. So schmal war sein Kopf geworden. Die Konturen - ja, die Konturen waren vertraut, seit damals, als ihre Hände sie umschlungen.

Ach, wenn er das Auto anhalten würde. Nur einmal. Wenn er nur einmal bei ihr anhalten würde, auf dieser Straße!

Wenn sie nur einmal das aussprechen könnte, was das Herz so gefangen hielt, es nicht losließ, das schmerzte an manchen Tagen oder sie leicht machte - je nachdem.

Warum sollte er anhalten? Heute oder jemals? Oder besonders heute, wo Regen alles auflöste, durchweichte, weich machte? Warum sollte der Regen die Grenzen durchweichen, die Barrieren, die sie aufgebaut hatten, unsichtbar, beide um sich herum?

Sie betete: „Bitte! Lass ihn anhalten. Bitte. Heute. Nur dieses eine Mal. Bitte! Bitte jetzt!“

Sie schalt sich: „Warum sollte er anhalten? Warum gerade heute?“ Das Auto fuhr neben ihr. Sie sah seine Augen. Sie schauten sehr ernst. So unendlich ernst. So ruhig und still. Sie schauten sie an und sie las in ihnen. Las in dieser Sekunde all das, was sie wusste.

Das Auto fuhr langsam weiter. Es fuhr vorbei! Vorbei!

Heute zwang sie sich nicht, weiter geradeaus zu schauen, zwang sich nicht dem Wunsch zu versagen, ihm hinterher zu sehen. „Mein Gott! Warum? Warum hält er nicht an?!“

Sie schaute sich um, sah das Auto, sah es langsamer und langsamer werden, sah es an den Straßenrand rollen, sah, wie die Räder stillstanden, sah, wie es stand.

Sie sah, wie die Wagentür geöffnet wurde, sah den Stock, der als erstes aus der Tür kam, sah seinen Fuß, wie er Halt suchte, sah seinen Kopf, kahl und klein geworden durch die Behandlung seiner Krankheit, sah ihn, wie er stand, endlich, neben dem Auto, sah seinen ersten Schritt, wacklig und zögernd in ihre Richtung, sah wie er fester wurde, bestimmter.

Sah seine Augen, die noch blickten wie damals, sah das Lächeln, hörte die Stimme, sie klang wie damals, dunkel und sanft, hörte sein Wort, das erste nach dieser Zeit, hörte ihr erstes nach dieser Zeit, es war das gleiche: „Endlich..“

Begegnung

Sie begegnen sich. Nicht täglich, doch meist in der gleichen Stunde.

Im Winter liegt noch das Grauen der Nacht über den Hügeln, durch die ihr entgegengesetzter Weg führt, eisiger Niederschlag macht ihn gefährlich. Sie missachten die Gefahr, wählen nicht die gefahrlose andere Straße.

Im Sommer dagegen klettert die Sonne bereits über die Tannenwipfel am Wegrand, die Lerchen schwingen sich hoch in die Bläue des Himmels, die Schwalben jagen im lauen Wind. Sie hören sie nicht, fahren achtlos vorüber, die Fenster der Autos geschlossen, den Blick auf die Straße gerichtet.

Sie nahen einander und gelangen in ihre Blickfelder: sie sieht, wie sein Auto den Berg herunter fährt und er, wie ihres zügig die Steigung des Berges erklimmt. Die Halogenlichter der Klappscheinwerfer seines Autos leuchten auf, kurz nur -ein schneller Guten-Morgen-Gruß. Auch ihr Auto blinzelt aus den Klappscheinwerfern dem seinen zu.

Die Autos sind einander ähnlich, tragen beide das gleiche Emblem, wurden in der gleichen Werkstatt montiert. Sie sind etwas Besonderes, gehören der Serie an, mit der die Produktion beendet wurde. Sie sind letzte Beweise einer Epoche. Schilder aus Titan auf ihren Trittbrettern geben Zeugnis davon. Sein Auto wurde in der femininen roten Farbe lackiert, ihres ist maskulin grün unter dem Schmutz.

Wenn sie sich begegnen, strebt er seiner Arbeitsstätte in ihrer Heimatstadt zu und sie der ihren, die sich in der Nähe seines Heimatortes befindet. Sie begegnen einander stets wenige Minuten, bevor die Uhr mahnend den Beginn der Arbeitszeit kündet. Darum sind sie meist in großer Eile. Ein rascher Blick nur, die Hand zum Gruße erhoben und auch schon vorbei. Niemals kann sie erkennen, ob Lächeln seinen Mund umspielt oder seine Miene grimmig blickt. Sie merkt nicht, ob sein Anzug blau ist oder grau, er einen Pullover trägt oder sich gar im Hemd der Morgenkühle aussetzt. Kaum weiß sie, ob er jung ist oder gar alt, ob sein Haar grau ist oder blond - es schimmert im Morgenlicht.

Sie weiß nicht, wie er heißt, kennt nur die Buchstaben auf dem Nummernschild seines Wagens, verbindet sie mit seinem Namen. Vielleicht heißt er Klaus oder Karl oder Kasper und dann auch noch Schmidt? Sie weiß es nicht. Er wird ebenso wenig ihren Namen kennen.

Ihr Wesen muss einander verwandt sein. Sie vermutet, dass auch er sehr gerne lange schläft oder morgens beim Aufstehen bummelt. Vielleicht schläft auch er abends recht spät erst ein. Oder er geht vor der Fahrt zum Arbeitsplatz wie sie mit einem Hund? Das würde die Eile erklären.

Nur manchmal, dann treffen sie sich in Muße - doch auch dann nur für den kurzen Augenblick der Vorbeifahrt. Es ist in den Abendstunden. Nach einem Arbeitstag fahren sie nach Hause. Erschöpft und entspannt hängen sie hinter den Steuern, die Schultern an die Lehnen ihrer Ledersitze gelehnt. Sie träumt dem Abend entgegen. Sie befahren die Straße in Unachtsamkeit - alles ist so vertraut. Sie erwarten einander nicht. Doch plötzlich - fast im Vorbeifahren - erspähen sie das bekannte Auto, wie es um die Kurve biegt. Ein rascher Gruß zum beginnenden Abend - oft nur ein kurzer Sonnenstrahl durch verhangene Wolken ihrer regenverwöhnten Heimat.

Manchmal sehen sie sich längere Zeit nicht, zunächst unbemerkt. Wenige Tage später beginnt sie ihn zu vermissen, denkt ihn an einen Urlaubsort. Tage später beginnt sie sich ernsthafte Gedanken zu machen: „Ob er vielleicht krank ist?“ Oder: „Ob er ein anderes Auto fährt, unerkannt?“ Sie würde ihn nicht mehr erkennen!

Sie weiß sehr wenig von ihm, sicher ist nur: er fährt das gleiche Auto.

Und dann plötzlich sieht sie ihn wieder, an einem Morgen, zur gleichen Stunde, im Morgenlicht.

Arbeitslos

Er steht an der Straßenseite unter den Zweigen der alten Buche. Die blattlosen Zweige werfen im Scheinwerferlicht bizarre Schatten auf sein Gesicht. Er ist in den Baumschatten eingetaucht, während die Laterne, drei Bäume weiter, diffuses Licht auf die Straße wirft.

Der Ostwind lässt die Zweige knarren und ächzen, zerrt an den Hosenbeinen seiner Jeans, die er in wärmende Boots geschoben hat. Die Kapuze seiner wattierten Jacke hat er über den Kopf gestülpt, die Kordel unter dem Kinn festgezurrt.

Er schaut auf die Zufahrt zum Werk, das sich auf der anderen Straßenseite ausdehnt. Sie ist leer, wie immer um diese Zeit. Nur ein LKW mit dem Kennzeichnen eines fremden Landes steht auf dem Parkstreifen. Die Gardinen der Fahrerkabine sind zugezogen, die Standheizung summt.

 

Die Wachstube der Werkswache ist erleuchtet. Sie wird es die ganze Nacht sein. Die Schranke, die die Zufahrt zum Werk versperrt, ist geschlossen. Die Monitore im Hintergrund der Wachstube schimmern bläulich: alle Zufahrten des Werkes sind auf ihnen zu sehen.

Der wachhabende Werkschutzmann telefoniert, das kann er erkennen. Hin und wieder schaut er in seine Richtung. Vor einigen Wochen ist er aus der Stube herausgekommen, zu ihm herüber, hatte ihn gefragt: „ Warum stehen Sie hier jeden Abend?“

Er hatte geantwortet: „Ich warte“.

„Auf was?“ hatte der Wachmann gefragt.

Da hatte er nur die Schultern hochgezogen, der Wachmann war kopfschüttelnd zurückgegangen. Seitdem lässt er ihn in Ruhe dort stehen.

Die Kirchturmuhr schlägt 7 Uhr abends.

Jetzt wird er gleich kommen, wie an jedem Abend. Punkt 7 Uhr verlässt er, der Personalchef, stets das Werk. Zuerst werden die Scheinwerfer seines PKWs die kleine Anhöhe innerhalb des Werksgeländes erhellen, dann wird der Wagen hinunterrollen, an den Hallentoren vorbei, die vom Zaun durch eine Werksstraße getrennt sind. Schon wenn er die Biegung zur Werksschranke befahren wird, wird diese sich heben, sein PKW langsam heran rollen, er grüßend die Hand heben. Die Pförtner werden zurückgrüßen. Wenn er das Werksgelände verlassen hat, wird die Schranke sich hinter ihm schließen.

Und schon erscheinen die Scheinwerfer auf der Anhöhe. Sein Wagen rollt langsam zur Schranke. Alles geschieht wie immer. Wie immer schaut der Mann hinter dem Steuer im Vorbeifahren für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm, um uninteressiert fortzuschauen.

Vor einigen Jahren war er einmal in seinem Büro.

Damals gehörte er dazu, war Arbeiter des Werkes, war täglich durch das Drehtor neben dem Pförtnerhaus gegangen, das Stecken seiner kodierten Stempelkarte hatte ihm Einlass gewährt. Von dort war er stets zu der Werkshalle gegangen, in der er arbeitete, hatte sie durch das große Hallentor betreten, war zu seinem Arbeitsplatz gelangt. Er hatte dort gerne gearbeitet, sich ganz zugehörig zu der Belegschaft gefühlt, die fast wie eine große Familie war. Wie stolz war er gewesen, als er bei einem Tag der offenen Tür seine Familie an seinen Arbeitsplatz führte. Sie hatten gestaunt, als er ihnen den Roboter erklärte, der die Rohlinge auf das Laufband legte, das sie zur Presse fuhr. Mit großen Augen hatten sie geschaut, als das Rohmaterial, von den starken Armen des Roboters gegriffen, rotglühend aus dem Heizofen genommen und in die riesige Presse gehoben wurde, wie die Presse sich senkte und das Material in Form presste.

Er hatte dazu gehört, bis zu dem Tag, der das Leben vieler Menschen veränderte.

Erst hatte man darüber gemunkelt, dann hatte man darüber geredet und dann wurden Listen mit sozialen Merkmalen erstellt, mit denen die Mitarbeiter festgelegt wurden, die entlassen werden sollten. Da war es sicher: es würden viele sein. In unbeobachteten Momenten hatten sie sich heimlich beobachtet, gehofft, dass es der Kollege sein würde, auf den die Sozialauswahl treffen würde.

Und dann war dieser Tag gekommen, der sein Leben verändert hatte. Der Tag, an dem die Kündigungen ausgesprochen wurden.

Als sein Vorgesetzter ihn und zwei Kollegen aufforderte in die Personalabteilung zu gehen, da hatten sie gewusst, was sie erwartete. Er war gemeinsam mit seinem Kollegen die Anhöhe auf der anderen Seite herunter gegangen, in Richtung des Verwaltungsgebäudes, festen Schrittes, die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, sich gegenseitig Mut machend, während ihr Herz sich vor Aufregung zu überschlagen gedroht hatte.

Die Sekretärin im Vorzimmer hatte sie bedrückt angeschaut und sofort die Tür zum Personalchef geöffnet. Der war auch ernst gewesen, als er ihnen das Kündigungsschreiben überreicht hatte. Er hatte versucht aufmunternde Worte für sie zu finden, dass sie doch noch jung seien und sie bestimmt eine Arbeit finden würden. Und wenn die Auftragslage in der Firma sich wieder bessern würde, ja, dann würde er sie wieder einstellen. Er hatte ihnen sogar eine Zigarette angeboten, die sie mit zitternden Fingern entgegengenommen hatten.

Auf dem Rückweg die Anhöhe hinauf hatten sie ihre Fassung verloren. Schleppenden Schrittes, mit hängenden Schultern, waren sie in Richtung ihres Arbeitsplatzes gegangen, hatten sich nicht der Tränen geschämt, die über ihre Wangen gelaufen waren.

Die Sekretärin hatte hinter dem Fenster ihres Büros gestanden, ihnen nachgeschaut, dicke Tränen waren auch über ihre Wangen gelaufen.

Er hatte danach verschiedene Arbeiten angenommen. Oft waren sie nicht von langer Dauer gewesen. Die Beschäftigungslage in der Region hatte sich verschlechtert.

Eine der großen Firmen des Ortes hatte sein Werk ins Ausland verlegt.

Eine andere Firma war von ausländischen Investoren aufgekauft, die Gewinne abgeschöpft und das Werk geschlossen worden.

Viele kleine Zulieferfirmen hatten daraufhin ebenfalls ihre Betriebe aufgeben müssen. Viele Arbeitsplätze waren verloren gegangen.

„Ein Arbeitsplatz. das wäre wie ein Gewinn im Lotto“, sagte er sich manchmal. Aber an Glücksspielen hatte er sich nie beteiligt .

Oft hatte er versucht, wieder Mitarbeiter des Werkes zu werden. Sehr viel Mühe hatte er sich gegeben ein Bewerbungsschreiben zu verfassen, hatte diesem seinen Lebenslauf beigefügt, in dem all die Tätigkeiten vermerkt waren, die er verrichtet hatte. Von Bewerbung zu Bewerbung wurde die Liste der kurzfristigen Arbeitszeiten länger.

Diese Bewerbungsschreiben hatte er selbst beim Pförtner abgegeben. Ins Werk hatte man ihn nicht mehr gelassen. Niemand, der keine Einladung hatte, gelangte in das Werk.

Immer kam nach wenigen Tagen das Bewerbungsschreiben zurück. Immer stand im Schreiben derselbe Satz: „Leider können wir Ihnen keinen Arbeitsplatz anbieten.“

An vielen Tagen danach war er deprimiert gewesen, hatte mit sich und der Welt gehadert, sich in seiner Wohnung verkrochen: sein Selbstwertgefühl war tiefer im Boden, als das je erkannte schwarze Loch, in das er fiel.

Es hatte Zeiten gegeben, da war er wütend geworden, wenn er den Absagebrief erhielt. Man kannte ihn doch! Warum stellte man ihn nicht ein?

Dann hatte er angerufen. Die Sekretärin hatte ihn erkannt.

Das Ergebnis war das Gleiche: man stellte niemand ein.

Die Kirchturmuhr schlägt nun 20 Uhr. Gleich wird Schichtwechsel sein. Seine ehemaligen Kollegen werden durch das Drehtor treten, zum Parkplatz gehen , in ihre PKWs steigen und nach Hause fahren – so wie er es auch immer gemacht hat.

Seinen PKW hat er schon lange abgemeldet und verkauft.

Früher konnte er sich und seiner Familie spontan kleine Wünsch erfüllen, heute betreten sie voller Scham die Ausgabestelle, in der die Kirchengemeinde monatlich einmal Lebensmitteln für sie bereithält.

Seine Frau klagt nicht. Aber er hat ihre traurigen Augen gesehen, als sie die Tochter tröstend in den Arm nahm, die weinte, weil sie in der Musikschule abgemeldet wurde.

Jetzt kommen die ersten Werksangehörigen aus dem Hallentor, streben in Richtung des Drehtors.

Nun wendet auch er sich ab, geht tiefer in den Baumschatten, geht hinein in den Park, macht sich auf den Weg.