Einführung in die Ethik

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2.4 Die AutonomieAutonomie der Ethik

Die Ethik steht als praktische Disziplin der Philosophie in einem engen Verhältnis zu anderen praktischen und theoretischen Disziplinen, ist aber gleichwohl eine eigenständige Wissenschaft, insofern nur sie das Verhältnis von Moral und Moralität begrifflich und kategorial zureichend bedenkt.

Die Ethik teilt mit Politik und Rechtsphilosophie den Gegenstand: menschliche Praxis. Insofern sie politische und Rechtsansprüche hinsichtlich ihrer VerbindlichkeitVerbindlichkeit für das menschliche Handeln am Unbedingtheitsanspruch des Moralitätsprinzips misst, ist die Ethik die Grundlagenwissenschaft aller übrigen Disziplinen der praktischen Philosophie.

Mit der Anthropologie teilt die Ethik das Interesse am Menschen, mit der Metaphysik die Problematik der Stellung des Menschen im Weltall und mit der Logik schließlich die Frage nach den formalen Strukturen menschlichen Wissens (insbesondere moralischen Wissens) und wissenschaftlicher Argumentation. Gegenüber diesen Disziplinen der theoretischen Philosophie bewahrt die Ethik dadurch ihre Selbständigkeit, dass sie die bloß theoretischen Informationen von Anthropologie, Metaphysik und Logik unter dem Gesichtspunkt des Moralitätsprinzips hinsichtlich ihrer Bedeutung für das menschliche Handeln reflektiert.

Die Begründung und Rechtfertigung aller Moral aus einem Unbedingten ist die bleibende Aufgabe der EthikEthikAufgabe der, die sich in der Erfüllung dieser Aufgabe als eine autonomeAutonomie Wissenschaft erweist.

2.5 Angewandte EthikEthikangewandte

Ethik lässt sich nicht nur als autonome, sondern auch als angewandte WissenschaftEthikangewandte betreiben; sie wird durch Anwendung allgemeiner ethischer Prinzipien auf bestimmte Lebens- und Handlungsbereiche zu einer speziellen, »konkreten« Ethik, die den Unbedingtheitsanspruch der Moralität im Zusammenhang mit der Moral bzw. dem Ethos einer einzelnen Handlungswissenschaft auslegt.

2.5.1 Medizinische EthikEthikmedizinische

Die medizinische oder ärztliche EthikEthikmedizinische betrachtet die Tätigkeit des Arztes als eine Konkretisierung der allgemeinen Norm, Hilfsbedürftigen in angemessener Weise zu helfen. Die Hilfsbedürftigen sind in diesem Fall kranke Menschen, und die angemessene Hilfe ist in erster Linie medizinischer Natur, d.h. der Arzt hat primär die Pflicht, wirksame Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit einzusetzen, ohne dem Patienten in unzumutbarer Weise zu schaden oder ihn gegen seinen erklärten Willen zu behandeln.

Darüber hinaus ist er jedoch – gemäß dem heute noch gültigen, in der »Genfer Erklärung« der »World Medical Association« 1948 neu formulierten »Eid des HippokratesHippokrates« – dazu verpflichtet, seinen Patienten nicht wie einen zu reparierenden Gegenstand unter bloß technischen Gesichtspunkten zu behandeln, sondern ihn als ein menschliches Gegenüber zu respektieren, das berechtigten Anspruch auf eine humane Zuwendung und Betreuung vonseiten des Arztes hat.

Als die wesentlichen Probleme einer medizinischen EthikEthikmedizinische werden heute vor allem folgende Themen diskutiert:

  Schwangerschaftsabbruch

 Ist bzw. unter welchen Voraussetzungen ist der Schwangerschaftsabbruch mit der Pflicht des Arztes, Leben zu erhalten, vereinbar?

  Euthanasie

 Ist bzw. unter welchen Voraussetzungen ist Tötung auf Verlangen, aktive oder passive Sterbehilfe, Vernichtung von sogenanntem lebensunwertem Leben mit der Pflicht des Arztes, Leben zu erhalten, vereinbar?

  Apparatemedizin

 In welchem Ausmaß sollen lebenserhaltende und -verlängernde Maßnahmen bei Schwerstkranken auf der Intensivstation getroffen werden? Dürfen Todkranke gegen ihren eigenen Wunsch künstlich am Leben erhalten werden?

  Manipulation am Erbmaterial

 Darf der Arzt beim Menschen Genmanipulation betreiben, d.h. Eingriffe in die Keimbahn vornehmen, z.B. um Erbkrankheiten auszumerzen oder mögliche schwere körperliche Defekte zu verhindern?

  Humanexperimente

 Ist bzw. unter welchen Bedingungen ist der Arzt berechtigt, mittels Medikamenten oder Operationen Experimente an Menschen durchzuführen? Darf mit Embryonen experimentiert werden?

  Künstliche Erzeugung von Menschenleben

 Ist bzw. unter welchen Voraussetzungen ist der Arzt befugt, menschliches Leben auf nicht natürliche Weise – durch homologe oder heterologe Insemination, durch In-vitro-Fertilisation, intratubaren Gametentransfer oder Klonierung – zu ermöglichen?

  Gehirnchirurgie

 Ist es dem Arzt erlaubt, z.B. Querulanten und Triebtäter durch eine Gehirnoperation »ruhigzustellen« bzw. an das gesellschaftliche Normengefüge »anzupassen«?

  Organverpflanzung

 Wann ist der Arzt befugt, einem »Spender« ein Organ zu entnehmen, um es einem anderen Menschen zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit einzupflanzen? Ist der Hirntod ein hinreichendes Kriterium, einen Menschen als tot zu erklären?

  Genkartierung

 Welche Gefahren bringt die vollständige Entzifferung des menschlichen Genoms mit sich? Wie lässt sich der »gläserne Mensch« vor Missbrauch seiner Daten schützen?

  Informationspflicht

 Ist der Arzt verpflichtet, seine Patienten über Art und Schwere ihrer Krankheit sowie über das Risiko der zur Herstellung ihrer Gesundheit erforderlichen Eingriffe und Mittel vollständig aufzuklären?

  Paternalismus

 In welchem Maß darf die Patientenautonomie durch ärztliche Anordnungen eingeschränkt werden; darf sie unter Umständen sogar aufgehoben werden?

Alle diese Fragen sind letztlich ethischer NaturEthikangewandte und bedürfen einer grundsätzlichen Klärung, die es dem Arzt ermöglicht, in den jeweils verschiedenen Einzelfällen nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, ob z.B. der rein biologische WertWert eines nur noch künstlich zu erhaltenden Lebens den Vorrang vor einem bewusstlosen und als solchen nicht mehr menschenwürdigen Dasein hat, ob es richtig ist, einem Todkranken zu sagen, wie es um ihn steht und ihm damit möglicherweise die letzte Hoffnung zu nehmen etc.

Es geht bei den angedeuteten Problemen insgesamt darum, in einer Konfliktsituation generell anerkannte Werte zu gewichten und Gründe dafür anzugeben, warum im einen Fall der eine WertWert, im andern Fall der andere WertWert vorgezogen wurde. Man hat die Beantwortung solcher Fragen nicht den Ärzten allein überlassen, sondern sogenannte EthikkommissionenEthikkommission gebildet, denen außer Ärzten und Ethikern auch Juristen, Theologen, Soziologen u.a. angehören. Solche EthikkommissionenEthikkommission haben die Aufgabe, Rahmenrichtlinien für die anstehenden ethischen Probleme zu erarbeiten und falsche ArgumentationsstrategienEthikangwandte zu kritisieren. Damit bereiten sie den Boden für ethisch verantwortbare Entscheidungen.

2.5.2 BioethikBioethik

Gegenstand der BioethikBioethik ist das Leben, nicht nur das menschliche Leben im engeren Sinn, das im Zentrum der medizinischen EthikEthikmedizinischeEthikmedizinische steht, sondern das Leben aller in der Natur als solcher vorkommenden Organismen. Die BioethikBioethik wurde vor allem durch die modernen Gentechnologien auf den Plan gerufen, durch die insbesondere die Molekularbiologen ins Zwielicht geraten sind. Ursprünglich dazu erfunden, nicht nur neue Perspektiven in der Grundlagenforschung zu eröffnen, sondern auch gezielt die Erbsubstanz von Menschen, Tieren und Pflanzen zu verbessern, um dadurch eine größere Lebensqualität insgesamt zu erzielen, stoßen die Gentechnologien mittlerweile auf erhebliche Zweifel, da Gefahren durch Missbrauch oder unvorhersehbare Schäden nicht ausgeschlossen werden können.

Reinhard LÖWLöw, R. ist der Auffassung, »dass innerhalb der BiologieBiologie Moral nicht vorkommt«, woraus jedoch nicht folge, dass die biologische Forschung sich moralischen Ansprüchen entziehen könne (Leben aus dem Labor, 74). Gegen die Verbesserung der genetischen Ausstattung von Nutzpflanzen (zur Bekämpfung des Hungers) und die gentechnologische Veränderung von Mikroorganismen (zur Therapie von Krebs, Aids u.a.) wendet er ein, dass gute Zwecke noch nicht die Mittel heiligen; es bedürfe einer sorgfältigen Güterabwägung, um das ethisch Erlaubte vom Verbotenen (Klonieren, Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwesen, Embryonen verbrauchende Forschung u.a.) zu trennen (199f.).

Ähnlich argumentiert auch die Enquête-Kommission »Chancen und Risiken der Gentechnologie« des 10. Deutschen Bundestages in ihrem Bericht. Sie empfiehlt neben gründlichen Technikfolgenabschätzungsverfahren insbesondere das Verbot gentechnischer Eingriffe in die Keimbahn des Menschen, Genomanalysen an Arbeitnehmern, die unkontrollierte Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen sowie die Anwendung der Gentechnologie zu militärischen Zwecken (biologische Waffen).

Die BioethikBioethik ist überall dort gefordert, wo in Wissenschaft und Forschung unabschätzbare Gefahren für Leib und Leben einerseits, für Freiheit und Würde der Person andererseits durch die modernen Technologien drohen. Dem verantwortungslosen technischen Machbarkeitswahn sind unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls Grenzen zu ziehen derart, dass letzteres nicht oder nur mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Bürger beeinträchtigt werden darf. Derzeit hat die BioethikBioethik Konjunktur bei einer neuen Richtung, deren Vertreter sich als TranshumanistenTranshumanismus bezeichnen. „Selbstoptimierung“ (enhancement) lautet das Stichwort, mit dem für eine psychophysische Verbesserung der Leistungsfähigkeit durch technische Maßnahmen geworben wird, die von der modernen Biotechnologie angeboten werden. Fehler- oder mangelhaftes genetisches Ausgangsmaterial könne durch die Verschaltung mit mechanischen, digitalen und medizinischen Medien perfektioniert werden. Insbesondere Neuro-Enhancement wäre das geeignete Mittel zur Steigerung von Wahrnehmungskapazitäten und kognitiven Fähigkeiten. So plädiert Stefan LorenzLorenz, K. SorgnerSorgner, Stefan Lorenz für die Anwendung von Enhancement-Technologien und meint, die moralischen Probleme, die sich im Zusammenleben von humanen, trans- und posthumanen Personengruppen – zwischen humanen MenschenMensch alter Art und Über-Menschen neuer Art („Cyborgs“) – ergeben könnten, durch abgestufte Definitionen von MenschenwürdeMenschenwürde entschärfen zu können. (Vgl. Sorgner 2010 und 2014)

 

2.5.3 SozialethikSozialethik

Die SozialethikSozialethik ist gewissermaßen das Gegenstück zur Individualethik, insofern sie die Rechte und Pflichten akzentuiert, die der einzelne nicht gegenüber sich selbst, sondern gegenüber der menschlichen Gemeinschaft hat, in der er lebt.

Da der Mensch ein soziales Wesen ist, das, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können, auf die Hilfe und Anerkennung anderer Menschen angewiesen ist, haben sich gewisse Formen des Zusammenlebens und -handelns etabliert bzw. institutionalisiert (Ehe, Familie, Gesellschaft, Staat etc.). Deren Ordnungsprinzipien sind aus den ethischen Grundprinzipien FreiheitFreiheit, GleichheitGleichheit, GerechtigkeitGerechtigkeit und MenschenwürdeMenschenwürde hervorgegangen und gebieten damit ein Verhalten, das nicht nur das physische Überleben der Mitglieder der Gemeinschaft ermöglicht, sondern auch zum größtmöglichen Glück und Wohlergehen aller beiträgt.

Gegen natürliche Neigungen und Veranlagungen wie EgoismusEgoismus/Selbstliebe, Neid, MachtstrebenMacht, Hass und dergleichen führt die Sozialethik Nächstenliebe, Mitleid, ToleranzToleranz, Rücksichtnahme und Solidarität ins Feld, um den Sozialisationsprozess als ein nicht bloß naturwüchsiges, sondern im Wesentlichen moralisches Geschehen zu erweisen, das einem unbedingten Anspruch genügen muss.

Die SozialethikSozialethik als »Ethik der gesellschaftlich übergreifenden Normen, Institutionen und sozialen Systeme« (Wilhelm KORFFKorff, W., Sozialethik, 1282) hat es demnach mit jenen Formen menschlicher Vergesellschaftung zu tun, die auf dem Boden eines freiheitlich-verantwortlichen Miteinandergehens mündiger Handlungssubjekte entstanden oder als solche zu rechtfertigen sind.

Die Diskussion in der Sexualethik als einem wichtigen Teilbereich der SozialethikSozialethik hat in den letzten Jahren zugenommen. Fragen wie die nach der Moralität außerehelichen Geschlechtsverkehrs, des Gebrauchs empfängsnisverhütender Mittel, sexueller Praktiken, homosexueller Betätigung usf. verlangen über die von den Kirchen festgelegten Richtlinien hinaus nach einer verbindlichen Antwort, die dem Recht auf individuelle Selbstbestimmung Rechnung trägt.

2.5.4 WirtschaftsethikWirtschaftsethik

Die ökonomische oder WirtschaftsethikWirtschaftsethik ist ein Teilgebiet der Sozialethik. Sie versucht, die ethischen Prinzipien eines guten Lebens mit den Ansprüchen des Wirtschaftshandelns auf Effizienz, Nutzenwachstum und Wertsteigerung zu verbinden. Angesichts der Umweltprobleme, mit denen wir uns heute als Folge eines rücksichtslos fortschreitenden Wirtschaftswachstums konfrontiert sehen, aber auch im Hinblick auf die durch Megafusionen und damit verbundene Rationalisierungsmaßnahmen knapper werdende Arbeit werden kritische Stimmen, die ein neues Leitbild einer gerechten und solidarischen Wirtschaftsordnung fordern, immer lauter. Nicht nur der einzelne ist aufgefordert, die Wirtschaftlichkeit seines Handelns über das Eigeninteresse (Profitsteigerung, Gewinnmaximierung) hinaus im Kontext der gesamtgesellschaftlichen PraxisPraxis selbstkritisch zu reflektieren; auch die Betriebe sollen Unternehmensethik betreiben, um damit einerseits ihrer VerantwortungVerantwortung sowohl gegenüber den Mitarbeitern (Führungsstil, Management, Mitspracherecht, Leistungsbewertung) als auch gegenüber den Kunden (Sach- und Preisgerechtigkeit der Waren) und den Konkurrenzbetrieben (Wettbewerbsbedingungen, Rivalitätsverhalten) nachzukommen, andererseits die schädlichen Nebenwirkungen der Warenproduktion so weit wie möglich zu reduzieren und für sie gemäß dem Verursacherprinzip aufzukommen. Peter KOSLOWSKIKoslowski, P. formuliert als wirtschaftsethischenWirtschaftsethik Imperativ:

Handle so, dass dein wirtschaftliches Handeln der Doppelaufgabe der Wirtschaft, die Menschen in effizienter Weise mit Gütern zu versorgen und einen zentralen Bereich menschlicher PraxisPraxis und Selbstrealisierung zu bilden, entspricht. (Prinzipien der Ethischen Ökonomie, 304)

Als Spezialthemen werden in der WirtschaftsethikWirtschaftsethik heute u.a. diskutiert (Peter ULRICHUlrich, P., Bernd BIERVERTBiervert, B., Karl HOMANNHomann, K., Peter KOSLOWSKIKoslowski, P.)

 Theorien ökonomischer und ethischer WerteWert,

 Möglichkeiten einer Beschränkung ökonomischer MachtMacht,

 ökonomische und ethische Güterlehre,

 ethische Verpflichtungen in der freien Marktwirtschaft,

 Legitimation zweckrationalen und technokratischen HandelnsHandeln/Handlung,

 ökonomische und moralische KompetenzKompetenz, moralische,

 Modelle einer integrativen WirtschaftsethikWirtschaftsethik,

 emanzipatorische Sozialpolitik.

2.5.5 WissenschaftsethikWissenschaftsethik

Die WissenschaftsethikWissenschaftsethik reflektiert den moralischen Anspruch, unter dem die Wissenschaftler Wissenschaft betreiben.

Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes lautet: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Das den Wissenschaftlern eingeräumte Recht auf freie Forschung und Lehre ist jedoch kein Freibrief für beliebige wissenschaftliche Untersuchungen und Experimente. Die FreiheitFreiheit der Wissenschaft muss wie jede andere FreiheitFreiheit verantwortet werden und ist somit rechtfertigungspflichtig.

Die VerantwortungVerantwortung des Wissenschaftlers ist eine doppelte: eine interne und eine externe. Seine interne VerantwortungVerantwortung wird ihm durch sein Berufsethos diktiert: herauszufinden, wie die von ihm erforschten Dinge sich in WahrheitWahrheit verhalten. Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung müssen einerseits nach den international geltenden Standards korrekten wissenschaftlichen Vorgehens erfolgen (es dürfen keine Daten manipuliert werden; die Ergebnisse müssen, z.B. durch trial-error-Verfahren, durchsichtig hergeleitet oder durch Experimente unter gleichen Bedingungen wiederholbar sein; Gesetzeshypothesen müssen sich jederzeit bestätigen lassen). Andererseits machen die Regeln des Fairplay, der Unbestechlichkeit und kritischen Distanz sowie Präzision und Zuverlässigkeit das Ethos des Wissenschaftlers aus.

Seine externe VerantwortungVerantwortung gegenüber der Gesellschaft besteht darin, dass er auf potentielle Risiken von Projekten aufmerksam macht, vor möglichen Gefahren durch Missbrauch warnt und auf Forschungen verzichtet, die voraussehbar schädigende, in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrem erhofften Nutzen stehende Folgen haben. Hans JONASJonas, H. plädiert für eine freiwillige »Selbstzensur der Wissenschaft im Zeichen der VerantwortungVerantwortung«, die »unserer so groß gewordenen Macht nicht erlauben darf, zuletzt uns selbst (oder die, die nach uns kommen) zu überwältigen« (Technik, Medizin und Ethik 80, 108).

2.5.6 Ökologische EthikEthikökologische

Am lautesten wurde in jüngster Zeit der Ruf nach Ethik vonseiten der Umweltschützer. Nachdem der Mensch die Erde systematisch ausgebeutet hat und die Schäden mittlerweile unübersehbar geworden sind, ist eine »neue Ethik der moralischen VerantwortungVerantwortung für die Umwelt« besonders dringlich geworden (F. FRASER-DARLINGFraser-Darling, F.: Die VerantwortungVerantwortung des Menschen für seine Umwelt, in: Ökologie und Ethik, 18). Eine solche Umweltethik macht ein Umdenken notwendig. Der Umgang mit der NaturNatur darf nicht mehr ausschließlich von menschlichen Interessen und Bedürfnissen her bestimmt werden. Es gilt, die »prometheische Überheblichkeit« abzulegen, um wieder eine Art »Ehrfurcht vor der NaturNatur« empfinden zu können (M. ROCKRock, M.: Theologie der Natur, in: Ökologie und Ethik, 83, 93). R. SPAEMANNSpaemann, R. präzisiert:

Es ist notwendig, die anthropozentrische Perspektive heute zu verlassen. Denn solange der Mensch die NaturNatur ausschließlich funktional auf seine Bedürfnisse hin interpretiert und seinen Schutz der NaturNatur an diesem Gesichtspunkt ausrichtet, wird er sukzessive in der Zerstörung fortfahren. Er wird das Problem ständig als ein Problem der Güterabwägung behandeln und jeweils von der NaturNatur nur das übrig lassen, was bei einer solchen Abwägung im Augenblick noch ungeschoren davonkommt. Bei einer solchen Güterabwägung im Detail wird der Anteil der NaturNatur ständig verkürzt. (Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Ökologie und Ethik, 197)

Kurt BAYERTZBayertz, K. weist der ökologischen EthikEthikökologisch drei vordringliche Ziele zu: (1) Sorgfältige Analyse der »Ursachen unserer aktuellen ökologischen Probleme, einschließlich der Ursachen für die Schwierigkeiten und Widerstände, die eine ›ökologische Wende‹ bisher verhindert haben«. (2) »Bereitstellung und Begründung von normativen Orientierungen unseres Handelns gegenüber der NaturNatur.« (3) Durchsetzung der normativen Orientierung in der Praxis (Ökologische Ethik, 7).

Die enge Verflochtenheit von außermenschlicher und menschlicher NaturNaturmenschliche erlegt den heute Lebenden bezüglich des Umgangs mit dem Ökosystem Erde Verpflichtungen auf, die aus einer Solidargemeinschaft mit allen Menschen, einschließlich unseren Nachkommen, erwachsen. Die ökologische EthikEthikökologische ist in dieser Hinsicht wesentlich Zukunftsethik.

Hans JONASJonas, H. weist in seinem Buch ›Das Prinzip VerantwortungVerantwortung‹ ausdrücklich darauf hin, dass die Menschen auch für die Zukunft verantwortlich seien und daher die PflichtPflicht hätten, ihre Handlungen unter der Perspektive eines menschenwürdigen Lebens für spätere Generationen zu überdenken. Seine ImperativeImperativ lauten:

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden; oder negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens; oder einfach: Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden; oder, wieder positiv gewendet: Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein. (Das Prinzip Verantwortung, 36)

Die Generationen nach uns haben ein »Recht auf ein bejahbares So-sein« (ebd., 89), und daraus ergibt sich für JONASJonas, H. die moralische Forderung, die der NaturNatur immanenten Zwecke und Werte zu erhalten und zu schützen (ebd., 150).

Dieter BIRNBACHERBirnbacher, D. hat entsprechend einen Katalog von PraxisnormenNorm formuliert, in denen sich die ZukunftsverantwortungVerantwortung der jetzigen Generationen artikuliert:

 Keine Gefährdung der Gattungsexistenz des Menschen und der höheren Tiere: kollektive Selbsterhaltung

 Keine Gefährdung einer zukünftigen menschenwürdigen Existenz: Nil nocere

 Erhaltung und Verbesserung der vorgefundenen natürlichen und kulturellen Ressourcen: Bebauen und Bewahren

 Unterstützung anderer bei der Verfolgung zukunftsorientierter Ziele: Subsidiarität

 Erziehung der nachfolgenden Generationen im Sinne der PraxisnormenNorm. (VerantwortungVerantwortung für zukünftige Generationen, Kap. 6, 197–240)

 

Die ökologische oder UmweltethikEthikökologische hat demnach die Aufgabe, eine veränderte Einstellung gegenüber der NaturNatur herbeizuführen, der gemäß die Menschen um ihrer selbst und um späterer Generationen willen aufhören müssen, die NaturNatur »wie ein Warenlager« zu behandeln (W. VAN DEN DAELEDaele, W. van den / W. KROHNKrohn, W.: Anmerkungen zur Legitimation der Naturwissenschaften, 418). Die VerantwortungVerantwortung des Menschen erstreckt sich auch auf den Bereich des Nichtmenschlichen, dem ein Eigenwert zuzugestehen ist, eine Unverletzlichkeit, an der das menschliche Verfügenwollen und -können seine Grenze haben muss.

Es bedarf einer alles Lebendige einschließenden Theorie ökologischer Gerechtigkeit (Beat SITTERSitter, B., 1987), die die Menschen um ihrer selbst willen dazu verpflichtet, sich zum Anwalt der NaturNatur zu machen und die dieser zustehenden Rechte stellvertretend für sie wahrzunehmen (Erhaltung der Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren, Tierschutz, Einschränkung von Tierversuchen in der Forschung, Respektierung der »Würde der Kreatur«) und dafür zu sorgen, dass die Umweltbedingungen insgesamt verbessert werden.

Eine weitere Aufgabe der ökologischen EthikEthikökologische besteht darin, eine »Makroethik der Menschheit auf der begrenzten Erde« zu entwickeln (K.-O. APELApel, K.-O.: Transformation der Philosophie II, 359). Es gilt dabei nicht nur, den menschlichen Lebensraum zu erhalten, sondern auch die Güter dieser Erde – sowohl die vorhandenen Ressourcen als auch die mit Hilfe von Maschinen erwirtschafteten bzw. hergestellten Produkte – gerecht zu verteilen. Um Hunger und Armut weltweit zu beseitigen, bedarf es einer Umverteilung dieser Güter, damit alle Menschen möglichst gleichmäßig an den Chancen und Privilegien des Wohlstands beteiligt werden können. Auch dies setzt freilich ein Umdenken voraus. Was bereits für die NaturNatur konstatiert wurde, hat erst recht im Hinblick auf den Mitmenschen unbedingte Gültigkeit: Eine schrankenlose Ausbeutung ist schlechterdings unmoralisch und ethisch zu verurteilen.