Einführung in die Ethik

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2.2 Disziplinen der theoretischen Philosophie

Die EthikEthik steht als Grunddisziplin der praktischen Philosophie in einem engen Verhältnis zu Politik, Rechtsphilosophie und Ökonomik, deren Normen sie vermittels des Moralprinzips auf ihre Berechtigung hin kritisch hinterfragt. Insofern ist sie von den normativen Disziplinen der Philosophie die fundamentalste – die normative Grundlagenwissenschaft schlechthin. Die EthikEthik hat es jedoch nicht nur mit normativen Fragen (was sein soll) zu tun, sondern auch mit Fragen, die sich auf die Faktizität (was ist) beziehen, denn von einem SollenSollen kann sinnvollerweise nur dort die Rede sein, wo etwas ist, das sich verändern, zum Besseren hin entwickeln kann. Wenn alles schon so, wie es ist, gut wäre, würden SollensforderungenSollen überflüssig.

Darüber hinaus muss die EthikEthik auch den wissenschaftlichen Anforderungen genügen, denen jede diskussionswürdige Theorie zu begegnen hat. Insofern steht die EthikEthik auch in einem Verhältnis zu Disziplinen der theoretischen Philosophie, insbesondere zu AnthropologieAnthropologie, Metaphysik und Logik. Theoretisch bedeutet hier: Der Schwerpunkt dieser Disziplinen liegt auf dem Wissen, nicht auf dem HandelnHandeln/Handlung. Um jedoch das Verhältnis von Moral und Moralität im Kontext menschlicher Praxis zureichend bedenken zu können, muss die EthikEthik wissen, wer bzw. was der MenschMensch als Adressat des moralischen Anspruchs ist: dazu wendet sie sich an die AnthropologieAnthropologie. Weiter muss sie wissen, welche Rolle der MenschMensch in der Gesamtheit des Seins spielt, welches Weltbild er hat: dazu wendet sie sich an die Metaphysik. Und drittens schließlich muss sie wissen, welche rationalen Hilfsmittel ihr zur Strukturierung normativer Sätze zur Verfügung stehen: dazu wendet sie sich an die Logik.

2.2.1 Anthropologie

Die philosophische AnthropologieAnthropologie (von griech. anthropos – MenschMensch, logos – Lehre) stellt die Frage nach dem Wesen des Menschen. Die

allem geschichtlichen Wandel vorausliegenden natürlichen Konstanten des Menschseins markieren den Ansatzpunkt der philosophischen Anthropologie, die insofern immer auch Naturphilosophie des Menschen ist, d.h. das Natürlich-Vorgegebene nicht im Geschichtlich-Kulturellen aufgehen lassen kann. …

Die Konstanz des Wesentlichen im Wandel der jeweiligen Konkretionen bleibt das Thema. Daher hat die AnthropologieAnthropologie auch keine Zukunftsbilder zu entwerfen, auf die hin die menschliche Entwicklung zu verlaufen hat, sie ist nicht normsetzend, keine praktische Wissenschaft, welche Prozesse in Gang setzt, sondern eine theoretische Wissenschaft, die mit phänomenologischer Sorgfalt alle Objektivationen des Menschen zu beschreiben und in einen Zusammenhang zu bringen hat. (C. GÜNZLERGünzler, C.: Anthropologische und ethische Dimensionen der Schule, 20,28)

Von der Antwort auf die Frage nach dem Wesen des MenschenMensch hängt für die Ethik sehr viel ab. Um dies an zwei Extremen aufzuzeigen:

 Wird der MenschMensch als ein bloßes Sinnenwesen definiert, das ausschließlich durch seine BedürfnisseBedürfnis und Triebe bestimmt ist, so wie dies z.B. die Behavioristen tun, indem sie menschliches Verhalten ausschließlich nach dem Schema ›Reiz und Reaktion‹ beobachten bzw. auswerten, dann ist Ethik von vornherein überflüssig, weil menschliches Handeln durch die Natur des MenschenMensch so vollständig determiniert wäre, dass für moralische Überlegungen, die ein freies Verfügenkönnen über sich selbst voraussetzen, kein Spielraum bliebe.

Die These vom Menschen als Produkt seiner Anlagen und Umweltverhältnisse wird u.a. von John HOSPERSHospers, J. vertreten:

Wie kann jemand für seine Handlungen verantwortlich sein, da diese doch aus einem Charakter entspringen, der durch Faktoren – zu einem gewissen Teil Erbfaktoren, zum größeren Teil jedoch Faktoren, die der frühkindlichen Umwelt entstammen – geprägt, geformt und zu dem, was er ist, gemacht worden ist, durch Faktoren, die er nicht selbst gemacht und die er sich nicht selbst ausgesucht hat? …

Gesetzt den Fall, dass solche spezifischen Faktoren entdeckt würden: wäre dann nicht evident, dass es töricht und sinnlos und außerdem unmoralisch ist, MenschenMensch für Verbrechen verantwortlich zu machen? …

Denn ebensowenig wie das neurotische hat das normale Individuum den Charakter, der es zu dem macht, was es ist, selbst verursacht. … Und wenn sich, anders als beim Neurotiker, sein Verhalten auch durch Überlegung und Einsicht ändern lässt, und wenn es genug Willenskraft besitzt, um die Effekte einer ungünstigen frühkindlichen Umwelt zu kompensieren, dann ist das nicht sein Verdienst; es hat GlückGlück gehabt. (Zweifel eines Deterministen, in: Texte zur Ethik, 330, 332, 334f.)

Man kann HOSPERSHospers, J. zustimmen, solange er seine These hypothetisch formuliert: Wenn es zutrifft, dass der MenschMensch ohne eigenes Zutun das ist, was er ist, dass er ausschließlich unter kausalmechanischen Zwängen agiert, die seiner Kontrolle entzogen sind, dann wäre es in der Tat sinnlos, sein Verhalten nach moralischen Kriterien zu beurteilen. Alles was man überhaupt tun könnte, bestünde darin, möglichst perfekte Konditionierungsmaßnahmen zu entwickeln, durch die die MenschenMensch optimal an ihre Umgebung angepasst würden1.

 Wird der MenschMensch dagegen als reines Vernunftwesen definiert, so ist Ethik ebenfalls überflüssig, denn als ausschließlich vernünftiger wäre der MenschMensch immer schon der, der er sein soll, und es bedarf keines Nachdenkens darüber, wie er ein guter MenschMensch werden kann.

Bezeichnenderweise hat niemand bisher ernsthaft die These vertreten, der MenschMensch sei sozusagen naturaliter schlichtweg vernünftig. Aber die UtopistenUtopie z.B. stellen mit ihren fiktiven Staats- und Gesellschaftsentwürfen die MenschenMensch in einem endgültigen, nicht mehr überbietbaren Endzustand dar, der keine Veränderung mehr zulässt, aber auch keiner Veränderung mehr bedarf, weil alles in bester Ordnung ist, sodass menschliches Handeln nur noch den per se vernünftigen status quo zu bestätigen braucht.

Ethik ist also nur dort sinnvoll, wo eine Spannung zwischen SeinSein und SollenSollen, Faktizität und Normativität besteht, und die meisten anthropologischen Entwürfe haben das Wesen des MenschenMensch aus diesem Spannungsverhältnis heraus als ein duales, in sich zweigeteiltes, gegensätzliches SeinSein (Sinnlichkeit-Vernunft, Leib-Seele, Körper-Geist) begriffen, das durch das Handeln des MenschenMensch mit sich selbst vermittelt und zur Einheit gebracht werden muss. Der Mensch ist weder ausschließlich Sinnen- noch ausschließlich Geistwesen; vielmehr versteht er sich als beides, wenn auch auf je verschiedene Weise. Die Frage, wie er von diesen beiden unterschiedlichen Aspekten her zur Identität mit sich selbst gelangen kann, hat von jeher die AnthropologieAnthropologie beschäftigt.

Während die einen (PLATONPlaton, ARISTOTELESAristoteles, DESCARTESDescartes, R., SPINOZASpinoza, B. de, KANTKant, I., HEGELHegel, G.W.F. u.a.) das Streben nach Einheit des MenschenMensch mit sich selbst als einen Prozess der VergeistigungVergeistigung, der Überwindung des Leiblich-Natürlichen deuteten, betonten die anderen (FEUERBACHFeuerbach, L., SCHELLINGSchelling, F.W.J., MARXMarx, K., KIERKEGAARDKierkegaard, S., NIETZSCHENietzsche, F., SCHOPENHAUERSchopenhauer, A. u.a.) die Leibgebundenheit des Geistes und dachten die Selbstidentifikation des MenschenMensch als einen Prozess der VerleiblichungVerleiblichung. Die Kategorien VergeistigungVergeistigung und VerleiblichungVerleiblichung deuten die Richtung und den Schwerpunkt an, unter dem das Verhältnis des MenschenMensch zu sich selbst anthropologisch reflektiert wurde.

Die moderne AnthropologieAnthropologie nun versucht, von einer empirisch gesicherten, biologisch nachprüfbaren Basis aus zu Erkenntnissen über die »NaturNaturmenschliche« des wirklichen MenschenMensch zu gelangen, aber auch hier begegnet der Dualismus von Leib und Geist unter anderen Vorzeichen von neuem, sei es, dass der MenschMensch konzipiert wird

 als werdender GottGott (SCHELERScheler, M.),

 als nicht eindeutiges Wesen, das als Rollenträger fungiert (PLESSNERPlessner, H.), oder

 als biologisches Mängelwesen, das seine Triebenergie zu gestalten, seine nicht festgelegte Natur durch selbstentwickelte Führungssysteme wie KulturKultur und MoralMoral zu formen vermag (GEHLENGehlen, A.).

Wie immer der MenschMensch anthropologisch im Einzelnen beschrieben wurde, es steht fest, dass er »mehr« als ein Tier und »weniger« als ein GottGott ist. Das spezifisch Humane seines Menschseins zeigt sich in dem, was er

als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht oder machen kann und soll. (I. KANTKant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke, Bd. 10, 399)

In diesem Punkt berühren sich AnthropologieAnthropologie und Ethik: Das Wesen des MenschenMensch kann nur unter einem ethischen Vorgriff auf das, was er idealiter sein kann und sein soll, zureichend anthropologisch definiert werden, so wie umgekehrt normative Leitbilder und Idealvorstellungen, die ein Handeln ethisch motivieren sollen, nur dann wirksam sein können, wenn sie an den anthropologisch aufgewiesenen Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins orientiert sind.

2.2.2 MetaphysikPhysik

Bedenkt die AnthropologieAnthropologie das Wesen des MenschenMensch, so bedenkt die klassische MetaphysikMetaphysik das »SeinSein des Seienden« und damit die Prinzipien alles dessen, was ist. Dies bedeutet eine erhebliche Erweiterung der anthropologischen Frage nach dem SeinSein des MenschenMensch. Die klassischen metaphysischen Systeme sind spekulative SinnentwürfeSinn der Gesamtwirklichkeit, in denen auch der MenschMensch und seine der göttlichen Tätigkeit analoge Praxis ihren Ort haben. In diesem Horizont würde die Ethik zu einem Teil der MetaphysikMetaphysik und wäre keine eigenständige Disziplin mehr.

 

Die MetaphysikMetaphysik ist seit ARISTOTELESAristoteles eine autonome philosophische Disziplin. ARISTOTELES gliederte die theoretische Philosophie in »erste« und »zweite« Philosophie. Während die zweite Philosophie als »PhysikPhysik« sich mit den Naturdingen befasst, sofern diese dem Prinzip der Bewegung unterstehen, untersucht die erste Philosophie das, was über die Naturdinge hinausgeht (ta meta ta physika), d.h. die allgemeinsten Voraussetzungen des Seienden schlechthin:

Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung. (Metaphysik 1025b 1ff.)

Die Ethik ist für ARISTOTELESAristoteles dadurch von der MetaphysikMetaphysik unterschieden, dass sie zwar auch ein Seiendes bedenkt, nämlich das faktische, geschichtliche, situationsgebundene SeinSein, im Hinblick auf das der MenschMensch handelt, aber dieses SeinSein ist weder das ewige SeinSein der jederzeit gültigen Prinzipien, auf das die Metaphysik reflektiert, noch das veränderliche SeinSein der Naturgegenstände, das die Physik untersucht, sondern eben das durch menschliches Handeln hervorgebrachte, durch PraxisPraxis auch wieder veränderliche SeinSein der Lebensverhältnisse. Insofern ist die Ethik für ARISTOTELES eine durchaus eigenständige, wenn auch nicht so hochrangige Wissenschaft wie die MetaphysikMetaphysik. Da für ihn aber letztlich die Tätigkeit des Philosophen, die Theoria, das metaphysische Wissen, die höchste Form von PraxisPraxis ist – also nicht die Tätigkeit des Arztes, des Lehrers, des Staatsmanns, sondern die des Philosophen –, fallen in dieser höchsten Form von PraxisPraxis, in der Theoria, MetaphysikMetaphysik und Ethik zusammen.

Nach ARISTOTELESAristoteles wurde bis hin zu KANTKant, I. die MetaphysikMetaphysik unterteilt in allgemeine (metaphysica generalis) und besondere MetaphysikMetaphysik (metaphysica specialis). Die allgemeine MetaphysikMetaphysik war als OntologieOntologie (= Lehre vom SeinSein) die Grundlagenwissenschaft für die spezielle MetaphysikMetaphysik, die sich in KosmologieKosmologie, PsychologiePsychologie und TheologieTheologie (Lehre von der Welt, der Seele, von Gott) untergliedert.

Eine metaphysische Ethik thematisiert also auf der Grundlage eines umfassenden metaphysischen Ansatzes einen Teilbereich des Wissens im Ganzen, indem sie das moralische Wissen auf seine Bedingungen reflektiert, d.h. Ethik wird hier als ›MetaphysikMetaphysik der Sitten‹ (wie KANTKant, I. sich später ausdrückt) betrieben, als eine Spezialdisziplin der MetaphysikMetaphysik also, die die Bedeutung menschlichen Handelns im Kontext einer umfassenden Deutung der Welt zu erschließen versucht.

René DESCARTESDescartes, R. geht sogar so weit zu behaupten, dass eine Ethik als Wissenschaft erst möglich ist, wenn das System der MetaphysikMetaphysik im Sinne einer alles umfassenden Universalwissenschaft vollständig ausgeführt und alles menschliche Wissen auf ein oberstes Prinzip zurückgeführt ist. Solange nicht feststeht, ob der MenschMensch überhaupt WahrheitWahrheit zu erkennen vermag oder ob er nicht vielmehr ständig von einem allmächtigen bösen Geist getäuscht wird, solange das höchste, alle WahrheitWahrheit garantierende Prinzip menschlichen Wissens noch nicht gefunden und sichere Erkenntnis geworden ist, solange kann es auch keine Ethik geben, die eine verbindliche Antwort auf die Frage gibt, was der MenschMensch tun soll.

Daher plädiert DESCARTESDescartes, R. für eine »provisorische MoralMoral« als Not- und Übergangslösung, bis es der MetaphysikMetaphysik gelungen ist, das Fundament allen Wissens schlechthin zu sichern und damit auch eine Ethik als Wissenschaft von der rechten MoralMoral zu begründen (vgl. Abhandlung über die Methode, Kap. 3). Bei DESCARTES ist somit Ethik als Wissenschaft nur auf der Basis von MetaphysikMetaphysik möglich. Wenn man jedoch genau hinschaut, so zeigt sich, dass die metaphysische Basis nichts anderes ist als die Lösung der anthropologischen Frage ›Was ist der MenschMensch?‹, wie ist sein Erkenntnisvermögen beschaffen, wo liegen seine Grenzen? Für DESCARTES lässt sich die ethische Frage nach dem Sollen erst zureichend beantworten, wenn die Frage nach dem SeinSein gelöst ist, wobei er unter SeinSein nicht mehr das kosmisch-ontologische SeinSein der griechischen Philosophie verstand, sondern das sich menschlichem Wissen erschließende SeinSein, ein den Strukturen des menschlichen Bewusstseins entsprechendes SeinSein: also ein durch Subjektivität konstituiertes SeinSein.

Die zeitgenössische Ethik versucht dagegen – wie dies der Titel des bereits erwähnten kleinen Buchs von Günther PATZIGPatzig, G. anschaulich macht –, »Ethik ohne MetaphysikMetaphysik« zu betreiben, weil – wie Walter SCHULZSchulz, W. in seinem »Aufriß einer zeitgemäßen Ethik« ausführt – die geschlossenen metaphysischen Weltbilder für uns dahin sind und daher die

Möglichkeit, die Ethik von einer MetaphysikMetaphysik der ontologischen Seinsstrukturen, die dem MenschenMensch vorgegeben sind, her zu fundieren,

unwiederholbar, ja irreal sei (Philosophie in der veränderten Welt, 700).

Um es vielleicht etwas überspitzt, aber pointiert auszudrücken: Im Sinne von SCHULZSchulz, W., PATZIGPatzig, G. und einigen anderen könnte man fragen, was hilft uns eine Untersuchung des SeinsSein im Ganzen, wenn uns wichtige moralische Probleme auf den Nägeln brennen, für die die Ethik auch dann eine Lösung finden müsste, wenn sie nicht auf metaphysische Gesamtentwürfe zurückgreifen kann, die zwar unter dem Gesichtspunkt eines totalen systematischen ErkenntnisinteressesErkenntnisinteresse unverzichtbar sein mögen, zur Problematik der Frage nach dem guten HandelnHandeln/Handlung aber nur mittelbar etwas beitragen. KANTKant, I.s Metaphysikkritik hatte noch einem bestimmten Modell von MetaphysikMetaphysik gegolten, nämlich dem der rationalen MetaphysikMetaphysik, die die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände (wie z.B. Gott, Seele, Welt) behauptete, und dem er sein Modell einer kritischen MetaphysikMetaphysik, »die als Wissenschaft wird auftreten können«, entgegensetzte.

Die MetaphysikMetaphysik teilt sich in die des spekulativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft, und ist also entweder MetaphysikMetaphysik der Natur, oder MetaphysikMetaphysik der Sitten. Jene enthält alle reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschließung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge; diese die Prinzipien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen. Nun ist die MoralitätMoralität/Sittlichkeit die einzige Gesetzmäßigkeit der HandlungenHandeln/Handlung, die völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann. Daher ist die MetaphysikMetaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird. (Kritik der reinen Vernunft, A 841f./B 869f.)

Dagegen wird heute vor allem im angelsächsischen Sprachraum MetaphysikMetaphysik vielfach insgesamt als sinnlose Verdoppelung der Welt abgetan und ihre Stelle durch WissenschaftstheorieWissenschaftstheorie ersetzt die ihre Kriterien zur Beurteilung der Wissenschaftlichkeit einer Theorie im Hinblick auf die empirisch verfahrenden Naturwissenschaften zu gewinnen versucht.

So berechtigt die heutige Metaphysikkritik hinsichtlich einzelner metaphysischer Thesen oder Theoreme sein mag, und so verdienstvoll vor allem die Sprachkritik ist, weil sie deutlich gemacht hat, dass manche metaphysische Fragestellung sich von selbst auflöst, wenn man sieht, dass durch die SpracheSprache selber künstliche Probleme geschaffen werden, indem man z.B. Verben substantiviert (SeinSein, Werden, Sollen) und damit diesen Abstrakta stillschweigend eigene Gegenstände unterschiebt (»hypostasiert«), die ebenfalls, wenn auch auf eine ganz andere Weise, existieren sollen, so berechtigt also manche Kritik an der herkömmlichen MetaphysikMetaphysik sein mag, übersehen doch die zumeist positivistisch orientierten modernen Metaphysikgegner in der Regel, dass metaphysische Aussagen weder der Phantasie entspringen noch zu einem in sich abgeschlossenen spekulativen System gehören müssen. In einem gewissen Sinn ist nämlich jede These, die über unmittelbar Gegebenes hinausgeht, meta-physisch, d.h. sie enthält Momente einer gedanklich-begrifflichen Konstruktion, die als solche in der »WirklichkeitWirklichkeit« nicht vorhanden sind.

Das, was wir WirklichkeitWirklichkeit nennen als Inbegriff dessen, worin wir leben, steht uns nicht so gegenüber wie dem Bildhauer der Stein, aus dem er eine Statue herausmeißelt; vielmehr ist WirklichkeitWirklichkeit immer schon ein geformtes, partiell vorgeformtes Ganzes, ein Bestimmungsgefüge oder Interpretationszusammenhang, in den die Erfahrungen, ja die Geschichte der MenschheitMensch integriert sind. Die WirklichkeitWirklichkeit begegnet somit nie pur, sondern immer schon als begrifflich-sprachlich vermitteltes, in bestimmten Kategorien beurteiltes und gedeutetes Sinnganzes. In diesem Sinn enthält auch jede Ethik metaphysische Sätze, sofern sie Begriffe wie Humanität, FreiheitFreiheit, MoralitätMoralität/Sittlichkeit, GerechtigkeitGerechtigkeit, GleichheitGleichheit usf. gebraucht, um das Qualitative menschlicher Praxis, das weder sinnlich wahrnehmbar noch sonst wie unmittelbar gegeben ist, begrifflich zu konstruieren, wobei gerade nicht die Konstruktion der WirklichkeitWirklichkeit, sondern die WirklichkeitWirklichkeit der Konstruktion entsprechen soll: Das Faktische wird am normativen Anspruch gemessen, und die Überprüfung der Berechtigung des normativen Anspruchs wiederum ist nur möglich in einer ethischen Reflexion auf das Prinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit, dem nichts Empirisch-Faktisches entspricht, das sich aber gleichwohl in der Weise des SinnentwurfsSinn, der Bewertung auf das Faktische bezieht. Es soll also in der Ethik nicht das Empirisch-Faktische, sofern es Produkt menschlicher Praxis ist, metaphysisch auf den Begriff gebracht werden, sondern im Hinblick auf die empirische Realität, sofern sie von MenschenMensch hervorgebracht und nicht schon so, wie sie ist, schlechthin gut ist, soll ein Prinzip entwickelt werden, das es erlaubt, die von MenschenMensch geschaffene Realität kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie ethischen Ansprüchen genügt, ob sie also human ist oder nicht.