Handbuch E-Learning

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Modulentwicklung in Projektgruppen

Durch den arbeitsteiligen Prozess der Konzeption und Umsetzung eines E-Learning-Moduls verändern sich traditionelle Arbeitsprozesse: Im Gegensatz zur Vorbereitung von Präsenzlehrveranstaltungen, für deren Durchführung meist ein einzelner Dozent allein verantwortlich ist, ist ohne ein Team „ein Vorhaben wie Blended Learning, das multiple Kompetenzen erfordert, kaum zu schultern“ (Reinmann-Rothmeier 2003, 93). In größeren Projekten gibt es meist nicht nur einen Auftragnehmer und einen Auftraggeber; benötigt werden auch unterschiedliche Kompetenzen, die in der Regel auf verschiedene Personen in interdisziplinär besetzten Projekt­gruppen verteilt sind. Kerres (2013, 263 ff.) nennt u. a. folgende zu berücksichtigenden Bereiche: Projektmanagement, didaktisches Design, IT- bzw. Software-Entwicklung, Interaktions- und Mediendesign sowie Sachexpertise. Für solche umfangreicheren Projekte können auch größere Teams von Instructional Designern sinnvoll sein, die sowohl für die Konzeption als auch für die technische Umsetzung multimedialer Lernmaterialien zuständig sein können. Doch in den meisten Hochschulen bestehen die Teams oft immer noch vor allem aus studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeitenden oder binden Mitarbeitende von E-Learning-Kompetenzzentren ein. Damit nicht das Gefühl entsteht, überfordert oder ausgenutzt zu werden, ist es für die Beteiligten wichtig, die jeweiligen Verantwortlichkeiten festzulegen und die zeitlichen Ressourcen zu planen. Dabei sind auch die Schnittstellen zu berücksichtigen, die sowohl organisationsintern als auch extern (z. B. zu Produktionsfirmen) notwendig sind.

Die Zusammenarbeit in Teams verläuft nicht immer reibungslos. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit kann durch verschiedene Maßnahmen unterstützt werden: etwa durch eine kompetenzorientierte Auswahl der Projektmitarbeiter und entsprechende Aufgabenzuweisung sowie die Gewährleistung eines gemeinsamen und indivi­duellen Nutzens der Projektergebnisse (Reinmann-Rothmeier 2003, 96 ff.). Für die Projektleitung werden u. a. empfohlen: transparenter, zielorientierter Führungsstil, persönliche Vereinbarungen und Rückmeldungen, Aufstellen und Beachten von Gruppenregeln, Verminderung von Reibungsverlusten, konstruktiver Umgang mit Konflikten durch frühzeitige Wahrnehmung und schnelle Entwicklung von Lösungsstrategien. Zudem sollte ein abgestimmter Projektplan erstellt werden, der Verantwortlichkeiten, Meilensteine und Zeitpläne festlegt (ebd.).

4.2 Grundlagen der Konzeption von E-Learning-Modulen
Gestaltungsmöglichkeiten als Orientierungsgrundlage

Was gehört zur Konzeption von E-Learning-Modulen? Welches Verständnis von Lehren und Lernen bildet die Grundlage dafür? Welche Bedeutung hat die Auswahl der Medien und die Gestaltung von Lernmaterialien im Gesamtkontext? Und welche Tätigkeiten sind zur Entwicklung eines Konzepts erforderlich? Die folgende Übersicht gibt eine Orientierung in den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten von E-Learning, indem sie die Beziehung zwischen der Rolle der Medien im Lernprozess, den damit verbundenen Anforderungen an die Lernenden, den Aufgaben der Mediengestalter und der Rolle der Betreuer der Lernprozesse darstellt. Sie zeigt zudem, wie weitreichend das Aufgabenfeld der Personen ist, die das Kurskonzept entwickeln, bzw. wie unterschiedlich die Anforderungen an sie verstanden werden können.

Tab. 4.1: Drei Varianten des E-Learning (in Anlehnung an Reinmann-Rothmeier 2003, 35)


Rolle der Medien für den Lernprozess Verständnis von E-Learning und Anforderungen an die Lernenden Aufgaben der Entwickler Rolle der Betreuer
Distribution von Informationen selbst gesteuerte Infor­mationsrezeption und -verarbeitungMedienkompetenzausreichendes Vorwissenhohes Anforderungs­niveau lernerfreundliche Informations­gestaltung keine Betreuer notwendig
Interaktion zwischen Nutzer und System angeleitete Informations­erarbeitungselbst organisiertes ÜbenMotivationeher niedriges Anforderungsniveau lernerfreundliche Informations­gestaltungGestaltung von Lernaufgaben und Übungen, Feedback und Antworten Betreuer als Lern­berater oder Tele­tutoren
Kollaboration zwischen Lernenden eigenständige Wissenskonstruktionsoziales Problem­lösenSelbststeuerungs­fähigkeitMedienerfahrungsehr hohes Anforderungsniveau lernerfreundliche Informations­gestaltungGestaltung von Lernaufgaben und Übungen, Feedback und AntwortenGestaltung von Gruppenaufgaben, Einbeziehen sozialer Kontexte Betreuer als Initiatoren und Begleiter von Gruppenprozessen

Ein idealtypisches virtuelles Lernmodul sollte immer umfassende, bestenfalls auch kooperativ zu bearbeitende Lernaufgaben (Kap. 4.2.2) und Interaktionen mit den digi­talen Medien enthalten. Weitere konstitutive Elemente sind das Einbeziehen sozialer Kontexte und die Betreuung der Lernenden, auch in individuellen Lernsituationen.

Notwendige Kenntnisse und Kompetenzen

Die Planung solcher Bildungsarrangements erfordert andere Kenntnisse und Kompetenzen als die Planung klassischer Präsenzlehrveranstaltungen. Grundlegend dafür sind:

 Kenntnisse über den Ablauf und die Kompetenzen zur Gestaltung von Lernprozessen,

 Kompetenzen zur Organisation und (zeitlichen) Strukturierung virtueller Kurse,

 Kompetenzen zur Gestaltung und Strukturierung digitaler Lernmaterialien sowie

 technische Grundlagenkenntnisse.

Diese Themenbereiche werden im Folgenden zunächst getrennt voneinander dargestellt. Bei der Konzeption von Modulen müssen die Bereiche jedoch wechselseitig aufeinander bezogen werden, damit Lernprozesse durch die Auswahl bestimmter Lernszenarien und Formen der Materialaufbereitung gezielt unterstützt werden können. Ein Modell dazu wird in Kap. 4.4.2 vorgestellt.

4.2.1 Lerntheoretische Grundlagen

Als Lerntheorien werden hier bestimmte, zu einem System zusammengefasste Auffassungen darüber verstanden, was Lernen und Wissen ist und wie der Prozess der Aneignung des Wissens verläuft. Kenntnisse über Lerntheorien und deren kritische Diskussion (Faulstich 2014) sind für die Entwicklung von virtuellen Lehr- und Lernarrangements von großer Bedeutung, weil sich Annahmen über Wissen und Lernen – bewusst oder unbewusst – immer auf die Gestaltung der Lernsituationen und der Lernsoftware auswirken (Hense/Mandl 2009; Kopp/Mandl 2009; Rey 2009). Im Zusammenhang mit virtuellen Lehr- und Lernarrangements werden als zugrunde liegende Lerntheorien häufig Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus sowie seit 2005 auch Konnektivismus genannt. Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt und um die subjektwissenschaftliche Lerntheorie ergänzt. Dabei wird jeweils auch gezeigt, welche Bedeutung die Lerntheorien für die Konzeption von E-Learning-Modulen haben.

Behaviorismus

Die behavioristische Lerntheorie versteht Wissen als objektive, extern von den Lernenden existierende Fakten. Denk- und Verstehensprozesse werden nicht betrachtet, sondern als Blackbox bezeichnet. Die Steuerung des Lernens geschieht durch Hinweisreize und Verstärkung von erwünschtem Verhalten. Lernen wird also als Reiz-Reaktions-Schema gedeutet. Die Erzeugung bedingter Reflexe auf vorangegangene Reize, wie sie Pawlow (1849–1936; vgl. z. B. Pawlow 1927, 1928) bei seinen bekannten Experimenten mit Versuchstieren hervorrief, wird als klassisches Konditionieren bezeichnet. Nach Skinner (1904–1990) können jedoch auch Reaktionen auf zu erwartende nachfolgende Ereignisse eintreten (operantes Konditionieren oder instrumentelles Lernen), dabei wirken Belohnungen stärker als Sanktionen.

In seinem 1958 vorgestellten behavioristischen Konzept der Programmierten Unterweisung betrachtet Skinner Unterricht als streng aufeinander aufbauende Abfolge von kleinen Frage-Antwort-Sequenzen mit sich steigerndem Schwierigkeitsgrad, auf die sofort eine Rückmeldung gegeben wird. Dieses Prinzip wurde auf die ersten computerbasierten Lernprogramme übertragen. Die auf der Grundlage der Programmierten Instruktion entwickelten unterschiedlichen Varianten (vorwiegend) linea­rer Lernprogramme werden als tutorielle Systeme, Tutorials oder Drill-and-Practice-Programme bezeichnet. Als problematisch erwies sich mit der Zeit die Inflexibilität dieser Programme durch die strenge Steuerung, die keine individuellen Lernwege erlaubt. Geeignet sind sie vor allem zum Erreichen einfacher Lernziele, zum Erwerb von Faktenwissen oder memorierbarem Wissen, nicht jedoch zum Erwerb von Problemlösefähigkeit. Dennoch findet man diesen lerntheoretischen Hintergrund immer noch häufig, „vor allem bei handelsüblicher Lernsoftware, beispielsweise in Form von ‚Drill-and-Practice‘-Programmen zum Mathematik- oder Vokabellernen“ (Glaser/Weigand/Schwan 2009, 193).

 

Inzwischen wird jedoch auch betont, dass der Vorwurf, behavioristische Konzeptionen hätten eine passive Vorstellung von Lernen, Skinners Intention der Aktivierung der Lernenden gerade nicht entspricht. Kerres/de Witt (2002, 3 ff.) vermuten, dass dies auch daran liegen könnte, „dass die seinerzeit entwickelten Lehrmaschinen technisch sehr eingeschränkte Möglichkeiten für ‚Aktivitäten‘ der Lernenden vorsahen“, und weisen darauf hin, dass Skinner die in solchen Programmen oft verwendeten Multiple-Choice-Fragen aus theoretischer Perspektive mit der Begründung ablehnte, dass damit den Lernenden immer auch eine falsche Antwortalternative angeboten werde, die sich ihnen möglicherweise einprägt. Sie stellen daher die Frage, „ob die Anwendung der entsprechenden Prinzipien in den frühen Lehrmaschinen tatsächlich gelungen ist und ob nicht gerade neuere Anwendungen aus dem Bereich Computersimulation/-spiele und VR [Virtuelle Realität] interessante Anknüpfungspunkte für eine erneute und vorurteilslose Beschäftigung mit Konzepten des Behaviourismus bieten“ (ebd.).

Kognitivismus

Aus kognitivistischer Perspektive wird Lernen als (individueller) Informationsverarbeitungsprozess von extern und objektiv vorhandenen Fakten verstanden. Aufnahme und Verarbeitung von Wissen geschieht durch den Aufbau mentaler Modelle bzw. Schemata. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum Behaviorismus ist die zentrale Rolle, die dabei die selbstständigen Denk- und Verstehensprozesse des Individuums in Auseinandersetzung mit der Umwelt spielen und die als so bedeutend erachtet werden, dass mit der zunehmenden Orientierung am Kognitivismus seit den 1960er-Jahren von einer kognitiven Wende gesprochen wird. Piaget (1896–1980) als führender Vertreter kognitiver Entwicklungstheorien beschreibt Lernen als zwei unterschiedliche Austauschprozesse des Individuums mit der Umwelt: die Akkomodation als Anpassung bestehender persönlicher Schemata an die Umwelt und die Assimilation als Anwendung persönlicher Schemata zur Veränderung der Umwelt (Piaget 1974; Batinic/Appel 2008).

Mit dem Verständnis von Lernen als Informationsverarbeitung entsteht eine enge Verbindung des Kognitivismus zum Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz. Damit verbunden ist der Versuch, Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) bzw. adaptive Lernumgebungen (Horizon 2015, 44 f.) zu entwickeln. Trotz einiger gelungener Prototypen werden diese jedoch vor allem aus pädagogischer und lernpsychologischer Perspektive immer noch eher kritisch beurteilt, nicht zuletzt, weil „der mit der Entwicklung verbundene Aufwand in keiner Relation zum erwarteten Nutzen steht“ (Klauer/Leutner 2007, 307; siehe auch Niegemann u. a. 2008, 12; Schulmeister 2004, 140 ff.; Kerres/de Witt 2002; Kap. 5.2.1).

Jedoch wird mit dem Kognitivismus auch entdeckendes, von Neugier geleitetes und selbst gesteuertes Lernen, Explorieren, eigenes Finden und Ordnen von Informationen mit dem Ziel der Findung von Problemlösungen stärker betont. Angewendet auf computerunterstütztes Lernen sind damit reichere Lernumgebungen und das Angebot offener Lernwege sowie das Angebot von Simulationen, virtuellen Laboren, Hypermedia und Mikrowelten verbunden, ebenso die Notwendigkeit von Metawissen der Lernenden über die eigenen Lernziele und -wege (Blumstengel 1998).

Konstruktivismus

Der Begriff Konstruktivismus ist vieldeutig und vielschichtig (Terhart 1999). Der radikale Konstruktivismus ist eine Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie, der zufolge alles, was der Mensch wahrnimmt, subjektive Konstruktion und Interpretation ist (Glasersfeld 1987). Wie auf viele andere Disziplinen hatte der Konstruktivismus im letzten Jahrzehnt auch auf die Pädagogik – oft in seiner gemäßigten Form – starken Einfluss. Zentral ist dabei die Annahme, dass Wissen nicht objektiv vorhanden ist, sondern durch interne subjektive Konstruktion entsteht. Lernen wird nicht – wie im Kognitivismus – als Informationsverarbeitung, sondern als Konstruktion eines aktiven, lernenden Individuums in einem konkreten sozialen Kontext verstanden. Betont wird deshalb auch das eigenständige Entdecken von Problemen. Die Bildung von trägem Wissen (das nur zu Prüfungszwecken gelernt wurde) bzw. der mangelnde Praxistransfer sollen damit vermieden werden. Neues Wissen wird dabei mit vorherigem Wissen verknüpft, wodurch neue Strukturen und mentale kognitive Landkarten gebildet werden. Lernwege sind damit nach konstruktivistischer Auffassung individuell, nicht vorhersehbar und nicht vermittelbar; Lehren im allgemein üblichen Verständnis ist dementsprechend nicht möglich, stattdessen wird von Lern­begleitung gesprochen.

Konstruktivistische Prinzipien der Gestaltung von Lernsituationen

Aus konstruktivistischer Perspektive sind die folgenden Prinzipien für die Gestaltung von Lernsituationen wichtig (Blumstengel 1998; Reinmann-Rothmeier/Mandl/Prenzl 1994, 46; Mandl/Gruber/Renkl 2002, 143 ff.):

 Die Authentizität der Lernumgebung – im Gegensatz zu der oft üblichen Vereinfachung und Reduktion – wird als wichtiges Mittel betrachtet, Praxistransfer zu ermöglichen und der Bildung von trägem Wissen durch die Einbettung in einen Anwendungskontext entgegenzuwirken.

 Situierte Anwendungskontexte: Aus der Annahme, dass die Lernsituation eine zentrale Rolle bei der Wissenskonstruktion spielt und Sachverhalte immer in Verbindung mit physischen und sozialen Kontexten gelernt werden, ergibt sich die Anforderung, Lernen in soziale und anwendungsbezogene Kontexte einzubinden, die zwar nicht die ganze Komplexität des Gegenstands präsentieren müssen, es jedoch ermöglichen sollen, ihn in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.

 Multiple Anwendungskontexte und Perspektiven sollen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Stoff dienen und den Transfer auf andere Gebiete unterstützen.

 Komplexe Ausgangsprobleme, die sowohl an die Erfahrungen der Lernenden anknüpfen als auch genügend Neuigkeitswert haben, sollen als Herausforderung dienen, eine oder mehrere Lösungen zu finden, um eine vorrangig auf Prüfungsergebnisse ausgerichtete Lernmotivation zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen.

 Sozialer Kontext: Wesentlicher Bestandteil der Lernsituation ist die Beziehung der Lernenden untereinander sowie zu Lehrenden und Fachexperten. Gefördert werden sollen das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen und der soziale Austausch.

 Artikulation und Reflexion unterstützen zum einen die Auseinandersetzung zwischen eigener und fremder Sichtweise, zum anderen den Prozess der Metakogni­tion. Beide tragen dazu bei, allgemeine Problemlösungsstrategien zu entwickeln.

Gestaltungsformen von Lernsituationen auf konstruktivistischer Basis

Die im Folgenden knapp zusammengefassten, für virtuelles Lernen als relevant betrachteten Gestaltungsformen berücksichtigen diese Prinzipien in unterschiedlicher Weise:

 Anchored Instruction: Der Ansatz wurde von der Cognition and Technology Group an der Vanderbilt University entwickelt (Bransford u. a. 1990). Zentrale Vorstellung dabei ist, dass mit einer möglichst authentischen und komplexen Aufgabe oder Ausgangssituation ein Anker bei den Lernenden gesetzt wird, dessen Funktion es ist, die Bildung von trägem Wissen zu vermeiden.

 Cognitive Apprenticeship: Dieser Ansatz will das Modell der traditionellen Aus­bildung im Handwerk auch auf intellektuelle Aufgabenstellungen übertragen und integriert damit auch die sich sukzessive erweiternde Teilnahme der Lernenden an der Expertengemeinschaft. Der soziale Kontext, das gemeinschaft­liche Arbeiten und Anwenden und die Einbindung der Lernenden in Expertengruppen werden damit zum wesentlichen Bestandteil der Lernsituation (Col­lins/Brown/Newman 1989).

 Cognitive Flexibility: Das diesem Ansatz zugrunde liegende Konstrukt zur Beschreibung der Anforderungen an kognitive Strukturen und kognitive Prozesse bei der Verarbeitung von Informationen wurde von Spiro u. a. (1988) entwickelt (siehe Spiro/Jehng 1990; Spiro u. a. 1992). Um kognitive Flexibilität zu fördern und Übervereinfachungen zu vermeiden, sollen die Lernenden multiple Perspektiven einnehmen; Lerninhalte sollen auf vielfältige Weise kognitiv repräsentiert und gespeichert werden (Mandl/Gruber/Renkl 2002; Weidenmann 2002b).

Kritik konstruktivistischer Konzepte

Die Kritik an konstruktivistischen Konzepten als Grundlage bei der Entwicklung virtueller Lernarrangements bezieht sich u. a. auf die hohen Anforderungen an die Lernenden, die durch die Komplexität und durch die ausschließliche Steuerung durch die Lernenden selbst entstehen. Solche Konzepte können zur Konzentration auf weniger wichtige Teilaspekte führen und sind daher nicht für alle Lernsituationen und für alle Lernenden geeignet. Zudem ist mit diesen Konzepten ein sehr hoher Entwicklungsaufwand verbunden, gleichwohl können sie den Anspruch an völlige Authentizität nie vollständig einlösen.

Als wesentliche Anregungen ergeben sich daraus die Schaffung von Angeboten für selbst gestaltete Lernprozesse durch reichhaltige Lernumgebungen sowie die Bereitstellung von Angeboten und Anregungen für aktives und entdeckendes Lernen (Blumstengel 1998; Euler 1999).

Systemisch-konstruktivistische Ansätze

In den vergangenen Jahren wurde der gemäßigt konstruktivistische Ansatz auch im deutschsprachigen Raum über die bis dahin vorherrschenden kognitivistischen und individualistischen Grundannahmen hinaus in verschiedene systemisch-konstruktivistische Richtungen weiterentwickelt. So weist etwa der emotionale Konstruktivismus (Arnold, R. 2005, 2009; Arnold/Arnold-Haecky 2009) darauf hin, dass konstruktive kognitive Lernprozesse immer emotional eingebettet sind, denn die subjektive Konstruktion von Welt beruhe immer auch auf früh erworbenen emotionalen Mustern. Bei der Gestaltung von Lernsituationen muss dies ebenso berücksichtigt werden wie die Selbstreflexion dieser Muster, die zur Entwicklung indivi­dueller emotionaler Kompetenz notwendig ist. Soziokulturelle konstruktivistische Ansätze fokussieren den Einfluss von sozialen bzw. kulturellen Systemen auf die Konstruktion von Wirklichkeit (z. B. Schmidt 1994). So geht auch der interaktionistische Konstruktivismus (Reich 1998a, 1998b, 2006) von einer Wechselwirkung zwischen der sozial-kulturellen Lernumgebung und dem subjektiven Handeln der Lernenden aus. Er beschreibt Lernen als einen Dreischritt von Rekonstruieren, Konstruieren und Dekonstruieren von Welt, das am wirkungsvollsten ist, wenn es selbst gesteuert erfolgt. Dazu sind jedoch Methodenkompetenzen und die Beherrschung von Kulturtechniken erforderlich, die erst erlernt werden müssen (z. B. die Auswertung von Informationsquellen, zu denen auch das Internet, Datenbanken usw. gehören). Für Lehrende ergibt sich daraus die Anforderung, reichhaltige Lernumgebungen zur Verfügung zu stellen und gemeinsam mit den Lernenden Lernsituationen zu entwickeln (vgl. Arnold/Gómez Tutor 2007), die die Lernenden zu einer Auseinandersetzung mit ihrer subjektiven Wirklichkeitskonstruktion ermutigen, indem sie Diskrepanzerfahrungen zu der gerade wissenschaftlich und gesellschaftlich konsensfähigen Wirklichkeit ermöglichen und zu deren produktiver Überwindung anregen. Die Integration digitaler Medien in situierte Lernsituationen wird dabei umso wichtiger, je stärker sie sich ausbreiten und gesellschaftlich an Bedeutung gewinnen.