Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue
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Anne-Laure Daux-Combaudon / Anne Larrory-Wunder

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / Aspects syntaxiques, sémantiques et textuels

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8386-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0246-9 (ePub)

Inhalt

  Irmtraud BehrZum 67. Geburtstag

  Einleitung Literatur

  „Kurze Formen“ in der Sprachtheorie / Les « formes brèves » dans la théorie linguistique

 ‚Kürze‘ und kurze Formen in der Geschichte der deutschen Grammatikographie1 Die Bedeutung kurzer bzw. kürzerer Formen im 17. und 18. Jahrhundert2 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Christian Friedrich Hempels Erleichterte Hoch-Teutsche Sprach-Lehre […] (1754)3 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Max Wilhelm Götzingers Die deutsche Sprache (1836–1839)3.1 „Offene“ Ellipsen und „versteckte“ Ellipsen3.2 Veränderungen von ‚Valenz‘-Eigenschaften durch elliptische Prozesse in der Diachronie und Synchronie3.3 „Weglassung des schon Gesagten“3.4 „Logische Ellipsen“3.5 „Zusammenziehung“ und „Verschmelzung“3.6 Auslassung, Verschmelzung und Ellipsen in Komposita4 SchlussLiteratur

  Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht 1 Problemstellung 2 Verblose, in- und afinite Sätze als overte und coverte Ellipsen 3 Sätze ohne finites Verb als nichtelliptische Syntagmen 4 Afinitheit im kurzen historischen Aufriss 5 Afinitheit als textsortenspezifisches Phänomen 6 Typologie und Textgrammatik afiniter Sätze in historischen Texten 7 Rückblick Literatur

 L’imaginaire linguistique de la brièvetéIntroduction1 Quand la brièveté de la prise de parole est éthique chez l’homo urbanus2 Quand la brièveté est belle chez l’homo ludens3 Quand la brièveté est fonctionnelle et rapide chez les linguistes3.1 La valorisation dans le discours institutionnel3.2 L’économie linguistique comme principe d’évolutionConclusionBibliographie

  Die lange Geschichte der kurzen Formen Einleitung 1 Die Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen 2 Ambienz, versteckte Indexikalität und unartikulierte Konstituenten 3 Fazit Literatur

  Ein sprachvergleichender Blick auf das Schema x ≆ y 1 Einleitung 2 Das Schema x ≆ y 3 Giveness and Newness – Infinit vs. Komplementsatz 4 Fazit Literatur

 Formes brèves non lexicales : comment les inscrire dans une théorie syntaxique ?1 Approche concrète des éléments paralinguistiques2 Le support théorique : la théorie des positions et la théorie des termes2.1 Théorie des positions2.2 Théorie des termes3 La théorie des termes étendue3.1 Les propriétés nominales de l’image3.2 Les propriétés verbales de la grimace3.3 Les propriétés interjectives du smiley3.4 Les propriétés adverbiales de l’effet typographique3.5 La superposition des termes4 ConclusionÉtudes citées

 Prozeduren, partikulares sprachliches Handeln und die Systematisierung von „formes brèves“1 Systematische mono- oder biprozedurale Strukturen2 Partikulares Handeln2.1 Partikulares Handeln, verkettet2.2 Partikulares Handeln, vereinzelt3 Prozedurales Handeln, pragmatisch bedingtLiteratur

  Verblose Sätze im Text / Énoncés averbaux en texte

 Enoncés averbaux : brièveté ou altérité ?1 Introduction2 La brièveté en jeu2.1 Quelles cartes jouer ?2.2 Jouer la carte « discours »3 Engager la partie3.1 Rappel de l’enjeu3.2 Première donne3.3 L’atout « averbalité »4 Remise en jeu4.1 Nouvelle donne4.2 La brièveté hors-jeu ?5 À la japonaise5.1 Ouverture5.2 Coup d’oeil sur les cartes5.3 L’averbalité en jeu5.4 Prise d’avantage(s)5.5 Empocher la mise6 ConclusionRéférences bibliographiquesSources

 „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen“Einleitung1 Textausschnitt2 Ellipsenbegriff3 Origo, Perspektive und Stimme4 Die Unbestimmtheit der Origo5 Ansatz zur Interpretation der Unbestimmtheit der Origo6 FazitLiteratur und QuellenLiteraturQuellen

 Les phrases averbales : des formes brèves pour des genres brefs ?Introduction1 Une forme brève autonome ?2 Une forme brève dans des genres non brefs2.1 La situation de communication ou le contexte comme apport à la phrase averbale2.2 La phrase averbale comme mise en exergue2.3 La phrase averbale méta-discursive3 Une forme brève dans un genre bref3.1 Contraintes spatiales et temporelles : les affichages numériques dans l’espace public3.2 Contraintes ou moules énonciatifs : les avant-textes3.3 Contraintes ou moules énonciatifs : les paratextesConclusionBibliographie

 „von frona auff vrssenowa nach 3 Monat, licht am Meilander herschafft, alles guter weinwagchx, vndt kornbauw“ (‚Söldnerleben‘ 17. Jh.)Einleitung1 Identifikation verbloser Sätze2 Abgrenzung verbloser Sätze zu anderen Einheitentypen2.1 Abgrenzung von Satzrandstrukturen2.2 Abgrenzung von anderen nichtsatzförmigen selbstständigen Einheiten3 Klassifikation verbloser Sätze4 Ergebnisse und FazitLiteratur und Quellen

 

 Kurz gesagt, kurz gefragt: „Verblose Fragen? Na und?“1 Einleitung2 Verschiedene Formen des verblosen Fragesatzes2.1 Verblose Ergänzungsfragesätze2.2 Verblose Entscheidungsfragesätze2.3 Verblose Alternativfragesätze3 Die verschiedenen Formen des verblosen Fragesatzes im Vergleich zu den 5 großen Klassen des VLS3.1 VLF mit starker Kontextabhängigkeit: strukturgestützter VLS, prädikativer VLS und fragmentarischer VLS mit starkem Linksbezug3.2 VLF mit schwächerem Bezug zum Kontext: der schwächer kontextorientierte fragmentarische VLS und die interne Prädikation4 Die Verwendung des verblosen Fragesatzes5 SchlussLiteratur

  Kurze Textformate und sprachliche Kürze / Brièveté en texte(s)

  „Kurze Formen“ in deutschsprachigen Comics aus den 30er Jahren 1 Einleitung 2 Multimodalität und Tendenz zur Reduktion 3 Frühe deutschsprachige Comics 4 Zusammenspiel zwischen bildlicher und textueller Komponente und Formen der Reduktion 5 Schluss Literatur

 Verblose Sätze und kommunikative Praktiken in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung1 Einleitung und verblose Sätze2 Diskursführung in Sozialen Medien, die #MeToo-Bewegung und verblose Sätze3 Positionierungsstrategien durch sprachliche Handlungen und kommunikative Praktiken in dem #MeToo-Diskurs auf Twitter um VLS3.1 Praktik der Offenbarung des eigenen Missbrauchs3.2 Praktik der Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen3.3 Praktik der Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung3.4 Praktik der Mobilisierung für die #MeToo-Bewegung3.5 Praktik der Urteilsbildung (Typen: 1. über die #Me-Too-Bewegung, 2. über Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer, 3. über Gewalt gegenüber Frauen und 4. über Medienprodukte zur #MeToo-Bewegung)3.6 Praktik der Forderung nach einer Differenzierung in der #MeToo-Bewegung3.7 Praktik der Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen4 FazitLiteratur

 Zur Bedeutungskonstitution in Kurzformen der Kommunikation im öffentlichen Raum1 Einleitung2 Framesemantische Ansӓtze3 Strukturelle Merkmale von Kurzformen der Kommunikation im ӧffentlichen Raum3.1 Ӧffentlicher Raum und Wahrnehmung3.2 Kürze und Texthaftigkeit der Kommunikationsangebote4 Bedeutungskonstitution – eine framesemantische Analyse4.1 Der Bewegungsframe4.2 Das Schild Frauenparkplatz4.3 Werbebanner Schwarzfahren mit Garantie4.4 Werbespot Shortcut Billboards5 FazitLiteraturQuellenverzeichnis

 Die „kurzen Formen“ im deutschen Bundestags- und im österreichischen Nationalratswahlkampf 2017 am Beispiel der Konstruktionen ‚(x) für x‘ und ‚(x) Zeit x‘1 Neue Medienkanäle als Herausforderung2 Die zwei signifikanten Konstruktionen (x) für x und (x) Zeit x3 Die Konstruktion (x) für x3.1 CDU / CSU3.2 AfD, Neos, FPÖ, ÖVP, SPÖ und Linkspartei3.3 Überblick über die (x) für x-Konstruktionen im Bundestags- und Nationalratswahlkampf 20174 Die Konstruktion (x) Zeit x4.1 SPD – Zeit für mehr Gerechtigkeit4.2 SPÖ und ÖVP4.3 Überblick über die (x) Zeit x-Konstruktionen im Bundestags- und Nationalratswahlkampf 20175 ResümeeQuellenverzeichnisLiteratur

 Was ist in Wahlslogans implizit, was explizit?1 Korpus2 Verstehen als Konstruktion3 Der Wahlslogan als Textsorte4 Interpretation der Wahlslogans4.1 Interpretationsrahmen4.2 Analyse der Wahlslogans4.3 Ergebnisse5 AusblickLiteratur

  Verdichtung /Condensation

  ‚Aus Spaß an der Freude‘ oder ‚In der Kürze liegt die Würze‘? Einleitung 1 Kofferwort: Begriffsbestimmung und Herkunft 2 An der Schnittstelle von Kofferwort – Lehnwort – Anglizismus – Neologismus: Wortbildungen nach dem Schema man + englisches VERB + ing Schlussbemerkung Literatur Kofferwort-Wörterbücher

 Stereotypisierte Redeformen und Kultureme1 Zur Verwandtschaft zwischen Kultur und kognitiver Sprachauffassung1.1 Allgemeine theoretische Ansätze1.2 Stereotypen und typisierte Redeformen1.3 Zu den „Miniaturen“2 Sprachliche Miniaturen bei Rainer Nikowitz2.1 Phraseme2.2 Slogans2.3 Routinewendungen2.4 Anscheinend „freie“ ÄußerungenSchlussbemerkungenLiteraturQuellentexte

  Une forme brève énigmatique : le composé aha. ‘liût chuô’ 1 Contextualisation de l’occurrence 2 Analyse sémantico-référentielle 3 Les traductions de vaccas populorum dans d’autres traditions 4 Analyse pragmatique Conclusion Bibliographie

  Operatoren /Opérateurs

 „GELL der setzt ihr bestimmt son hÜtchen auf“1 Einführung2 Zum Begriff ‚Operator-Skopus-Struktur‘3 Operator-Skopus: Allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation oder (Einzel-)Konstruktion?4 Diskussion einer engen Definition des Begriffs ‚Diskursmarker-Konstruktion‘4.1 Diskursmarker im Verhältnis zu Modalpartikeln und Vergewisserungssignalen4.2 Zum Kriterium der Pragmatikalisierung4.3 Zum Kriterium der Initialstellung4.4 Weitergehende Prüfung der angesetzten Kriterien für Diskursmarker-Konstruktionen5 SchlussTranskriptionskonventionen nach GAT2

 Absolute Verwendung von Konjunktoren1 Einleitung: Vollständige und nicht-vollständige Koordinationen1.1 Prototypische Koordinationen1.2 Fragmentarische Koordinationen1.3 Absolut verwendete Konjunktoren − Typ “S2: [ ] K [ ]”2 Zur Bedeutung der Konjunktoren und zum Status der Konnekte2.1 Zur Bedeutung der Konjunktoren2.2 Zum Status der Konnekte

 ‘Ja doch’ au début d’un tour de parole en allemand1 Introduction2 L’analyse compositionnelle de ja doch2.1 Les emplois de ja2.2 Les emplois de doch2.3 Ja doch comme combinaison de deux éléments indépendants3 Ja nein, ja aber, ja doch – trois constructions ?4 Conclusion5 Conventions de transcription (GAT II)6 Bibliographie

 „Ah:: la hoLLANde“. Zum Format [ah + Nominalphrase] im Französischen: Notifikation, Bewertung und Affektivität1 Zum Problem2 Forschungsstand3 Korpus und Methodologie4 Analyse4.1 [ah + NP] als First Pair Part4.2 [ah + NP] als Second Pair Part5 Diskussion und AusblickLiteraturTranskriptionskonventionenMultimodalität (nach Mondada 2018)Wissenschaftliche Publikationen von Irmtraud BehrQualifikationsschriftenMonographieMitherausgeberschaftenArtikelÜbersetzungen


Irmtraud Behr

Zum 67. Geburtstag

Einleitung

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Juni 2018 an der Universität Sorbonne Nouvelle anlässlich des 65. Geburtstags unserer Kollegin, Prof. Dr. Irmtraud Behr, stattfand. Von den verblosen Sätzen über „parenthetische Einschübe“ (vgl. Spitzl-Dupic 2018) und „fragmentarische Äußerungen“ (vgl. Marillier / Vargas 2016) bis hin zu den Schildern im öffentlichen Raum liegt ein Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Irmtraud Behr auf sprachlichen Formen, die als ‚kurz‘ bezeichnet werden können. Solche kurzen Formen kommen ohne die üblichen Satzmittel (z.B. finites Verb) aus, setzen besondere deiktische Mittel ein und weisen komplexe Beziehungen zum Kontext auf. Als ‚regelabweichende Strukturen‘ bilden sie eine Herausforderung für wort-, satz- und verbzentrierte Beschreibungsmodelle der Sprache und zwingen zu neuen Wegen (s. die Liste der Publikationen von Irmtraud Behr S. 383).

Bei ‚kurzen Formen‘ handelt es sich zwar weder um einen wissenschaftlich klar abgegrenzten, noch um einen fest etablierten Begriff. Im Unterschied zu dem anscheinend nahestehenden, viel diskutierten Begriff der ‚Ellipse‘ (vgl. Hennig 2013) klingt der Begriff ‚kurze Form‘ sogar nach einem relativ ‚theoriefreien‘ Forschungsgegenstand. Doch sprachliche Kürze bildet andererseits „eine der klassischen Kategorien von Rhetorik und Stilistik“ (Gardt 2007: 70) und wohl deswegen durchaus ein Phänomen, das im kollektiven Sprachbewusstsein präsent ist (vgl. Bär / Roelcke / Steinhauer 2007 oder Balnat 2013: 82) und Gegenstand sprachkritischer, normativer, grammatischer und epilinguistischer Diskurse ist. ‚Kurze Formen‘ zu thematisieren bedeutet oft, dass man sie mit „längeren Formen“ paraphrasiert oder vergleicht, da ‚Kürze‘ nur eine relative Größe ist. Die Frage stellt sich, was hinter solchen Vergleichsversuchen steckt, warum und wozu überhaupt ‚kurze‘ sprachliche Formen mit ‚langen‘ verglichen werden und warum sie besonders herausgestellt werden. Oft dienen solche Vergleiche dazu, in rhetorisch-stilistischer Tradition Wertungen und Empfehlungen vorzunehmen, denn kurze Formen gelten einerseits als ökonomisch und prägnant, andererseits bergen sie die Gefahr der fehlenden Deutlichkeit und Klarheit – wenn man auf die Rezipienten und deren nötige Mitarbeit fokussiert. Eine weitere Frage ist, ob eine als kurz bezeichnete Form „an sich“ kurz ist oder ob sie als Kürzung einer umfangreicheren Form analysiert werden sollte. Die aktuelle Forschungstendenz (s. dazu auch Baldauf-Quilliatre 2016) geht eher dahin, kurze Formen nicht als defizitäre Formen anzusehen, sondern ihrem eigenen Potential für die Realisierung besonderer kommunikativer Zwecke und textueller Funktionen unter Einbeziehung des außersprachlichen Kontextes auf den Grund zu gehen. In solchen Debatten nimmt das Phänomen der Verblosigkeit eine gesonderte Stellung ein, da ein Grundverständnis von Satz und Syntax an das Verb gebunden ist, welches durch das Fehlen der verbalen Einheit erschüttert zu werden scheint. Über das Thema ‚Verblosigkeit‘ hinaus ergibt sich die Frage, was zur elementaren Gliederung eines Satzes gehört, was zum Ausdruck eines Gedankens in Form eines Satzes notwendig ist und ob konkurrierende Satzmodelle bestehen können bzw. sollten.

 

Die Debatte um den Stellenwert kurzer Formen in der Sprachtheorie bildet den Ausgangspunkt des Bandes: Friederike Spitzl-Dupic geht der Diskussion über ‚Vorzüge‘ und ‚Nachteile‘ kurzer sprachlicher Formen in der deutschen Grammatikographie des 18.–19. Jahrhunderts nach, wobei diese Diskussion im damaligen sprachrachpolitischen Kontext zu situieren ist, wo das Deutsche mit den Referenzsprachen Latein und Französisch verglichen wird. Am Beispiel zweier Grammatiker, Hempel und Götzinger, werden zwei unterschiedliche Ansätze präsentiert: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit wieder. Götzinger dagegen integriert Sprecher- und Hörerperspektive sowie die Rolle des Kontextes, unterscheidet verschiedene grammatische ‚elliptische‘ Strukturen und versucht kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer Formen zu identifizieren. Sein Ansatz bildet, so Spitzl-Dupic, den „Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt“.

Der Beitrag von Mikhail Kotin und Monika Schönherr fokussiert auf die Verblosigkeit als Merkmal infiniter und afiniter Strukturen. Es geht den Autoren in einer typologischen und universalgrammatischen Perspektive darum, solchen infiniten und afiniten Syntagmen „vollen Satzwert“ zuzuweisen. Infinite Strukturen werden einerseits als coverte bzw. overte Ellipsen interpretiert, andererseits als „nichtelliptische Kompressionen“ analysiert. Daran anknüpfend werden diachronische Aspekte untersucht: Es wird gezeigt, dass sich bei der Verwendung afiniter Strukturen als ‚syntaktische Kurzformen‘ in der Diachronie sowie in der Gegenwartssprache stilistische und pragmatische Faktoren nachweisen lassen.

Odile Schneider-Mizony geht den ‚Haltungen‘ und ‚Träumereien‘ der Sprecher (Philosophen, Rhetoriker, Sprachwissenschaftler…) auf die Spur, in denen Mythen und Topoi zur Sprache erscheinen. Die sprachliche Kürze ist Gegenstand ethischer, poetischer, sprachhistorischer Überlegungen, in denen die Vorzüge und Nachteile von kurzen Formen hinsichtlich Wahrheit, Effizienz, Eleganz, Höflichkeit, Klarheit, Prägnanz, Aufwand … abgewogen werden. Insgesamt genießt sprachliche Kürze, zumindest im europäischen Sprachbewusstsein, einen positiven Ruf, was aber eher auf einer instrumentalen Auffassung von Sprache beruht.

Ähnlich wie verblose Sätze stellen auch sogenannte ‚eingliedrige Sätze‘ eine Herausforderung an das Verständnis von Sätzen und ihrer Funktion dar. Frank Liedtke zeichnet die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen in wissenschaftshistorischer Perspektive nach, ausgehend von Autoren, die von der Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit Abstand nehmen (Miklosich), bzw. die für solche Strukturen ein unbestimmtes Subjekt (Wundt) oder zumindest die Verknüpfung zweier Vorstellungen (Paul) annehmen und eingliedrigen Sätzen einen eigenständigen Platz in der Sprachtheorie einräumen (Martys „thetische Aussagen“), bis hin zu modernen Debatten um die Ergänzung indexikalischer Elemente als „unartikulierte Konstituenten“ in der semantischen Repräsentation (Perry, Stanley / Szabo, Récanati).

Katharina Mucha untersucht minimale Formen der ‚Zweigliedrigkeit‘,nämlich solche Sätze, bei denen ein zugrundeliegendes Schema des Typs x ≆ y angesetzt werden kann (Die Schildkröte ist weise / Der Elefant ist fröhlich / Surfen ist cool / Koch zu sein, ist der lukrativste Job der Welt / Loving you is killing me etc.) und unterscheidet dabei verschiedene Typen von Prädikaten und kopulativen Relationen, die sie in Verbindung setzt mit Wissensrepräsentationen in der mentalen Abspeicherung (semantisches vs. episodisches Gedächtnis) und mit denen sie die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungsleistungen in Bezug auf Givenness / Newness verknüpft.

Mustapha Krazem interessiert sich für nicht-sprachliche kurze Formen im gesprochenen und geschriebenen Sprachgebrauch bzw. für nicht-sprachliche Zeichen wie Gesten, Typographie, Interpunktion usw., die er insofern für kompakt hält, als sie Inhalte aggregieren, deren verbaler Ausdruck mehrere Wörter verlangen würden. Er vertritt die Idee, dass das sprachwissenschaftliche Material nicht ausschließlich aus Wörtern besteht, und schlägt vor, „Wörter und Grimassen gleichzusetzen“ und Wörter und nicht-sprachliche Zeichen in einem einheitlichen theoretischen und deskriptiven Rahmen zu behandeln. Er zeigt, dass sich Milners Theorie der syntaktischen Positionen auf nicht-sprachliche Zeichen anwenden lässt, da die kategorielle Zugehörigkeit eines sprachlichen Zeichens für dessen Zugang zur Syntax ausreicht. So belegt Krazem, dass das Bild nominale Eigenschaften hat, die Grimasse verbale, der Smiley interjektive und die markierte Typographie adverbiale.

Angelika Redder nimmt eine handlungsanalytische Klassifizierung von verblosen kurzen Formen „hinsichtlich ihrer Suffizienz im Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer“ vor. Sie unterscheidet zwischen partikularem, suffizient prozeduralem und musterspezifisch positioniertem prozeduralen Handeln. Das suffizient prozedurale Handeln, das von der Funktionalen Pragmatik als ‚Prozedur‘ bestimmt wurde, entspricht einer nicht-elliptischen, „elementaren Form“ sprachlichen Handelns, die weder prädikativ ist, noch als Operator fungiert. Partikulares sprachliches Handeln kommt im Kontext moderner narrativer Texte vor. Seine Formen erscheinen vornehmlich als „Ketten“ und sind „in ihrer Komplexität zwischen der Prozedur und der Sprechhandlung angesiedelt“. In ihren pragmatischen Funktionen erstrecken sie sich vom koperzeptiven Reportieren zum rekonstruktiven konstellativen Schildern. Der letzte Typ, das musterspezifische positionierte prozedurale Handeln, stellt dagegen keine eigene Handlungsform dar, sondern reiht sich an bestimmten sequentiellen Positionen in Handlungsmuster ein.

Die Verblosigkeit hat eine besondere Stellung in der Diskussion um kurze Formen in der Sprache, wie die Beiträge von Friederike Spitzl-Dupic, Mikhail Kotin / Monika Schönher und Angelika Redder zeigen. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes gehen noch einmal auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze bzw. auf die besonderen Merkmale verbloser Satzstrukturen ein. Dabei wird davon ausgegangen, dass verblose Sätze an sich sowohl kurz als auch lang sein können, dass sie aber eine Disposition zur Kürze zeigen, die unmittelbar mit textsortenbestimmenden, ästhetischen und kommunikativen Eigenschaften korreliert.

Hervé Quintin geht der Frage nach, inwiefern verblose Sätze als ‚kurze Formen‘ charakterisiert werden können. Eigentlich kann ein verbloser Satz genauso lang sein wie auch ein Satz mit Verb kurz sein kann. Doch verblose Sätze beruhen tatsächlich oft auf relativ einfachen syntaktischen Mustern und werden diskurspragmatisch in Kontexte eingesetzt (Schilder, Hinweise…), die eine minimalistische Syntax bedingen. So vertritt Quintin die These, dass die Kürze verbloser Strukturen weniger als intrinsisches Merkmal denn als kontextuelle Bestimmung solcher Strukturen anzusehen ist, die aber auf einem eigenen Potential beruht: Verblose Sätze eignen sich besonders gut, einen Bruch im Text zu markieren, sie sind ein Indiz der Alterität.

Die Alterität verbloser Sätze manifestiert sich auch in literarischen Erzählungen, in der verblose Sätze auf mehrere Stimmen gleichzeitig zu verweisen vermögen. Daniel Holzhacker zeigt am Beispiel des Lenz von Büchner, dass „Ellipsen“ dadurch, dass sie kein finites Verb enthalten und kein Tempus aufweisen, über keine klare Origo verfügen und eine Ununterscheidbarkeit der Stimme des Erzählers von der der Figur hervorrufen, wobei der Effekt entsteht, dass der Leser in eine ähnlich prekäre Lage bezüglich des Erkennens der ,realenʻ Welt des Textes versetzt wird wie die Figur selbst.

Der Beitrag von Florence Lefeuvre kommt auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze zurück. Lefeuvre zeigt, dass verblose Sätze in langen Textformaten auch eine längere Form haben können, dass also Verblosigkeit nicht unbedingt mit ‚Kürze‘ einhergeht: Aufgrund seiner Charakteristika wird der verblose Satz in unterschiedlichen Diskursgattungen genutzt. Lefeuvre untersucht die Rolle von drei Faktoren näher: Um zu veranschaulichen, wie sich verblose Sätze auf die Kommunikationssituation oder den Kontext stützen, erwähnt sie das ‚Für-sich-Schreiben‘ und vergleicht z.B. Formulierungen der Autorin Simone de Beauvoir in Einträgen aus ihrem Kriegstagebuch und in ihren Briefen an Sartre desselben Datums: Im Tagebuch werden bevorzugt verblose Formulierungen gewählt, während in den Briefen verbale Formulierungen vorkommen. Lefeuvre zeigt weiterhin, dass verblose Sätze als Mittel zur Hervorhebung oder auch zur Diskursstrukturierung fungieren. In einem Diskurs mit verbalen Strukturen bilden verblose Sätze einen Bruch, der auf Unerwartetes fokussiert und eine neue Thematik einführen kann. Was die Verwandtschaft zwischen verblosen Sätzen und kurzen Textformaten angeht, so ist diese einerseits auf die räumlichen und zeitlichen Einschränkungen, andererseits auf die enunziativen Muster (s. Vor- und Paratexte) zurückzuführen.

Mathilde Hennig erprobt den Ansatz von Behr / Quintin (1996) an der Segmentierung syntaktischer Einheiten in neuhochdeutschen Texten und diskutiert an authentischen Textbeispielen die Abgrenzung verbloser Sätze von sogenannten ‚Satzrandstrukturen‘ und „nichtsatzförmigen selbständigen Einheiten“. Von der Hypothese ausgehend, verblose Sätze seien „ein Phänomen der Sprache der Nähe“, untersucht sie, inwiefern der Gebrauch verbloser Sätze mit bestimmten Textprofilen korreliert.

Sibylle Sauerwein Spinola widmet sich der Frage, ob die allgemeinen Kategorien, die Behr / Quintin (1996) für verblose Sätze erstellt haben, auch mit Fragesätzen vereinbar sind. Denn selbst wenn die Autoren Beispiele in Frageform behandeln, wird in ihrer Studie der Fragesatz nicht thematisiert. Darüber hinaus hinterfragt Sauerwein Spinola auch die Klassifizierungen, die es für Fragen gibt. In ihrem Korpus aus mehr als 1.000 Fragesätzen sind 20 % verblose Fragesätze zu finden, darunter sowohl Ergänzungs- als auch Entscheidungsfragesätze oder (auch wenn nur sehr selten) Alternativfragesätze. Alle von Behr / Quintin (1996) ermittelten Kategorien von verblosen Sätzen sind im Korpus vertreten, und es scheint keine neue Klasse nötig zu sein. Verblose Fragesätze sind meistens verblose Sätze mit klarem Linksbezug. Sie haben mehrere mögliche textuelle Funktionen: Sie leiten ein neues Thema ein, strukturieren den Text oder bewirken polyphonische Effekte.

Dass ‚kurze Formen‘ nicht als ‚defizitäre‘ Formen zu analysieren sind, sondern ‚vollwertige‘ Ausdruckmittel mit eigenem kommunikativen Potential darstellen, drückt sich auf eine besondere Weise in kurzen Textformaten aus, in denen sprachliche Kürze räumlich und zeitlich bedingt ist (Behr / Lefeuvre 2019). Mit solchen kurzen Textformaten befasst sich der dritte Teil des Bandes. Die Anzahl und die Größe der Panels in Comics sind begrenzt, Twitter-Beiträge können nicht mehr als 280 Zeichen enthalten, Werbeplakate und Verkehrsschilder sind, institutionell und materiell bedingt, auf wenig Platz beschränkt. In der Untersuchung dieser kurzen Textformate kann der rein sprachliche Teil nicht vom Bild, von der Materialität, vom Kontext, vom Wissen der Gesprächspartner getrennt werden. Hier spielen u.a. Multimodalität, Implizites und Weltwissen eine zentrale Rolle.

Simona Leonardi wirft die Frage auf, welche Formen Kürze in frühen deutschsprachigen Comics annimmt. Da die Textsorte Comic deutlichen Platzbeschränkungen unterliegt, ist sie durch starke Selektion im Text und in den Abbildungen gekennzeichnet. Aus diesem Grund erweist sich Multimodalität bzw. die Verschränkung verschiedener semiotischer Ressourcen als eine Strategie. Außerdem stehen Comics aus den 20er und 30er Jahren stark unter dem Einfluss der damaligen Filmkunst. Eine auffällige Gestik im Panel ahmt übertriebene Gesten im Stummfilm nach. In extremen Formen der Reduktion werden z.B. Buchstaben ausgelassen, oder im Panel bleiben von der Aussage nur die Ausrufe, auch mit Variationen in der Schriftgröße oder in der „Spationierung“. Interjektionen können auch ohne Umrahmung direkt ins Bild gezeichnet sein, was Leonardi als ‚gezeichnetes Sprechen‘ definiert. Damit werden Comics als Rahmen betrachtet, in dem Mimik, Gestik, Sprachzeichen sowie Klang mit Situationen verkoppelt werden. Sie bilden ein sympraktisches Umfeld, das situationsverankerte kurze Formen zulässt.

Annamária Fábián führt eine exemplarische Beleganalyse von verblosen Sätzen in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung durch. Sie stellt zunächst fest, dass verblose Sätze trotz der Studie von Behr / Quintin (1996) weiterhin geringe Berücksichtigung in Grammatiken finden wie auch in korpuslinguistischen Studien. Mit Blick auf die quantitative Begrenzung der Zeichenzahl bei Twitter sind aber kurze Sätze bzw. verblose Sätze ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand. Fábiáns Analysen zeigen, dass verblose Sätze in den Sozialen Medien nicht ausschließlich aus sprachökonomischen Gründen eingesetzt werden, und dass es Korrelationen zwischen verblosem Satz und Emotionalität gibt, im Zusammenhang mit ‚kommunikativen Praktiken‘ wie: Offenbarung des eigenen Missbrauchs, Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen, Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung, Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen. Für den Gebrauch von verblosen Sätzen in Tweets sind auch pragmatische, expressive Gründe zu nennen. Die große grammatische, syntaktische und funktionale Vielfalt der verblosen Sätze im Korpus bestätigt außerdem die Heterogenität der Kategorie ‚verbloser Satz‘.

Im Rahmen eines framesemantischen Ansatzes analysiert Zofia Berdychowska eine Auswahl von multi- und intermodalen Kurzformen im öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Bedeutungskonstitution. Sie zeigt, dass mehrere Faktoren dabei eine zentrale Rolle spielen: Mehrfachadressierung, Instantiierung von Frame-Elementen und Zuweisung von Rollen, Wissen um routinisierte Handlungen, Standort. Exemplarisch werden Beispiele komplexer ‚Kommunikationsangebote‘ im öffentlichen Raum analysiert, die den Bewegungsframe spielerisch benutzen.

Igor Trost führt eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Untersuchung von zwei statistisch signifikanten Konstruktionsschemata in kurzen Textformaten der Wahlkampagnen 2017 in Deutschland und in Österreich durch. Analysiert werden kurze Konstruktionen der Form (x) für x und (x) Zeit x in Wahlslogans und Wahlplakaten, in Internettexten und in den Kurzprogrammen der deutschen und österreichischen Parteien hinsichtlich ihrer semantischen und pragmatischen Gebrauchsbedingungen sowie ihrer framesemantischen Implikationen. Trost zeigt, dass die Konstruktion (x) für x (z.B. Für ein Deutschland, in dem wir gut und gern leben (CDU), Für Sicherheit und Ordnung (CDU), Klar für unser Land (CSU)) es ermöglicht, positiv konnotierte Wörter – wie z.B. Qualitätsadjektive, positive Schlagwörter – für „die Bildung eines wählerorientierten positiven parteipolitischen Gesamtframes“ zu nutzen. Die Konstruktion (x) Zeit x (z.B. Zeit für mehr Gerechtigkeit (SPD), Es ist Zeit für moderne Ausbildung (SPD), Österreich ist erfolgreich. Zeit, dass Sie davon profitieren (SPÖ)) steht stellvertretend für eine in Wahlkämpfen häufig genutzte framekonstituierende Zeitmetaphorik eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs, der zur Wahl der entsprechenden Partei motivieren soll.