Mindful2Work unterrichten

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Da Mindful2Work bewusste aktive Bewegung mit Yoga kombiniert, ist besonders die Übersichtsarbeit von Ross und Thomas (2010) interessant, weil hier besonders solche Studien betrachtet werden, in denen Yoga und aktive Bewegung miteinander verglichen werden. Auffallend ist, dass sowohl in klinischen wie in nicht-klinischen Populationen die Effekte von Yoga genauso groß sind, und oft sogar noch größer als die Effekte von körperlicher Aktivierung. In einem RCT mit Patienten mit einer Schizophrenie (n = 61) scheint Yoga zum Beispiel einen größeren Effekt auf psychotische Symptome zu haben als aktive Bewegung (Effektstärke = 1.51 versus 0.82), soziale Fähigkeiten (Effektstärke = 0.78 versus 0.34) und Lebensqualität (Effektstärke = 0.80 versus 0.24) (Duraiswamy, Thirthalli, Nagendra, Gangadhar, 2007). Auch ein RCT mit Frauen in der Menopause (n = 120) zeigt, dass sowohl aktive Bewegung als auch Yoga dazu führen, dass diese Frauen sich besser fühlen, aber die Effekte von Yoga auf körperliche Beschwerden und Stressreduzierung sind deutlich größer als die von aktiver Bewegung (Effektstärke = 1.10 versus 0.27; Chattha, Nagarathna, Venkatram, Hongasandra, 2008). Auch eine Studie mit Probanden mit chronischen Schmerzen im unteren Rücken (n = 80) bestätigt die größeren Effekte von Yoga im Vergleich zu aktiver Bewegung. Die Effekte in der Yogagruppe waren größer als die in der Bewegungsgruppe: Schmerzen (Effektstärke = 1.62 versus 0.67), Angst (Effektstärke = 1.09 versus 0.15), Depression (Effektstärke = 0.96 versus 0.48) und Beweglichkeit der Wirbelsäule (Effektstärke = 2.99 versus 0.81) (Tekur, Nagarathna, Chametcha, Hankey, Nagendra, 2012). Auch wenn dies nur eine Vermutung ist, so beruht dieser Unterschied doch wahrscheinlich darauf, dass es bei aktiver Bewegung oder körperlicher Aktivierung in diesen Studien nicht speziell um bewusste aktive Bewegung ging, wohingegen gerade die bewusste Bewegung und bewusste Wahrnehmung des Körpers Yoga-Interventionen inhärent sind, sodass wahrscheinlich deshalb die Effekte von Yoga in diesen Studien größer sind als die von aktiver Bewegung. Und obwohl diese Resultate in Bezug auf Yoga vielversprechend sind, so ist angesichts der methodischen Einschränkungen Vorsicht bei der Interpretation geboten. Balasubramaniam, Telles und Doraiswamy (2013) betrachten dies nuancierter, da sie die Qualität der RCTs (insgesamt 16) in ihrer systematischen Übersichtsarbeit zur Effektivität von Yoga bei neuropsychiatrischen Erkrankungen berücksichtigen. Die Studienqualität wird in die vom Oxford Center for Evidence Based Medicine definierten Evidenzgrade eingeteilt (CEBM; Philips, Ball, Sackett, Badenoch, Straus, Haynes u. a., 2011): Stufe 1 (RCTs von hoher Qualität), Stufe 2 (RCTs von geringer Qualität), Stufe 3 (Fall-Kontroll-Studien) und Stufe 4 (Fallberichte und Fall-Kontroll-Studien von geringer Qualität). Diese Evidenzgrade werden anschließend in klinische Leitlinien für Behandlungen umgesetzt: Kategorie A (»empfohlen«; »recommended« in der ursprünglichen Leitlinie), die Evidenz basiert ausschließlich auf Studien auf Stufe 1 und/oder 2; Kategorie B (»vorgeschlagen«; »suggested« in der ursprünglichen Leitlinie), die Evidenz basiert auf wenigen Studien auf Stufe 1 bis 2 oder auf zahlreichen Studien auf Stufe 3 bis 4; Kategorie C (»möglich«; »may be considered« in der ursprünglichen Leitlinie), die Evidenz basiert ausschließlich auf Studien auf Niveau 3 bis 4. Balasubramaniam und Kollegen kommen so zu einer nuancierten Schlussfolgerung für klinische Behandlungsleitlinien: Kategorie B für Yoga bei Depressionen (basierend auf vier RCTs), Kategorie B für Yoga ergänzend zur Medikation bei Schizophrenie (basierend auf drei RCTs), Kategorie C für Yoga bei Schlafproblemen (basierend auf drei RCTs). Somit besteht keine Evidenz auf höchstem Niveau (Kategorie A), was dadurch zu erklären ist, dass die entsprechenden RCTs meist eine niedrige Bewertung erhalten, was ihre Qualität betrifft (Niveau 2 RCTs), zum Beispiel wegen unzureichender Langzeitdaten, sodass keine Aussagen über das Fortbestehen der Effekte über längere Zeiträume hinweg möglich sind.

3.1 Wie wirkt Yoga eigentlich?

Die Wirkmechanismen von Yoga und MBPs überschneiden sich wahrscheinlich teilweise. So zeigt sich zum Beispiel, dass die positiven Effekte von Yoga auf Stress und die Lebensqualität auf einem Anstieg des achtsamen Bewusstseins und des Selbstmitgefühls beruhen (Gard, Brach, Hölzel, Noggle, Coboy, Lazar, 2012). Die Rolle von achtsamem Bewusstsein und Selbstmitgefühl als Mediator konnte für MBPs schon früher belegt werden (zum Beispiel Bränström, Kvillemo, Brandberg, Moskowitz, 2010; Kuyken, Watkins, Holden, White, Taylor, Byford u. a., 2010), aber die Studie von Gard und Kollegen (2012) kann ergänzend zeigen, dass Yoga und MBPs diesen zugrunde liegenden Wirkmechanismus teilen. Riley und Park (2015) unternehmen den Versuch einer systematischen Übersichtsarbeit zu den Veränderungsmechanismen, die die stressreduzierende Wirkung von Yoga erklären. Obwohl viele Untersuchungen zu den stressreduzierenden Effekten von Yoga existieren, wurden nur fünf Studien in diese Übersichtsarbeit aufgenommen, da sich die übrigen Studien als methodisch zu schwach erwiesen. Einige psychologische (zum Beispiel positiver Affekt und Selbstfürsorge) und biologische Mechanismen (zum Beispiel die Reduzierung der Aktivität im hinteren Hypothalamus und eine verminderte Ausschüttung von Cortisol) erklären die Wirkung von Yoga bei der Stressreduktion. Die Autoren betonen, dass es etliche interessante Theorien rund um andere psychologische (zum Beispiel positive Herangehensweise an Stress, Selbstbewusstsein, Gefühl der Kontrolle) und biologische Wirkmechanismen (zum Beispiel Herstellung eines Gleichgewichts von sympathischen und parasympathischen Nervensystem) von Yoga gibt, dass diese aber zurzeit wegen methodischer Mängel nur unzureichend belegt sind und dass weitere Forschung hierzu unbedingt notwendig ist (Riley, Park, 2015).

3.2 Yoga in der Arbeitswelt

In einer Reihe von Studien werden die Effekte von kurzen Yoga-Interventionen bei stressbasierten Symptomen bei Arbeitnehmenden betrachtet. Hartfiel, Havenhand, Khalsa, Clarke en Krayer (2011) untersuchten die Effekte einer sechswöchigen Yoga-Intervention im Vergleich zu einer Wartelistenkontrollgruppe (RCT) bei Universitätsmitarbeitern (n = 48). Im Vergleich zu den Probanden auf der Warteliste haben die Teilnehmenden der Yoga-Gruppe mehr Energie (Effektstärke = 1.06), Selbstvertrauen und können in Situationen mit Stress klarer denken (Effektstärke = 1.15 und 0.97), haben weniger Gefühle der Angst und Niedergeschlagenheit (Effektstärke = 0.97 und 0.87) und fühlen sich insgesamt zufriedener (Effektstärke = 0.91). Vergleichbare Effekte fanden sich bei einer zehnwöchigen Yoga-Intervention für Arbeitnehmer bei einem großen Finanzunternehmen (n = 33). In diesem RCT wurden die Effekte von kognitiver Verhaltenstherapie und Yoga verglichen, hinsichtlich verschiedener psychologischer und physiologischer Messdaten, die im Zusammenhang mit Stress stehen. Für alle Zielvariablen wurden überwiegend große bis mittlere Effekte gefunden, sowohl für die kognitive Verhaltenstherapie als auch für Yoga: Stressempfinden (1.42 versus 0.82), mentale Erschöpfung (0.88 versus 0.87), Reizbarkeit und Aggression (0.75 versus 0.57), Lebensqualität (0.44 versus 0.19), Herzschlag (0.34 versus 0.56) und Cortisolspiegel (0.31 versus 0.56) (Granath, Ingvarsson, Von Thiele, Lundberg, 2006). Wolever und Kollegen (2012) führten ein großes RCT durch, in dem sie die Machbarkeit und die Effektivität von zwei unterschiedlichen zwölfwöchigen Mind-Body-Stressreduzierungsprogrammen untersuchten. Arbeitnehmer einer großen Versicherungsgesellschaft (n = 239) mit zumindest mäßigen Stresssymptomen wurden randomisiert auf eine Achtsamkeits-Gruppe, eine Yoga-Gruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Verglichen mit der Kontrollgruppe sind die Effekte in der Yoga- und der Achtsamkeits-Gruppe ähnlich: In beiden Gruppen erleben die Teilnehmenden eine deutliche psychologische Stressreduzierung (0.51 versus 0.77), eine verbesserte Schlafqualität (0.41 versus 0.41), eine Verbesserung der physiologischen Marker von Stress wie eine ruhigere Atmung (0.35 versus 0.29) und eine Verbesserung der Herzkohärenz (0.94 versus 0.35) (Wolever u. a., 2012). Hierin sind sich allerdings nicht alle Studien einig. So wurden in einem RCT unter Universitätsmitarbeitern (n = 37) die Effekte eines zehnwöchigen Hatha Yoga-Programms mit einer Kontrollgruppe von Mitarbeitern ohne Intervention verglichen. Das intensive Yoga-Programm zeigte keinen signifikanten Effekt bei der Herzfrequenzvariabilität als physiologischem Hinweis auf Stress (Cheema, Houridis, Busch, Raschke-Cheema, Melville, Marshall u. a., 2013). Obwohl die Ergebnisse in Arbeitnehmerpopulationen also vielversprechend sind, muss gesagt werden, dass nur die Studie von Cheema und Kollegen (2013) von guter Qualität ist, während die Studien von Hartfiel und Kollegen (2011) sowie Wolever und Kollegen (2012) eine schwächere methodische Qualität mit Blick auf die Jadad-Kriterien aufweist. Der Jadad-Score beschreibt die Qualität eines RCT in Bezug auf die Vorgehensweise bei der Randomisierung, (wurde eine adäquate Vorgehensweise bei der Randomisierung gewählt und wurde sie beschrieben, wurde eine adäquate Verblindung gewählt und beschrieben) (Jadad, Moore, Carroll, Jenkinson, Reynolds, Gavaghan u. a., 1996).

Als Wissenschaftlerinnen haben wir ein Interesse daran, die genauen Details der Effektstärken und Populationsgrößen in den oben genannten systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zu kennen, aber welche Kernaussage lässt sich für uns als Kliniker und für die Arbeit in der Praxis daraus ableiten, wenn wir nach dem Nutzen von Yoga-Interventionen fragen?

»Yoga-Studien« sind in Bezug auf ihre methodische Qualität verbesserungsbedürftig, sodass die Effektivität von Yoga weniger gut untermauert ist als die von Bewegungsinterventionen (vor allem bei Depressionen). Dennoch sind die körperlichen und psychischen Effekte von Yoga vielversprechend, sowohl bei klinischen als auch bei nicht-klinischen Populationen sowie speziell bei Arbeitnehmerpopulationen.

 

4 Stresssymptome und Achtsamkeit

Montagmorgen, acht Uhr, ich habe meine Tochter gerade verabschiedet, sie ist auf dem Fahrrad unterwegs zur Schule. Gerade noch rechtzeitig renne ich mit der Brotdose und ihrem Geschichtsbuch hinter ihr her. Vor dem Frühstück bin ich meine Termine für diese Woche durchgegangen. Meinen ersten Arbeitstermin habe ich (Susan Bögels) erst um neun Uhr – Zeit zu meditieren. Im Lotussitz setze ich mich aufs Sofa und entscheide mich für eine Meditation zu beliebigen Wahrnehmungen, also einfach schauen, was in mir aufsteigt. Ich spüre meinen Unterkörper, der stabil auf dem Sofa ruht, eine gute Basis … der Rücken aufgerichtet, er schmerzt ein wenig vom Tennisspielen … aber bis ins Halbfinale gekommen am letzten Samstag, schade, dass wir dann verloren haben … aber so habe ich den Sonntag frei gehabt … nett, die unerwarteten Besuche gestern … wenn wir nicht verloren hätten, hätte ich das verpasst … ich schweife ab … zurück zur Erfahrung des gegenwärtigen Moments … der Atem, der durch meinen Körper strömt … ein Druckgefühl in der Nähe des Brustbeins … was ist das … ich habe das öfter … ist das ein Herzstolpern, habe ich zu viel Stress? … ich lasse mich von einer Geschichte mitreißen … zurück zum Gefühl … was fühle ich … es ist nicht mehr da … bei dem verweilen, was gerade geschieht … Geräusche von der Kita … eine Tür schlägt zu … ich muss die Kita-Leitung doch noch einmal bitten, einen Türschließer anzubringen … oder ein Türkissen … ich bin schon wieder dabei, Probleme zu lösen … zurück zur Erfahrung … ein Kind weint … ein Kind lacht … das Geräusch der Tür, die ins Schloss fällt … Schritte, die sich immer weiter entfernen … ein Lieferwagen auf der Straße … das sind die Geräusche meines Lebens in der Stadt … das Konzert meines Lebens … und ich sitze hier … und es gibt nichts, das anders sein sollte, als es gerade ist … ich fühle mich leicht und leer … mein Computer, der zu wenig Speicherplatz hat … noch immer keinen Termin im Computer-Laden gemacht … warum muss man den auch online machen … oder noch mal eine Mail an meinen Systemadministrator schreiben … sie hatten doch versprochen, die Laptops auszutauschen … sie wollen wahrscheinlich sparen … Verärgerung … wie bin ich jetzt wieder in diesem Gedankenstrudel gelandet … Druck auf der Brust … Herzstolpern … angespannte Kiefer … warm … schwitzen … ich lasse es zu … und dann lass ich es wieder los … es gibt nichts, was ich jetzt regeln müsste … es darf so sein … alles darf so sein … ich sitze hier inmitten der Geräusche der Stadt, die vom Lärm meines Denkens überstimmt werden und mein Körper bringt mich zurück in diesen Moment … Verweilen bei dem, was ist …

Nach der Meditation radele ich zur Arbeit, bin offen für das, was mir unterwegs begegnet, Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fallen … das Glitzern auf dem Wasser, alle sind unterwegs … ich bin ein Teil dieses großen Ganzen, ein Lächeln. Ich fange mit einer offenen Haltung an zu arbeiten, für alle hier beginnt eine neue Woche, mit Terminen, mit Schreibarbeiten, und ich bin ein Teil davon. Eine Doktorandin kommt herein, sie hält ihren Laptop in der Hand, ich sehe ihr Lächeln. Das ist es, was die Meditation bei mir bewirkt: In all dem Trubel, bei all dem Druck, den ich fühle, neige ich dazu, mich zu isolieren und zu arbeiten, als wäre ich auf einer einsamen Insel, als wäre ich nur über das WLAN mit der Außenwelt verbunden. Meditation macht mir bewusst, dass ich zutiefst verbunden bin mit der Welt um mich herum und darin entspannen kann. Ich trage und werde getragen.

Achtsamkeit zu praktizieren hat in den letzten Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten und Europa sehr weite Verbreitung gefunden. Das spiegelt sich auch in der gigantischen Zunahme von Publikationen über die Effekte von MBPs. Die Anzahl internationaler Publikationen hat von 1990 bis 2010 um das Vierzigfache zugenommen (Harnett, Dawe, 2012). Achtsamkeit hat ihren Ursprung in einer 2500 Jahre alten buddhistischen Tradition. Beim Praktizieren von Achtsamkeit geht es darum, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Art auszurichten: bewusst, im Hier und Jetzt und ohne zu urteilen (Kabat-Zinn, 2003). Im Grunde genommen ist jeder dazu in der Lage, einer Sache seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, allerdings sind die Momente, in denen wir dies auch tun, oft nur von kurzer Dauer. Wir vergessen meist, die Dinge immer wieder von Neuem achtsam auszuführen. Oder wie Feldman (2001) es formuliert: »Mindfulness is easy. Remembering to be mindful is the challenge.« Oft sind wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht im Hier und Jetzt, nicht bei dem, was wir gerade tun. Unsere Gedanken schweifen vielmehr in die Vergangenheit oder die Zukunft ab. Das sorgt nicht nur für Unruhe und kostet Energie, sondern führt auch dazu, dass wir viel vom gegenwärtigen Moment versäumen. Außerdem haben wir die Tendenz, uns sofort ein Urteil über unsere Erfahrungen zu bilden: Wir finden Dinge angenehm oder unangenehm, gut oder schlecht. Indem wir die Dinge ununterbrochen mit einem Etikett versehen und über Erfahrungen urteilen, erkennen wir nicht mehr, wie die Dinge wirklich sind. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, fördern wir ein nicht-urteilendes Bewusstsein, mithilfe von formellen Übungen (zum Beispiel in einer Sitzmeditation oder bei einem Bodyscan) und informellen Übungen im Alltag (zum Beispiel, wenn wir mit voller Aufmerksamkeit und nicht im Autopilot-Modus auf dem Fahrrad, im Auto oder zu Fuß zur Arbeit unterwegs sind). Während der Meditationen nehmen wir den Geist wahr, ohne ihn verändern zu wollen. Wir üben uns darin, eine andere Haltung zu inneren Ereignissen wie Gefühlen und Gedanken einzunehmen. Statt uns in eine Spirale aus (negativen) Gedanken hineinziehen zu lassen, werden diese Gedanken mit Abstand betrachtet, ohne darüber zu urteilen. Dabei lässt sich beobachten, wie diese Gedanken, genau wie Gefühle oder körperliche Empfindungen, ganz von alleine vorübergehen. Es sind keine permanenten, sondern vergängliche Zustände (anicca). Das Praktizieren von Achtsamkeit ist natürlich kein Wundermittel, das immer funktioniert oder sämtlichen Stress oder Schmerz im Leben verschwinden lässt, aber man lernt auf diese Weise, bewusster, ruhiger und mit mehr Selbstmitgefühl zu reagieren, was einen positiven Effekt auf unseren Geist, den Körper und unsere Beziehung zu anderen und uns selbst hat, sodass unser Leiden (dukkha) reduziert wird.

Wie viele unkontrollierte Studien, RCTs, systematische Übersichtsarbeiten sowie Metaanalysen zum Thema verfügbar sind, spiegelt sich auch in einer Studie, die einen Überblick über 23 systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen gibt, die sich mit MBSR und MBCT in verschiedenen Populationen befassen (Personen mit Krebs, chronischen Schmerzen, kardiovaskulären Erkrankungen, verschiedenen psychischen Erkrankungen, Depressionen usw.) (Gotink, Chu, Busschbach, Benson, Fricchione, Hunink, 2015). In dieser »über-systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse« werden MBSR und MBCT mit Kontrollinterventionen verglichen, die sich über reguläre Behandlungen, Wartelistenkontrollgruppen bis hin zu aktiven anderen Behandlungen erstrecken. MBSR und MBCT haben einen signifikant größeren Effekt als die Kontrollinterventionen bei depressiven Symptomen (Effektstärke = 0.37), Ängsten (Effektstärke = 0.49), Stress (Effektstärke = 0.51), der Lebensqualität (Effektstärke = 0.39) und dem körperlichen Wohlbefinden (Effektstärke = 0.27). An dieser Stelle kann kein kompletter Überblick über alle systematischen Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen gegeben werden, die sich mit MBPs im Vergleich zu anderen Behandlungen befassen. Wir erwähnen hier daher nur diejenigen, die am relevantesten für Mindful2Work und diejenigen Personen sind, für die das Programm entwickelt wurde.

Kognitive Verhaltenstherapie wird in internationalen klinischen Leitlinien, wie zum Beispiel der des NICE oder des Trimbos-Instituts, für die Behandlung von Angststörungen – mit oder ohne gleichzeitige Medikation – als Behandlungsmethode erster Wahl empfohlen (Van Balkom u. a., 2013). Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) folgt einem grundlegend anderen Ansatz bei der Behandlung von Angststörungen als MBPs. Die KVT geht davon aus, dass bei Angststörungen die Informationsverarbeitung im Gehirn gestört ist, sodass es zu maladaptiven Kognitionen kommt. Bei einer Behandlung, die auf KVT basiert, wird der Therapeut die maladaptiven, unrealistischen und wenig hilfreichen Gedanken im sokratischen Dialog mit dem Patienten herausarbeiten und dort, wo sie nicht realistisch erscheinen, durch hilfreichere, adaptivere, realistische Gedanken ersetzen. Daneben kommt in der Behandlung einiger Angststörungen auch die stärker verhaltensorientierte Komponente des Exposure – mit oder ohne Reaktionsverhinderung (ERP) – zum Einsatz. Sowohl das Korrigieren von (unrealistischen) Gedanken als auch die direkte Konfrontation mit Ängsten (exposure) sind Techniken, die in MBPs nicht vorkommen. In MBPs wird vielmehr geübt, sich Ängsten gegenüber anders zu verhalten, sie mit einem größeren Abstand wahrzunehmen, sie kommen und gehen zu lassen, anstatt sich von ihnen mitreißen zu lassen und sich damit zu identifizieren. Es ist nicht beabsichtigt, die maladaptiven Kognitionen selbst zu korrigieren, wie in der KVT. In MBPs geht es eher darum, sich den Gefühlen der Angst zu öffnen, sie akzeptieren zu lernen oder sogar zu umarmen, statt sich von ihnen zu entfernen, sie zu kontrollieren oder verschwinden zu lassen, wie in der KVT. Zu den Effekten von MBPs in Bezug auf Angstsymptome zeigen sich unterschiedliche Ergebnisse. Hofmann, Sawyer, Witt und Oh (2010) betrachten 39 Studien, in denen MBPs in psychiatrischen Populationen eingesetzt wurden. In Bezug auf Angstsymptome stellen sie einen mittleren Effekt im Prä-Post-Vergleich fest (Effektstärke = 0.63) und bei Personen mit Angststörungen (die schwerwiegender sind) sogar einen großen Effekt (Effektstärke = 0.97). Die Effektstärken in diesen Übersichtsarbeiten sind nach Hedges g und nicht nach Cohens d definiert, aber für Gruppen mit mehr als 20 Personen macht dies wenig bis keinen Unterschied, es gelten also dieselben Grundsätze bei der Interpretation. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt betrachteten Vøllestad, Nielsen en Nielsen (2011) die Effekte von Achtsamkeit und Akzeptanz-basierten Interventionen (Mindfulness and Acceptance Based Interventions, MABIs) in 19 Studien (davon 13 unkontrollierte Studien) mit Personen mit Angststörungen. Es zeigte sich eine starke Reduzierung der Angstsymptome im Prä-Post-Vergleich (Effektstärke = 1.08). Und auch bei Studien mit einer Kontrollgruppe ist der Effekt von MABIs bei Angstsymptomen groß (Effektstärke = 0.83). In derselben Periode untersuchten Chen, Berger, Manheimer, Forde, Magidson, Dachman u. a. (2012) 36 RCTs auf die Effekte von »meditativen Therapien« bei Angstsymptomen und Angststörungen. Zu den meditativen Therapien zählen sie nicht nur MBSR, sondern auch Yoga und Qigong. Im Allgemeinen berichten die Forscher in ihrer Metaanalyse über einen mittleren Effekt dieser meditativen Therapien auf Angstsymptome, wenn sie mit Wartelistenkontrollgruppen (Effektstärke = 0.52) verglichen werden, und einen kleineren, aber signifikanten Effekt beim Vergleich mit aktiven Kontrollgruppen wie zum Beispiel Entspannungstraining (Effektstärke = 0.27). Allerdings kommen nicht alle Übersichtsarbeiten zu positiven Ergebnissen in Bezug auf die Effekte von MBPs auf Angststörungen. Strauss, Cavanagh, Oliver und Peltman (2014) raten zur Vorsicht bei der Verschreibung von MBPs bei Personen, bei denen Angstsymptome oder eine Angststörung im Mittelpunkt stehen. Sie stellen in ihrer Metaanalyse von acht RCTs bei Patienten mit einer akuten Angststörung keine signifikanten Effekte fest. Dabei benennen sie drei Kritikpunkte in Bezug auf frühere Übersichtsarbeiten: Oft werden nicht nur RCTs in die Arbeiten einbezogen, sondern auch Untersuchungen mit einem »schwächeren« Design, oft werden nicht nur reine Angststörungen betrachtet, sondern auch Studien zu Personen mit leichteren Angstsymptomen und oft wird eine sehr weitgefasste Definition von Mindfulness Based Program zugrunde gelegt.

Die Evidenz der Effektivität von MBPs bei Angstsymptomen und Angststörungen scheint also nicht völlig konsistent zu sein. Bei der Prävention und Behandlung von (rezidivierenden) Depressionen ist dies dagegen sehr wohl der Fall. MBCT ist inzwischen sogar in die multidisziplinären Leitlinien zur Depression des Trimbos Instituts (Spijker u. a., 2013) aufgenommen worden sowie in die NICE-Leitlinien für die Behandlung von Depressionen (NICE, 2009). Diese Leitlinien beruhen auf jahrelanger, gründlicher wissenschaftlicher Forschung. In verschiedenen Ländern wurden umfassende RCTs durchgeführt, in denen die Effektivität von MBCT in der Rückfallprävention bei Depressionen gezeigt wurde (Godfrin, Van Heeringen, 2010; Kuyken, Byford, Taylor, Watkins, Holden, White u. a. 2008; Segal, Bieling, Young, MacQueen, Cooke, Martin u. a., 2010; Teasdale, Segal, Williams, Ridgeway, Soulsby, Lau, 2000). Auch in verschiedenen Metaanalysen zeigt sich die Effektivität von MBCT bei (der Rückfallprävention von) Depressionen (z. B. Hofmann u. a., 2010; Khoury, Lecomte, Fortin, Masse, Therien, Bouchard u. a., 2013; Piet, Hougaard, 2011). Dabei erweist sich MBCT als besonders effektiv bei Personen, die drei oder mehr depressive Episoden durchlebt haben. Angesichts der Tatsache, dass eine Depression bei der Hälfte aller Personen, die jemals eine Depression durchlebt haben, im Durchschnitt sieben- bis achtmal im Leben erneut auftritt, und Personen mit einer rezidivierenden Depression im Durchschnitt 21 Prozent ihres Lebens im depressiven Zustand verbringen, so das Trimbos-Institut (Smit, Vlasveld, Beekman, Cuijpers, Schoevers, Ruiter u. a., 2013), ist MBCT also von unschätzbarem Wert. Die meisten Untersuchungen befassen sich mit den Effekten von MBPs auf rezidivierende Depressionen, wobei die Teilnehmenden an diesen Studien sich zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht in einem depressiven Zustand befinden. Es gibt jedoch auch eine interessante Metaanalyse über 4 RCTs, die zeigt, dass MBPs auch bei Personen effektiv sind, die sich gerade in einer depressiven Episode befinden (Effektstärke = 0.73) (Strauss u. a., 2014). Mindful2Work wurde nicht speziell für Menschen mit Depressionen entwickelt, aber Burn-out-Symptome und depressive Symptome überschneiden sich teilweise (siehe auch Abschnitt 1), sodass diese Studien für die wissenschaftliche Fundierung von Mindful2Work relevant sind, vor allem da ungefähr 60–70 Prozent des Programms aus klassischen Achtsamkeitsübungen bestehen, die unter anderem auf MBCT basieren. Bemerkenswert ist auch, dass Freudenberger, der 1974 den Begriff Burn-out einführte, noch der Meinung war, es wäre nicht sinnvoll, dass Menschen mit Burn-out-Symptomen meditierten oder Yoga machten, weil dies zu Unteraktivierung und mentaler Trägheit führen würde. Stattdessen sei körperliche Aktivität grundlegend (Iacovides, Fountoulakis, Kaprinis, Kaprinis, 2003). Wie sich diese Annahme in kaum 50 Jahren doch verändert hat! Im Mindful2Work-Programm, das sich an Personen mit Burn-out-Symptomen richtet, werden die genannten drei Elemente sogar kombiniert.

 

Wir wissen nicht nur, dass die Achtsamkeitspraxis heilsam für unser geistiges Wohlbefinden ist, sondern auch, dass MBPs unser körperliches Wohlbefinden verbessern können. Es ist schließlich kein Zufall, dass der Begründer der MBSR, Kabat-Zinn, sein Programm aus seiner Arbeit mit Patienten entwickelte, die unter chronischen körperlichen Schmerzen litten (Kabat-Zinn, 1982). In einer Metaanalyse über 20 Studien, in denen sowohl die körperlichen wie seelischen Effekte von MBSR betrachtet werden, wird deutlich, dass der gesamte Effekt auf körperlicher Ebene (Effektstärke = 0.53) vergleichbar ist mit dem gesamten Effekt auf das seelische Wohlbefinden (Effektstärke = 0.54) (Grossman, Nieman, Schmidt, Walach, 2004). MBPs werden auch zur Verbesserung der Schlafqualität eingesetzt sowie zur Behandlung von Schlaflosigkeit (Ong, Shapiro, Manber, 2008; Wong, Zhang, Li, Yip, Chan, Ling u. a., 2017), und wir wissen, dass das Ausmaß an achtsamem Bewusstsein positiv mit der Schlafqualität korreliert. Und obwohl wir als Achtsamkeitstrainerinnen, die auch selbst Achtsamkeit praktizieren, die heilsamen Effekte von Achtsamkeit sehr genau kennen, erscheint uns als Wissenschaftlerinnen an dieser Stelle dennoch eine kritische Anmerkung gerechtfertigt, da uns daran gelegen ist, dass die große Anzahl an positiven Achtsamkeitsstudien richtig eingeschätzt wird. 2016 wurde in Nature News* gewarnt: »Power of positive thinking skews mindfulness studies«, also: Die Kraft des positiven Denkens verzerrt Achtsamkeitsstudien (Anm. der Übersetzerin). Diese Aussage bezog sich auf einen Artikel aus PLOS ONE, in dem darauf hingewiesen wurde, dass fast 90 Prozent der veröffentlichten RCTs, vor allem jene mit Bezug auf Depressionen, positive Ergebnisse zeigten und dass es kaum Achtsamkeitsstudien gibt, die negative oder Null-Befunde veröffentlichen (Coronado-Montoya, Levis, Kwakkenbos, Steele, Turner, Thombs, 2016). Die Autoren des Artikels haben nicht die Absicht, auf diese Weise den Wert von MBPs zu entkräften, sie wollen Forscher und Kritiker lediglich dazu anhalten, MBP-Studien vorab zu registrieren, die primären Untersuchungsziele im Vorfeld darzulegen und auch negative Resultate zu publizieren, denn auch diese liefern dem Gesundheitssystem wichtige Informationen.

4.1 Wie wirkt Achtsamkeit eigentlich?

Natürlich ist es wichtig zu wissen, dass MBPs – ebenso wie (bewusste) aktive Bewegung und Yoga – effektiv sind, aber dies klärt noch nicht die Frage, über welche Wirkmechanismen diese Effekte erreicht werden? Dazu wurde in den vergangenen Jahren sehr viel geforscht, inzwischen sogar so viel, dass 2015 gleich zwei systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zu Mediations-Studien verfügbar waren und 2017 eine weitere systematische Übersichtsarbeit. Eine der Arbeiten aus dem Jahr 2015 (20 Studien) betrachtet besonders potenzielle Mediatoren von MBCT sowie MBSR in Bezug auf Wohlbefinden und Lebensqualität in verschiedenen Populationen (Gu, Strauss, Bond, Cavanagh, 2015), die zweite Arbeit (23 Studien) konzentriert sich speziell auf potenzielle Mediatoren eines MBCT-Trainings bei der Behandlung von Depressionen (Van der Velden, Kuyken, Wattar, Crane, Pallesen, Dahlgaard u. a., 2015). Die beiden Arbeiten unterscheiden sich außerdem in ihrer Definition von »Wirkmechanismus«. Gu und Kollegen (2015) betrachten gezielt Mediationsstudien, während Van der Velden und Kollegen (2015) den Begriff etwas weiter fassen und sowohl assoziative (Korrelationen), prädikative (Regressionsanalysen) als auch Mediationsstudien sichten.

Auch wenn in diesen beiden systematischen Übersichtsarbeiten also etwas andere Akzente gesetzt werden, befassen sich doch beide mit der für uns zentralen Frage: Wie, über welche Wege, erzielen MBPs ihre positiven Effekte auf das geistige (und körperliche) Wohlbefinden? Dasselbe gilt für die zurzeit aktuellste systematische Übersichtsarbeit auf diesem Gebiet (Alsubaie, Abbott, Dunn, Dickens, Keil, Henley u. a., 2017). In dieser Arbeit werden die Wirkmechanismen von MBSR sowie MBCT bei Personen mit körperlichen und/oder psychologischen Erkrankungen untersucht (18 Studien). Die größte Evidenz ergibt sich dabei für das achtsame Bewusstsein als zugrunde liegendem Wirkmechanismus, auch wenn hier nicht alle Studien von hoher Qualität sind (Alsubaie u. a., 2017; Gu u. a., 2015). Der Anstieg des achtsamen Bewusstseins nach einem MBP erklärt, sagt voraus oder mediiert die anschließende Reduzierung von depressiven Symptomen und verbessert das geistige Wohlbefinden in unterschiedlichen Populationen (Batink, Peeters, Geschwind, Van Os, Wichers, 2013; Bränström u. a., 2010; Kuyken u. a., 2010; Nyklíček, Beugen, Denollet, 2013). Daneben stellen sich verschiedene Formen des repetitiven negativen Denkens (zum Beispiel Grübeln über die Zukunft oder über die Vergangenheit) als Wirkmechanismen heraus. Eine Verringerung des Grübelns nach einem MBCT-Training wird positiv assoziiert mit einer Reduzierung der depressiven Symptome und des Rückfallrisikos und sagt diese voraus (Michalak, Hölz, Teisman, 2011; Van Aalderen, Donders, Giommi, Spinhoven, Barendregt, Speckens, 2012). Zugleich mediieren Grübeln und Akzeptanz die Ergebnisse (Reduzierung der Depression) nach einem MBCT-Training (Batink u. a., 2013; Heeren, Philippot, 2011; Van Aalderen u. a., 2012). Allerdings gibt es auch Studien, in denen diese Assoziation und Mediation von Grübeln nicht gefunden wird (Bieling, Hawley, Bloch, Corcoran, Levitan, Young, u. a., 2012). Weiterhin gibt es einige Evidenz für (kognitive und emotionale) Reaktivität als Mediator für die Zielgröße Depression nach einem MBCT-Training (Raes, Dewulf, Van Heeringen, Williams, 2009; Scher, Ingram, Segal, 2005). Kognitive und emotionale Reaktivität verweist hier auf die Ausprägung der Anfälligkeit einer Person mit Depressionen, unter Stress sofort wieder in negative Denk- und negative emotionale Muster zu verfallen, was das Risiko für einen Rückfall in die Depression begünstigt. Obwohl hierzu nur eine begrenzte Anzahl Studien zur Verfügung steht, sind diese jedoch von hoher methodischer Qualität (Gu u. a., 2015). Zukünftige Studien werden zeigen, ob Reaktivität auch in anderen MBPs und anderen Populationen zu den Wirkmechanismen gezählt werden kann.