Theory of Mind

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utb 5133

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Jun.-Prof. Dr. Anne Böckler-Raettig lehrt an der Universität Würzburg und untersucht die Grundlagen sozialen Verstehens und Verhaltens. Mit experimental-psychologischen und neurowissenschaftlichen Methoden erforscht sie unter anderem Blickkontakt, Empathie, Theory of Mind und prosoziales Verhalten.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 5133

ISBN 978-3-8252-5133-8

ISBN 978-3-846-35133-8 (EPUB)

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: © iStock.com/Benjavisa

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Einführung

Hauptteil

1 Was ist Theory of Mind?

2 Wie kann man Theory of Mind messen?

3 Wie entwickelt sich Theory of Mind über die Lebensspanne?

4 Bei wem ist Theory of Mind beeinträchtigt?

5 (Wie) kann man Theory of Mind fördern?

6 Gibt es Theory of Mind bei Tieren?

Anhang

Glossar

Literatur

Register

Abkürzungsverzeichnis


aSTS = anteriorer superiorer temporaler Sulkus
BOLD = Blood-Oxygenation-Level Dependent
BAS = Bipolare Affektive Störung
CBASP = Cognitive-Behavioural Analysis System of Psychotherapy
fMRT = funktionelle Magnetresonanztomografie
FTD = Frontotemporale Demenz
ICD = International Classification of Diseases and Related Health Problems
IFG = inferiorer frontaler Gyrus
IMT = Imposing Memory Task
MASC = Movie for the Assessment of Social Cognition
mPFC = medialer präfrontaler Kortex
PCC = posteriorer cingulärer Kortex
PRE = Precuneus
pSTS = posteriorer superiorer temporaler Sulkus
RME = Reading the Mind in the Eyes Test
SSES = Spezifische Sprachentwicklungsstörung
ToM = Theory of Mind
TP = temporale Pole
TPJ = temporo-parietale Junktion

Einführung

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“

(Immanuel Kant).

In dem von Immanuel Kant formulierten kategorischen Imperativ liegt unsere moderne Ethik begründet. Bevor wir eine Handlung ausführen, sollen wir demnach von uns selbst abstrahieren und prüfen, ob wir diese Handlung auch dann für richtig befinden würden, wenn wir in einer anderen gesellschaftlichen oder persönlichen Situation wären. Aus psychologischer Sicht ist dieser mentale Prozess, das Abstrahieren von eigenen momentanen äußeren und inneren Zuständen und das hypothetische Sich-Hineinversetzen in Andere, potentiell von unserem Handeln Betroffene, hochinteressant – und ein Beispiel für Theory of Mind.

Theory of Mind als der Versuch, die Gedanken, Überzeugungen und Absichten, also die mentalen Zustände Anderer, zu verstehen, ist nicht nur für moralisches Handeln unabdingbar. Um in unserer komplexen, durch und durch sozialen Welt sinnvoll agieren zu können, bedarf es der adäquaten Vorhersage der Handlungen und Reaktionen unserer Mitmenschen (Heider 1958). Und dafür müssen wir uns fragen: Wie sieht die Welt aus den Augen meines Gegenübers aus und wie geht es sich in seinen Schuhen? Diese Sicht auf die Sicht des Anderen spielt für erfolgreiche Koordination, Kommunikation und Kooperation eine zentrale Rolle (Frith/Frith 2003). Gleichzeitig stoßen wir regelmäßig an Grenzen, wenn es darum geht, von unserer eigenen Lebensrealität, von unseren Überzeugungen und Vorlieben abzusehen und den Blickwinkel Anderer nachzuvollziehen, vor allem dann, so scheint es, wenn dies besonders notwendig wäre, z. B. während emotionaler Situationen wie Konflikten und Krisen (Kanske et al. 2016).

Das vorliegende Buch soll einen Einblick in die empirische Forschung zu Theory of Mind geben. Dazu wird zunächst der Begriff geklärt und von verwandten Konzepten abgegrenzt und es werden neuronale und kognitive Grundlagen beleuchtet sowie persönliche und situative Faktoren erörtert, die mit Theory of Mind zusammenhängen. Da unser Verständnis von Theory of Mind eng mit deren empirischer Untersuchung verknüpft ist, gibt Kapitel 2 einen Überblick über typischerweise genutzte Messverfahren. Wie sich Theory of Mind über die Lebensspanne entwickelt, in welchen Psychopathologien sie beeinträchtigt ist und wie wir sie durch Trainings fördern können, wird in den nachfolgenden Kapiteln behandelt. Abschließend fasst Kapitel 6 die Forschung zu Theory of Mind im Tierreich zusammen.

 

Theory of Mind ist ein u. a. in der Psychologie und den sozialen Neurowissenschaften stark beforschtes Themengebiet. Die theoretischen und empirischen Arbeiten sind vielfältig und deren vollständige Wiedergabe würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Nicht genannte Forscherinnen und Forscher bitte ich um ihr Verständnis. Gleichzeitig gibt es neben den bereits gewonnenen Erkenntnissen auch offene Fragen und Kontroversen, auf die das vorliegende Buch an den entsprechenden Stellen verweisen möchte.

Um die Gültigkeit der hier beschriebenen Erkenntnisse für beide Geschlechter zu betonen, werden die männliche und weibliche Form im Wechsel verwendet.

Hauptteil

Was ist Theory of Mind?

1


Theory of Mind, das Nachdenken über die mentalen Zustände unserer Mitmenschen, ist ein zentraler Aspekt sozialen Erlebens und Handelns. Das folgende Kapitel zeichnet die Entwicklung des Theory of Mind-Begriffs in der empirischen Forschung nach und grenzt ihn von verwandten sozialen Funktionen wie Empathie, Mitgefühl, räumlicher Perspektivübernahme und Metakognition ab. Der aktuelle Forschungsstand zu den neuronalen Grundlagen und den an Theory of Mind beteiligten kognitiven Prozesse wird zusammengefasst. Abschließend soll ein Überblick über persönliche und situative Faktoren gegeben werden, die mit der individuellen Motivation und / oder Fähigkeit zu Theory of Mind in Zusammenhang stehen.


Lebewesen zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, mit ihrer Umwelt zu interagieren. Die Umwelt von uns Menschen besteht nun maßgeblich aus anderen Menschen; Gelegenheiten – und die Notwendigkeit – zu sozialer Interaktion sind also allgegenwärtig. Wenn wir mit Anderen kommunizieren und kooperieren, sei es beim gemeinsamen Tragen eines Sofas während unseres Umzugs oder beim Planen eines Urlaubs, spielen nicht nur unsere eigenen Gedanken, Absichten und Überzeugungen eine Rolle, sondern auch die des Anderen. Weiß meine Bekannte, dass ich das Sofa kippen will, bevor wir das enge Treppenhaus betreten? Bedenke ich, dass mein Partner wegen seines Heuschnupfens lieber im Herbst verreisen möchte? Was vermutet meine Mutter, dass ich über ihre Meinung zu meiner Berufswahl weiß?

Der Versuch, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über diese nachzudenken, wird als Theory of Mind (ToM) bezeichnet. Um die verschiedenen Facetten dieses Begriffes besser verstehen zu können, werden im Folgenden die Hintergründe der psychologischen Forschung zu ToM aufgezeigt.

Hintergrund und Definition

Die empirische Forschung zu ToM hat ihren Ursprung in der Frage, welche Lebewesen sich selbst und Anderen überhaupt mentale Zustände zuschreiben. In diesem Zusammenhang bezeichnet ToM das Verständnis, dass Individuen geistige Zustände haben, z. B. Überzeugungen und Absichten, die zum einen ursächlich für ihr Verhalten sind und die sich zum anderen zwischen Individuen unterscheiden können. Eine Person hat also eine ToM, wenn sie versteht, dass der Student, der die Dozentin im Büro vermutet, und die Studentin, die die Dozentin in der Kantine vermutet, jeweils an unterschiedlichen Orten nach ihr Ausschau halten werden (unabhängig davon, wo sie sich tatsächlich aufhält). Die ersten Untersuchungen zielten darauf ab, herauszufinden, wer dieses Verständnis, also eine ToM, besitzt. Premack und Woodruff (1978) erforschten beispielsweise, ob Schimpansen bei Menschen mentale Zustände erkennen und deren Verhalten entsprechend vorhersagen können (siehe Studienbeschreibung Premack / Woodruff 1978).

Studie

„Does the chimpanzee have a Theory of Mind?“

(Premack / Woodruff 1978)

In ihrem Artikel „Does the chimpanzee have a Theory of Mind?“ gingen David Premack und Guy Woodruff der Frage nach, ob Schimpansen Menschen Absichten zuschreiben können. Dafür zeigten die Autoren der 14-jährigen und bei Menschen aufgewachsenen Schimpansin Sarah kurze Videosequenzen, in denen Menschen mit verschiedenen Problemen konfrontiert waren, u. a. mit außer Reichweite befindlichen Nahrungsmitteln, mit abgeschlossenen Türen oder mit nicht angeschlossenen elektrischen Geräten. Unmittelbar nach jedem Video legten die Forscher der Schimpansin mehrere Fotos vor, wobei nur eines der Fotos den zur Lösung des Problems notwendigen Gegenstand abbildete. Die Ergebnisse zeigten, dass Sarah überzufällig häufig das jeweils richtige Foto auswählte. Premack und Woodruff schlussfolgerten, dass Schimpansin Sarah den in den Videos abgebildeten Personen Handlungsabsichten zuschrieb und so deren Verhalten entsprechend vorhersagen konnte (Premack / Woodruff 1978).


Ganz ähnlich war auch die Forschung zu ToM bei Kindern zunächst auf die Frage ausgerichtet, ob und in welchem Lebensalter Kinder die Einsicht erlangen, dass andere Personen mentale Zustände haben, die von ihren eigenen mentalen Zuständen abweichen können (Perner / Wimmer 1985). Diese Art der Fragestellung sieht ToM als eine Reihe von Konzepten und Kenntnissen, die man entweder hat oder nicht hat.

Nachdem hier spannende Einsichten gewonnen wurden (siehe auch Kapitel 3 und Kapitel 6), hat sich der Fokus wissenschaftlicher Forschung zunehmend auf die Frage gerichtet, wie das Verstehen der mentalen Zustände anderer Individuen eigentlich funktioniert. Welche kognitiven Prozesse laufen ab, während wir erschließen, was Andere denken, wissen, wollen und mögen? Vor diesem Hintergrund wird ToM also weniger als etwas verstanden, das man hat, sondern vielmehr als etwas, das man tut. Die Definition von ToM als der Versuch bzw. der Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen, hat inzwischen relativ breite Akzeptanz gefunden (Apperly 2012). Dieser Ansatz bietet die Grundlage für Untersuchungen von ToM über die komplette Lebensspanne hinweg und erlaubt die präzise Erforschung der neuronalen, kognitiven, situativen und persönlichen Faktoren, die beim Verstehen anderer Menschen eine Rolle spielen.

Definition

Theory of Mind ist der Versuch, zu verstehen, was Andere denken, wissen, glauben, wollen, planen oder mögen. Theory of Mind bezeichnet also den Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über diese nachzudenken.

Gängige synonyme Bezeichnungen für ToM in der wissenschaftlichen Literatur sind Mentalisieren (mentalizing) und kognitive Perspektivübernahme. Umgangssprachlich beschreiben auch die Termini „sich in jemanden / jemandes Lage hineinversetzen“, „jemandes Blickwinkel einnehmen“ oder „sich in jemandes Schuhe stellen“, was wir unter ToM verstehen.

Das Erschließen der mentalen Zustände unserer Mitmenschen ist in vielfältigen sozialen Konstellationen relevant und spielt z. B. eine Rolle für

■ Ironie (Hier müssen wir verstehen, dass eine Person etwas anderes denkt, als sie sagt.)

■ Small Talk (Hier müssen wir verstehen, dass unser Gegenüber nicht die ehrliche, sondern die einfache und / oder unterhaltsame Antwort auf ihre Fragen erwartet.)

■ Taktgefühl (Hier müssen wir verstehen, worüber unser Gesprächspartner lieber nicht sprechen oder was er nicht hören möchte.)

■ Verhandlungen (Hier müssen wir verstehen, zu welchen Kompromissen unsere Verhandlungspartnerinnen bereit sind und mit welchen Zugeständnissen von unserer Seite sie zufrieden wären.)

■ Bluffen (Hier müssen wir im Bewusstsein halten, dass die getäuschte Person etwas glaubt, von dem wir selbst wissen, dass es nicht wahr ist.)

■ das Führen eines Teams (Hier müssen wir u. a. verstehen, wer wodurch motiviert werden kann und wie viel Freiraum bzw. Anleitung die verschiedenen Mitarbeiter benötigen.)

■ das Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen (Hier müssen wir nachvollziehen, was das Verhalten unserer Freundin über ihre Ansichten und Absichten aussagt und welche Auswirkungen unser eigenes Verhalten auf unsere Freundin hat.)

Die Komplexität der ToM-Anforderungen kann natürlich je nach Situation variieren und man spricht häufig von verschiedenen Stufen oder Levels der kognitiven Perspektivübernahme. Die erste Stufe beschreibt dabei das Nachvollziehen eines mentalen Zustandes der Form „A glaubt (oder weiß, will, plant, etc.) x“. Die zweite Stufe hat entsprechend die Form „A glaubt (...), dass B möchte (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“, die dritte Stufe beschreibt „A glaubt (...), dass B möchte (...), dass C denkt (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“ und so fort (siehe Abbildung 1). Im Durchschnitt können Erwachsene derartige Aussagen bis zur vierten Stufe relativ problemlos nachvollziehen (Kindermann et al. 1998).


Abb. 1: Beispielhafte Darstellung von ToM der Komplexitäts-Stufen 1, 2 und 3

Abgrenzung

Während unserer vielfältigen und allgegenwärtigen Interaktionen nutzen wir nicht nur ToM, sondern auch andere Zugänge, um das Verhalten unserer Mitmenschen zu deuten und unsere eigenen Handlungen entsprechend anzupassen. Es ist daher sinnvoll, diese Prozesse (beispielsweise Empathie und räumliche Perspektivübernahme) kurz zu benennen und vom ToM-Begriff abzugrenzen. Dabei gilt es zu bedenken, dass in der reichhaltigen Literatur zu sozialer Kognition unterschiedliche Definitionen und Kategorisierungen der Mechanismen sozialen Verstehens existieren. Die folgende Klassifikation ist also eine gängige, aber nicht die einzige. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen sozio-emotionalen und sozio-kognitiven Prozesse nicht strikt getrennt voneinander ablaufen, sondern auf vielfältige Weise miteinander interagieren können (Kanske et al. 2016).

Empathie

Wenn es darum geht, unsere Mitmenschen zu verstehen, spielen neben dem kognitiven Zugang, der ToM, vor allem auch emotionale Prozesse eine Rolle. Ein intuitives Verständnis dafür, wie es Anderen geht, erlangen wir durch Empathie (Lipps 1907). Wenn wir sehen, wie andere Menschen körperlichen Schmerz erleiden, spüren wir diesen förmlich am eigenen Leib. Ebenso fühlen wir uns direkt und ohne bewusste Anstrengung in Personen ein, die Trauer, Wut oder Freude zeigen. Dieses unmittelbare Teilen der körperlichen, sensorischen oder emotionalen Zustände anderer Menschen wird als Empathie bezeichnet (De Vignemont / Singer 2006).

Definition

Empathie ist ein emotionaler Zustand, der durch denselben Zustand einer anderen Person ausgelöst wird und bezeichnet das unmittelbare Einfühlen in die körperliche oder emotionale Lage Anderer.

Mitgefühl

Die Beobachtung oder Vorstellung von körperlichem oder psychischem Leid führt nicht nur dazu, dass wir uns direkt in die Betroffenen einfühlen und deren Leid teilen, sondern kann auch einen weiteren emotionalen Zustand auslösen, das Mitgefühl, oder compassion (Batson et al. 1987). Im Gegensatz zur Empathie bezeichnet Mitgefühl ein positives Gefühl des Wohlwollens und der Wärme für unsere Mitmenschen.

Definition

Mitgefühl oder compassion beschreibt das positive Gefühl des Wohlwollens und der Wärme für andere Lebewesen.

Räumliche Perspektivübernahme

 

Wenn wir miteinander interagieren, treten häufig Situationen auf, in denen wir aus unterschiedlichen räumlichen Perspektiven auf Objekte oder Szenen schauen. Beim gemeinsamen Tragen eines Klaviers haben wir unterschiedliche Blickwinkel, sowohl auf das Klavier als auch darauf, was sich hinter dem jeweils Anderen befindet. Für die erfolgreiche Koordination von Handlungen ist es wichtig, dass wir die (unterschiedliche) Perspektive Anderer miteinbeziehen, ein Prozess, der als räumliche Perspektivübernahme bezeichnet wird und den Menschen sowohl absichtlich als auch relativ automatisch ausführen können (Samson et al. 2010; Böckler et al. 2011). Im Unterschied zu ToM gibt es bei der räumlichen Perspektivübernahme häufig einen direkten und sichtbaren Zugang zur Perspektive des Anderen, während die mentalen Zustände Anderer nicht sichtbar sind.

Definition

Räumliche Perspektivübernahme bezeichnet das explizite Erschließen oder das implizite Miteinbeziehen der (unterschiedlichen) visuell-räumlichen Perspektive Anderer.

Metakognition

Natürlich interessieren wir uns nicht nur dafür, was in unseren Mitmenschen vorgeht, sondern auch für die geistigen Prozesse, die bei uns selbst ablaufen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen kognitiven Zuständen, also beispielsweise damit, was und wie wir denken, erinnern, wollen, wahrnehmen und wissen, wird als Metakognition bezeichnet (Flavell 1979). Dieses Denken über das eigene Denken ist ein aktiver Vorgang, der beispielsweise beim Lernen eine Rolle spielt oder dann, wenn wir Tagträume (mind wandering) beiseiteschieben, um uns auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Während der Gegenstand von Metakognition per Definition ein anderer ist als von ToM, nämlich die eigenen mentalen Vorgänge statt die mentalen Vorgänge eines Anderen, scheinen sich die kognitiven und neuronalen Grundlagen von Metakognition und ToM teilweise zu überlappen (Lombardo et al. 2010).

Definition

Unter Metakognition versteht man das Nachdenken über die eigenen geistigen Vorgänge wie beispielsweise die eigene Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Einstellungen, das eigene Gedächtnis oder Wissen.

Merksatz

Gelungene zwischenmenschliche Interaktionen setzen ein gewisses Maß an sozialem Verstehen voraus, also einen Zugang dazu, was andere Menschen wahrnehmen, fühlen und denken. ToM bezeichnet das Nachdenken über mentale Zustände Anderer, also einen kognitiven Zugang zu anderen Menschen. Unter Empathie verstehen wir hingegen das Sich-Einfühlen in Andere, also den emotionalen Zugang zu unseren Mitmenschen. Räumliche Perspektivübernahme beschreibt schließlich den Zugang dazu, was Andere sehen oder nicht sehen, also zu deren visueller Wahrnehmung. Das Nachdenken über eigene mentale Zustände wird als Metakognition bezeichnet.

Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits darauf hingewiesen, dass die empirische Forschung zunehmend der Frage nachgeht, wie ToM eigentlich funktioniert. Welche kognitiven Prozesse sind beteiligt, wenn wir versuchen, die Absichten, Gedanken oder Überzeugungen unseres Gegenübers zu erschließen? Diese Frage nach den kognitiven Teilprozessen ist eng verknüpft mit der Erforschung der neuronalen Korrelate von ToM.

Neuronale Grundlagen

Die sozialen Neurowissenschaften widmen sich der Untersuchung der neuronalen Grundlagen sozialen Verstehens und Verhaltens. Dabei werden verschiedene Methoden genutzt, um die Bedeutung bestimmter Hirnregionen für soziale Funktionen wie Empathie oder ToM zu beleuchten. Für die Untersuchung von ToM ist die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) ein gängiges Verfahren. Um die Ergebnisse der entsprechenden Untersuchungen einordnen und interpretieren zu können, ist es wichtig, das Prinzip zu verstehen, auf dem diese Methode beruht (siehe Exkurs fMRT).

Exkurs

Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT): Bei der Untersuchung im Magnetresonanztomographen liegt die Versuchsperson auf dem Rücken und bekommt Reize dargeboten, z. B. Bilder, Filme oder Töne, auf die sie reagieren soll. Während der Reizpräsentation wird nun die Durchblutung des Gewebes im Gehirn gemessen. Diese Messung beruht auf den magnetischen Eigenschaften von Wasserstoff-Kernen (Protonen), die durch kurze Impulse abgelenkt werden und sich dann wieder am starken Magnetfeld des MRT-Geräts ausrichten. Die Energie, die die Protonen dabei abgeben, wird als Magnetresonanz bezeichnet und vom MRT-Gerät erfasst. Um nun zu messen, welche Regionen während der Verarbeitung eines Reizes oder der Bearbeitung einer Aufgabe besonders durchblutet sind, wird die Tatsache genutzt, dass der Blutfarbstoff Hämoglobin andere magnetische Eigenschaften hat, wenn er sauerstoffreich ist als wenn er sauerstoffarm ist. Nervenzellen in aktiven Hirnregionen benötigen mehr Sauerstoff, deshalb fließt mehr sauerstoffreiches Blut in diese Regionen. Dieser Unterschied wird als Blood-Oxygenation-Level Dependent (BOLD)-Effekt bezeichnet. Auf diese Weise kann die fMRT millimetergenau erfassen, wo eine durch Nervenzellenaktivität ausgelöste erhöhte Durchblutung stattgefunden hat. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass die Veränderung des Hämoglobins nicht zeitgleich mit der neuronalen Aktivität auftritt, sondern erst einige Sekunden später. Es ist außerdem wichtig zu bedenken, dass unser lebendes Gehirn nicht nur dann durchblutet ist, wenn wir bestimmte Aufgaben bearbeiten, sondern zu jedem Zeitpunkt. Um also sinnvolle Aussagen über die Bedeutung spezifischer Hirnareale für psychologische Prozesse zu erhalten, muss man die Durchblutung während des interessierenden Prozesses (Versuchsbedingung) mit der Durchblutung unter maximal ähnlichen Bedingungen vergleichen, aber ohne den interessierenden Prozess (Kontrollbedingung). Die entsprechenden Unterschiede in der Magnetresonanz werden dann farbig auf dem Bild des Gehirns abgetragen.


Auf der Basis von fMRT-Untersuchungen wurden mehrere Hirnareale identifiziert, die während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktiviert sind und die auch als ToM-Netzwerk bezeichnet werden (Frith / Frith 2006; Saxe / Kanwisher 2003). Dazu gehören (siehe Abbildung 2)

■ die temporo-parietale Junktion (TPJ),

■ der mediale präfrontale Kortex (mPFC),

■ der Precuneus (PRE),

■ der posteriore cinguläre Kortex (PCC),

■ der posteriore superiore temporale Sulkus (pSTS) und

■ die temporalen Pole (TP).

■ Manche Untersuchungen zählen außerdem den anterioren superioren temporalen Sulkus (aSTS) und die Amygdala hinzu.


Abb. 2: Schematische Darstellung der Hirnareale, die bei der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktiviert sind (linke Hemisphäre): medialer präfrontaler Kortex (mPFC), Precuneus (PRE) / posteriorer cingulärer Kortex (PCC), superiorer temporaler Sulkus (STS), temporo-parietale Junktion (TPJ) und temporale Pole (TP)

Merksatz

Während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktivierte Hirnregionen sind die temporo-parietale Junktion (TPJ), Teile des superioren temporalen Sulkus (STS), die temporalen Pole (TP) und mediale Regionen wie der mediale präfrontale Kortex (mPFC), der Precuneus (PRE) und der posteriore cinguläre Kortex (PCC).

Die Vielzahl der beteiligten Areale lässt bereits vermuten, dass ToM keine einfache und eng umschriebene Funktion ist wie beispielsweise das Bewegungssehen, sondern dass es sich vielmehr um einen komplexen kognitiven Vorgang handelt, der verschiedene Teilprozesse beinhaltet. Besonders interessant werden die neurowissenschaftlichen Befunde also vor allem dann, wenn sie dabei helfen aufzuklären, welche spezifischen Prozesse am Mentalisieren beteiligt sind.

Teilprozesse von ToM

Die Erforschung der geistigen Vorgänge, die ToM zugrunde liegen, ist in vollem Gange und es werden in der Literatur einige Prozesse und Fertigkeiten diskutiert, die zum Tragen kommen, wenn wir versuchen, uns in Andere hineinzuversetzen.

Self / other distinction: Ausschlaggebend dafür, andere Menschen verstehen zu können, ist das Wissen um die Trennung zwischen Selbst und Anderen bzw. der Prozess des Auseinanderhaltens eigener und fremder Zustände: die sogenannte self / other distinction. Wenn wir einen Freund nach einer Prüfung, die wir selbst noch ablegen müssen, weinen sehen, haben wir sowohl eine mentale Repräsentation der Erfahrung unseres Freundes (nämlich „traurig“ und „Prüfung abgelegt“) als auch, zeitgleich, eine mentale Repräsentation unseres eigenen Zustandes (nämlich „nervös wegen bevorstehender Prüfung“). Diese beiden Repräsentationen müssen wir auseinanderhalten – nur so gelingt es uns, mentale Zustände bei Anderen anzunehmen und nachzuvollziehen, die wir (momentan) nicht teilen. Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass die TPJ eine für diesen Prozess relevante Hirnregion ist (Steinbeis 2016).

Beurteilung psychologischer und sozialer Eigenschaften: Das Erschließen und Erkennen mentaler Zustände basiert auch darauf, dass wir anderen Menschen stabile Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Die Repräsentationen dieser emotional und sozial bedeutsamen inneren, von der sichtbaren Welt entkoppelten Eigenschaften beruhen auf unserer Lebenserfahrung, also auf unserem autobiografischen Gedächtnis, und scheinen mit einer besonderen Aktivierung des mPFC einherzugehen (Schurz et al. 2014).

Mental imagery: Sich in Personen hineinzuversetzen, deren Situationen und Perspektiven sich von den unseren unterscheiden, bedarf einer gewissen kognitiven Flexibilität und Vorstellungskraft. Der als mental imagery bezeichnete Prozess des Sich-Vorstellens bestimmter, der direkten Wahrnehmung nicht zugänglicher Zustände wird von neurowissenschaftlichen Studien mit dem Precuneus in Zusammenhang gebracht (Schurz et al. 2014).

Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen (gaze, biological motion and agency): Wenn wir zu erschließen versuchen, was Personen denken, wollen oder planen, nutzen wir dafür bestimmte soziale Informationen, z. B. deren Blickrichtung, deren Bewegungsmuster und deren Handlungen. Wohin jemand schaut kann Aufschluss darüber geben, was sie interessiert, was sie tun oder haben möchte. An der Art der Bewegungsabläufe erkennen wir, ob jemand gerade vorsichtig oder selbstsicher ist, traurig oder fröhlich, zielgerichtet oder unentschlossen. Und von den Handlungen eines Menschen schließen wir auf dessen Absichten und Pläne. Auf die effektive und zuverlässige Verarbeitung dieser sozialen Reize ist unser Gehirn hochspezialisiert. Vor allem die temporalen Hirnregionen wie der STS scheinen dabei eine wichtige Rolle zu spielen (Frith / Frith 2003).

Kontextuelle Einbettung: Um menschliches Verhalten richtig deuten zu können, gilt es, den Kontext, in dem es stattfindet, zu beachten. Wir brauchen also Kenntnisse darüber, wie man sich typischerweise in den verschiedensten (sozialen) Situationen verhält. Das semantische Wissen über diese sogenannten sozialen Skripte basiert auf unseren eigenen Erfahrungen in der sozialen Welt. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass die temporalen Pole beim Abrufen sozialer Skripte und bei der kontextuellen Einbettung von beobachtetem Verhalten beteiligt sind (Frith / Frith 2003).

Merksatz

An ToM beteiligte kognitive Prozesse sind u. a. das Auseinanderhalten eigener und fremder Zustände (self / other distinction), die Repräsentation nicht direkt beobachtbarer persönlicher Eigenschaften, mental imagery, die Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen und das Abrufen unseres semantischen Wissens über soziale Skripte.

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