Wer hilft mir, was zu werden?

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BBG (2002). Bundesgesetz über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz) vom 13. Dezember 2002 (Stand am 1. Januar 2013). SR 412.10.

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BBT (2000). Thesen zur Berufsbildungsforschung und Organisation des Leistungsbereichs. Bericht der Projektgruppe applikationsorientierte Berufsbildungsforschung des BBT. Bern: Bundesamt für Berufsbildung und Technologie.

BFS (jährlich). Schülerinnen, Schüler und Studierende. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

BFS (2011). Statistik der beruflichen Grundbildung 2010. Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

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Eberhard, Verena (2006). Das Konzept der Ausbildungsreife – ein ungeklärtes Konstrukt im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen. Bonn: BIBB.

Fibbi, Rosita; Kaya, Bülent & Piguet, Etienne (2003). Le passeport ou le diplôme? Étude des discriminations à l’embauche des jeunes issus de la migration. Rapport de recherche 31/2003. Neuenburg: Forum suisse pour l’étude des migrations et de la population (SFM). https://doc.rero.ch/record/6451/files/31.pdf [18.4.2014].

Galliker, Robert (2011). Projekt Nahtstelle: Schlussbericht. Bern: Generalsekretariat EDK.

Hupka-Brunner, Sandra; Meyer, Thomas; Stalder, Barbara E. & Keller, Anita (2011). PISA-Kompetenzen und Übergangswege: Ergebnisse aus der Schweizer TREE-Studie. In: Elisabeth M. Krekel & Tilly Lex (Hrsg.), Neue Jugend? Neue Ausbildung? Beiträge aus der Jugend- und Bildungsforschung (S. 175–190). Bielefeld: Bertelsmann.

Imdorf, Christian (2010). Wie Ausbildungsbetriebe soziale Ungleichheit reproduzieren: Der Ausschluss von Migrantenjugendlichen bei der Lehrlingsselektion. In: Heinz-Hermann Krüger, Ursula Rabe-Kleberg, Rolf-Torsten Kramer & Jürgen Budde (Hrsg.), Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule (S. 263–278). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Keller, Anita; Hupka-Brunner, Sandra & Meyer, Thomas (2010). Nachobligatorische Ausbildungsverläufe in der Schweiz: Die ersten sieben Jahre. Ergebnisübersicht des Jugendlängsschnitts TREE, Update 2010. Basel: TREE.

Kronig, Winfried (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. Bern: Haupt.

Meyer, Thomas (2003). Zwischenlösung – Notlösung? In: BFS/TREE (Hrsg.), Wege in die nachobligatorische Ausbildung. Die ersten zwei Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule. Zwischenergebnisse des Jugendlängsschnitts TREE (S. 101–109). Neuenburg: Bundesamt für Statistik.

Meyer, Thomas (2006). Die Nahtstelle in der Sicht von TREE. Bern: EDK. http://edudoc.ch/record/32877?ln=de [18.4.2014].

Meyer, Thomas (2009). Wer hat, dem wird gegeben: Bildungsungleichheit in der Schweiz. In: Christan Suter, Georg Lüdi, Iwar Werlen, Markus Freitag, Isabelle Stadelmann-Steffen, Pascal Sciarini & Marco Giug (Hrsg.), Sozialbericht 2008. Die Schweiz vermessen und verglichen (S. 60–81). Zürich: Seismo.

Meyer, Thomas & Sacchi, Stefan (i.V.). Übergangsmaßnahmen in der Schweizer Berufsbildung: Brückenschlag oder Sackgasse?

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Neuenschwander, Markus (2009). Systematisch benachteiligt? Ergebnisse einer Schweizer Studie zu Bildungssystem und -beteiligung. Pädagogische Führung, 20(3), 132–135.

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TREE (Hrsg.) (2013). Projekt-Dokumentation 2000–2012. Basel: TREE.

»Warteschleife« als Chance

Alain Studer

Jennifer 16 hat auf Sekundarstufe I die Werkklassen 17 und ein privates zehntes Schuljahr besucht. Weil sie im Anschluss trotz großer Bemühungen noch immer keine Lehrstelle fand, trat sie im Sommer 2008 ins Motivationssemester 18 ein. Bei einem schulischen Test zu Beginn zeigte sie für den besuchten Schultyp überdurchschnittliche Leistungen in Deutsch. In Mathematik traten hingegen deutliche Schwächen hervor. Auf den ersten Blick wirkte Jennifer meist sehr skeptisch, was Neues anbelangte, und zeigte sich in sozialen Kontakten sehr zurückhaltend. In Bezug auf die Lehrstellensuche war sie aber überaus motiviert, arbeitete zuverlässig und ausdauernd. Ihr großer Traum war eine Ausbildung in einer Autogarage, am liebsten als Lackiererin.

Verschiedene Lehrmeister aus dem Karosseriebereich attestierten Jennifer eine vorbildliche Arbeitshaltung. Sie beklagten allerdings ihre mangelnden Mathematikkenntnisse, die sich im praktischen Berufsalltag zeigten. Eine Ausbildung im EFZ-Bereich 19 sei deswegen auf keinen Fall möglich – als Werkklassenschülerin schon gar nicht. Ein Multicheck zur Abklärung der schulischen Voraussetzungen für eine Berufsausbildung stützte diese Aussage. Über die Beziehungen des Motivationssemester-Anbieters zu Arbeitgebern ließ sich am Ende eine Vorlehre in einer Autogarage im mechanischen Bereich finden – mit Blick auf Jennifers wachsende Zahl von Zwischenjahren eine unbefriedigende Lösung.

Im Rahmen einer weiteren Nachbetreuung im ersten Halbjahr nach dem Austritt aus dem Motivationssemester fand sie aufgrund der sehr guten Rückmeldungen aus dem Vorlehrbetrieb einen Ausbildungsplatz als Lackiererin mit eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Die Ausbildung verläuft laut Lehrmeister sehr gut, Jennifer wird ihre Berufslehre im Sommer 2014 abschließen können.

Die Erfahrungen zeigen, dass oft unklar ist, wie die Eignung und die Leistungen beurteilt werden sollen. Die im Beitrag von Thomas Meyer beschriebene starke Gewichtung des besuchten Schultyps bei der Lehrlingsselektion ist in der Praxis gut spürbar. Vonseiten der Schulen sind in einigen Kantonen Bemühungen um einen einheitlichen Leistungsausweis im Gange. Demgegenüber legen Betriebe und Berufsverbände zusehends mehr Gewicht auf eigene Selektionswerkzeuge oder solche externer Anbieter. Die Hauptproblematik all dieser Berufseignungstests ist, dass sie oft nur wenig über das Entwicklungspotenzial der Jugendlichen beim Einstieg in die Berufsausbildung aussagen. Um dieses einschätzen zu können, braucht es oft mehr. Die Begleitung der Jugendlichen in diesem Suchprozess und die Vermittlungstätigkeit in enger Zusammenarbeit mit Lehrbetrieben bieten dazu eine große Chance, welche in dieser Qualität und Intensität im Schulbereich nicht möglich ist. Praktische Erfahrungen aus längeren Schnuppereinsätzen oder Praktika lassen qualitativ bessere Beurteilungen bezüglich Berufseignung und Entwicklungsmöglichkeiten zu. Die Jugendlichen erhalten im Betriebsalltag eine Fülle von Rückmeldungen, die es ihnen erlauben, ihre Berufswünsche zu reflektieren. Den meisten gelingt es nach einer gewissen Zeit, anstehende Entwicklungsschritte anzugehen oder sich gegebenenfalls nach beruflichen Alternativen umzusehen, falls sich eine Ausbildung im Wunschberuf als nicht realistisch erweist. Oft können Rückmeldungen von Arbeitgebern und Coachs in Form von schriftlichen Bewertungen oder Referenzen die Auswirkungen des besuchten Schultyps im Bewerbungsprozess aufweichen.

In diesem Prozess tragen die Fachpersonen, welche die Jugendlichen im Motivationssemester begleiten, eine große Verantwortung für die Nachhaltigkeit der gefundenen Lösung. Es ist wichtig, in der Zusammenarbeit mit potenziellen Lehrbetrieben auch kritische Punkte anzusprechen und nach Lösungen zu suchen. Dies schafft Vertrauen auf Arbeitgeberseite und ist im Sinne der Nachhaltigkeit zwingend. Im Spannungsfeld zwischen Vermittlungsquote und Nachhaltigkeit ist dies nicht immer einfach. Meine Erfahrungen der letzten Jahre sprechen für eine eher defensive Grundhaltung bei der Wahl des Ausbildungsniveaus.

Drei Jahre in der »Warteschleife« sind eine lange Zeit. Das hat von Jenny außergewöhnlich viel Durchhaltewillen und von ihrem privaten, schulischen und beruflichen Umfeld viel Zuspruch und Motivationsarbeit gefordert. In Bezug auf die Kompensationsfunktion zeigt ihr Fall, dass es ihr gelungen ist, mithilfe der verschiedenen schulischen Angebote im zehnten Schuljahr, im Motivationssemester und in der Vorlehre ihre mathematischen Defizite so weit aufzuarbeiten, dass ihr das erfolgreiche Durchlaufen einer EFZ-Ausbildung möglich wurde. Auch bezüglich ihres Kommunikationsverhaltens gegenüber Erwachsenen hat Jennifer in dieser Zeit durch gezielte Unterstützung große Fortschritte machen können. Biografisch betrachtet, waren diese Jahre für Jennifer sinnvoll.

Wie das Beispiel zeigt, können Berufsintegrations- oder Übergangsmaßnahmen eine Chance sein. Sie liefern einen wichtigen Beitrag zur Begleitung von anforderungsreichen, riskanten Übergangsphasen und tragen zur Chancenoptimierung bei.

Von der Quadratur des Kreises

Berufsvorbereitung im Spannungsfeld unterschiedlicher Förderlogiken

 

Beatrix Niemeyer und Matthias Rüth

Kaum ein anderes pädagogisches Arbeitsfeld steht in Deutschland derart im Spannungsfeld verschiedener Sozialgesetzbücher wie der Übergang aus der allgemeinbildenden Schule in die berufliche Erstausbildung. Insbesondere bei Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf treffen unterschiedliche Förderlogiken aufeinander, deren Unterschiede und Widersprüchlichkeiten im beruflichen Integrationsprozess zu erheblichen Reibungsverlusten führen können.

Im Folgenden richten wir den Blick auf die Maßnahmenlandschaft, die in Deutschland seit den 1990er-Jahren gewachsen ist, um vor allem für sogenannte benachteiligte Jugendliche den Weg in den Beruf zu ebnen. Der Fokus liegt dabei auf der Entwicklung dieses Übergangssystems, dessen vielfältige Angebote und Aktivitäten auf die Vorbereitung und Qualifizierung für und die Vermittlung in Ausbildung und Erwerb zielen.

Auf der subjektiven Ebene werden diese Entwicklungen im Übergangssystem für die Jugendlichen nicht nur durch unterschiedliche Anforderungen, sondern auch in einer Unübersichtlichkeit der Unterstützungsangebote spürbar. Jugendliche, deren Weg in den Beruf aufgrund bildungsbiografischer, sozialer und/oder gesundheitlicher Schwierigkeiten mehrschrittig verläuft, kommen immer wieder in Situationen, in denen Dinge nicht wie geplant verlaufen. Aufgrund abgebrochener Ausbildungen oder Berufsorientierungsmaßnahmen entstehen für viele Jugendliche Orientierungs- und Entscheidungssituationen, die sie nur in Ausnahmefällen allein bewältigen können. Zusätzlich werden ihnen solche Situationen oftmals als persönliches Versagen ausgelegt, was zu einer nachhaltigen Stigmatisierung führt.

Diese Herausforderungen werden seit einigen Jahren in Deutschland nicht nur thematisiert, sondern auch durch konkrete pädagogische Angebote angegangen.

Bei vielen Ansätzen wurde dabei den kommunalen Gebietskörperschaften die Rolle zugedacht, im Rahmen eines regionalen Übergangsmanagements die notwendigen Abstimmungsprozesse zu moderieren. Inwieweit dieser sehr grundlegende Prozess erfolgreich verläuft, ist noch nicht abschließend zu beurteilen, da erst wenige dieser Modellversuche abgeschlossen und ausgewertet wurden. Allerdings gibt es schon jetzt Hinweise darauf, dass aufgrund der Komplexität und Dynamik des Arbeitsfeldes und seiner politischen und finanziellen Rahmenbedingungen eine Ausrichtung auf monolithische »Ein-für-alle-Mal-Lösungen« nur wenig Erfolg versprechend ist.

Der Begriff der Berufsorientierung wird von uns weit gefasst. Er beinhaltet zum einen den individuellen Prozess der subjektiven Orientierung auf das Erwerbsleben, als Berufsfindungsprozess, der neben anderen Entwicklungsaufgaben als maßgebliches Kriterium für das Gelingen der Statuspassage vom Jugendlichen in das Erwachsenenleben gilt. Zum anderen bezeichnet der Begriff die Vielzahl von Maßnahmen und Aktivitäten, mit denen innerhalb und außerhalb von Schule gezielt das Gelingen dieses Übergangs gesichert werden soll. Die Ausweitung berufsorientierender Angebote und die Entstehung des Übergangssystems sind Indikatoren für die Aspekte eines gesellschaftlichen Wandels, der mit der Subjektivierung von Erwerbsarbeit, veränderten Qualifikationsanforderungen, der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und der Globalisierung von Arbeitsmärkten einhergeht. Er stellt alle Akteure, Lehrkräfte, Berufsberater und Berufsberaterinnen, Mitarbeiter/innen der Jugendhilfe, Jugendliche und Eltern vor Orientierungsprobleme.

Nachfolgend werden wir ausgewählte Aspekte dieser Orientierungsprobleme nachzeichnen und die Dimensionen der Neuorientierung im Spannungsfeld zwischen subjektivem Bewältigungspotenzial und strukturellem Ordnungsbedarf skizzieren. Die beschriebenen Entwicklungen fordern an vielen Stellen eine kritische Betrachtung geradezu heraus. Wir werden diese als Orientierungsbedarf im Übergangssystem thematisieren. Unser Anliegen ist es, einige Leitlinien aufzuzeigen, entlang deren sich solche Orientierungsprozesse vollziehen können. Diese Perspektive ermöglicht es, weitergehende gesellschaftliche Differenzkategorien und Ungleichheitsstrukturen im Einzelnen in den Blick zu nehmen. Die hier notwendigen Auslassungen beziehen sich unter anderem auf Gender-Effekte, Inklusion, Kritik der Erwerbsarbeit und deren Prekarisierung sowie auf soziale Selektionsprozesse des Übergangssystems.

Von der Benachteiligtenförderung zum Übergangssystem

Die ersten Schritte

Die Entstehung des Übergangssystems lässt sich in Deutschland bis ins Jahr 1980 zurückverfolgen. Unter diesem Begriff werden alle Förder- und Qualifizierungsangebote im Anschluss an die allgemeinbildende Schule und im Vorfeld einer Berufsausbildung zusammengefasst. In Reaktion auf die erste große Welle von Jugendarbeitslosigkeit wurde vom damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft das »Modellprogramm zur Benachteiligtenförderung« eingerichtet, das sich seither in mehreren Zwischenschritten zu einem eigenständigen Bildungssegment weiterentwickelt hat und im Bildungsbericht der Bundesregierung 2006 erstmals als Übergangssystem bezeichnet wurde. Angesichts des offensichtlich nachlassenden Integrationspotenzials des Ausbildungsmarktes wurde damit die besondere Förderung des Übergangs von der Schule in den Beruf für »junge Menschen mit individuellen Beeinträchtigungen, Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten, schlechten Startchancen nach der Schule, aus Migrantenfamilien oder schwierigem sozialem Lebenskreis ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz« (BIBB, 2005, S. 2) eingerichtet. Eine gesetzliche Grundlage erhielt das Benachteiligtenförderungsprogramm 1988, indem es in das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aufgenommen wurde. Förderrechtlich zuständig ist für diesen Bereich seither die Bundesagentur für Arbeit. Die Gesamtheit der Maßnahmen der Benachteiligtenförderung war zunächst weniger auf die individuelle Förderung der einzelnen Jugendlichen gerichtet, sondern allgemeiner auf die Abschaffung des seinerzeit neuen Phänomens Ausbildungslosigkeit. Erst zwanzig Jahre später, nachdem vielfältige Angebote der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung innerhalb des Bildungssystems etabliert waren, an berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen und in der kommunalen Jugendberufshilfe, wurde ein systematischer Regelbedarf des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in Ausbildung als Problembereich thematisiert. Die Passung zwischen institutionalisierter Lenkung, betrieblichen Anforderungen und individuellem Bewältigungspotenzial war mit den etablierten Mitteln des Bildungssystems allein offensichtlich nicht mehr herzustellen.

Kritik an der Benachteiligtenförderung

Jene Maßnahmen zur Benachteiligtenförderung standen lange Zeit unter Kritik, denn sie verwiesen auf eine offensichtliche Schwachstelle des dualen Ausbildungssystems: Es bleibt unmittelbar abhängig von der Entwicklung des Arbeitsmarktes und vom Ausbildungsplatzangebot der Arbeitgeber. Als Form der Reaktion auf das gesellschaftliche Problem der »Integrationslücke« (Kell, 2006) hatte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen der sogenannten Benachteiligtenförderung zu einem »Förderdschungel« entwickelt. Die quantitative Dimension der Maßnahmen zur Benachteiligtenförderung stellte den Normalitätsanspruch der dualen Berufsausbildung und damit das grundlegende Legitimationsmuster der Berufspädagogik infrage.

Die Einsicht, dass die biografischen Bewältigungsaufgaben benachteiligter Jugendlicher vielfach zu komplex sind, um ausschließlich auf die Einmündung in Ausbildung reduziert zu werden, begründete in der Praxis die Dualität sozial- und berufspädagogischer Interventionen. Bezogen auf die Praxis der Benachteiligtenförderung, ergab sich daraus die Frage, in welchem System Maßnahmen sinnvollerweise angesiedelt sein sollten. Berufsbildende Schulen und außerschulische Träger stritten darum, welches der bessere Lernort sei. Für jene Maßnahmen der Benachteiligtenförderung, die von der Bundesagentur für Arbeit gefördert wurden, galt, dass der Zugang an die Diagnose einer individuellen Benachteiligung gekoppelt war (und bis heute ist). Ein fehlender Hauptschulabschluss oder mangelnde »Ausbildungsreife« waren die Bedingungen für die Teilnahme an einer Fördermaßnahme. Benachteiligtenförderung stellte somit eine Form der Besonderung dar, die konzeptionell einen Defizitansatz transportierte. Fördermaßnahmen wurden kritisch als ausgrenzende Warteschleifen oder Parallelsysteme bezeichnet, da sie »Schlüsselqualifikationen für verschlossene Türen« vermittelten (Heikkinen & Niemeyer, 2005). Dieser Defizitansatz ließe sich nur durch bildungspolitische Interventionen abbauen, die auf die Normalisierung der Übergangsförderung zielten – dies war eine zentrale Erkenntnis aus dem BMBF-Programm »Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf« (www.kompetenzen-foerdern.de [20.7.2013]).

Wende in der Ausrichtung außerschulischer Maßnahmen der Benachteiligtenförderung

Dominierend in der Gestaltung der außerschulischen Maßnahmen waren in Deutschland die paradigmatischen Setzungen der Agentur für Arbeit, die mit der finanziellen Förderung zugleich auch die Struktur der Maßnahmen und deren pädagogische Ausrichtung vorgab. Kennzeichnend für die Maßnahmen, die von der Bundesanstalt für Arbeit gefördert wurden, war bis 2004 eine integrative Verbindung von berufs- und sozialpädagogischen Konzepten, wie sie im Durchführungserlass 4/1996 mit der Einführung der »sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung« markiert war. Im Jahr 2004 erfolgte mit der Einführung des »neuen Fachkonzepts« eine Wende. Diese führte nicht nur zu einer Verschlechterung der materiellen Bedingungen durch die Verkürzung der Förderperioden und zentralisierte Vergabeverfahren und zu einer massiven Verunsicherung in der Trägerlandschaft, sondern leitete auch eine Erneuerung der Förderparadigmen (Winter, 2004, S. 2) ein. Dies kam unter anderem im Schlagwort »Fördern und Fordern« zum Ausdruck und mündete in eine Förderpraxis, die gekennzeichnet war (und überwiegend nach wie vor ist) durch Kompetenzfeststellungsverfahren (z. B. im Rahmen von Assessment-Centers), individualisierte Förderverläufe (z. B. durch individuelle Förderplanung), Modularisierung von Qualifizierungsphasen (z. B. durch »Qualifizierungsbausteine«) und das Bestreben einer möglichst frühen und möglichst langfristigen Eingliederung in betriebliche Arbeit im Rahmen von Praktika.

Damit folgte dieser Bereich der Benachteiligtenförderung dem Legitimationsmuster der Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. In der Praxis wurde Förderpädagogik auf die Entwicklung und Anwendung von Instrumenten zur kleinschrittigen und individualisierenden Eingliederung in Erwerbsarbeit reduziert, Förderprozesse wurden segmentiert. Ergänzt wurde die Förderung durch eine Bildungsbegleitung, die konzeptionell die bislang integrativ konzipierte sozialpädagogische Unterstützung weitgehend ersetzte. Um der Gefahr der Zerstückelung und Vereinzelung zu begegnen, wurden die Träger der Maßnahmen programmatisch zu Vernetzung und Kooperation aufgefordert. Diese Aufforderung richtet sich an die Ebene der Institutionen bzw. deren pädagogische Akteur/innen, deren Netzwerke die zu fördernden Jugendlichen möglichst direkt in ein Betriebspraktikum führen sollten. Das Primat der Eingliederung in betriebliche Arbeit, das als vorrangiges Förderziel transportiert wird, problematisiert kaum, dass dieses Ziel unerreichbar sein kann, wenn zum Beispiel Ausbildungsstellen fehlen oder wenn individuelle oder soziale Problemlagen so brisant sind, dass sie vorrangig behandelt werden müssen, bevor eine geregelte Arbeit aufgenommen und durchgehalten werden kann.

Neuausrichtung der außerschulischen Berufsvorbereitung

Das »neue Fachkonzept«, das den außerschulischen Bereich der Berufsvorbereitung regelt, der durch die Agentur für Arbeit gefördert wird, wirkt als Mediator zwischen einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik und der etablierten beruflichen Ordnung. Diese doppelte Orientierung auf die individualisierte Erwerbsbefähigung einerseits und die Einbindung in das duale Ausbildungswesen andererseits kennzeichnet die Auslegung des Konzeptes. Beruflichkeit erscheint immer dann als Bezugspunkt, wenn es um die Konzeption von Anschlüssen und Übergängen geht, die auf das – nach wie vor dominierende – Berufsmodell ausgerichtet sind. Als Ziel wird die »Verbesserung der beruflichen Handlungsfähigkeit und die Erhöhung der Eingliederungschancen in Ausbildung und Arbeit« genannt, wobei die persönliche Verantwortung der Teilnehmer unterstrichen wird (Bundesagentur für Arbeit, 2004, S. 6). Insbesondere bei der Ausdifferenzierung der Förderziele wird deutlich, dass diese auf eine schnellstmögliche Eingliederung in betriebliche Erwerbsarbeit gerichtet sind und deutliche Merkmale des Konzepts der Erwerbsfähigkeit (employability) transportieren. Gleichzeitig wird die Erhöhung der Quote der Übergänge in Ausbildung als Maßnahmenziel wiederholt betont und eine Kooperation der Maßnahmenträger mit Betrieben als Qualitätsmerkmal ausdrücklich festgeschrieben (Bundesagentur für Arbeit, 2004, S. 27), die zu einer Erhöhung des betrieblichen Ausbildungsangebots beitragen soll.

 

In dem so entstehenden System der beruflichen Benachteiligtenförderung bestimmten sich die sozialen Grenzziehungen neu, mit denen im Medium beruflicher Bildung der Zugang zu Erwerbstätigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe geregelt wurde. Neben den institutionalisierten Lernorten Berufsschule und Betrieb gewannen andere Einrichtungen außerschulischer Bildung an Bedeutung. Während in den Anfangszeiten der Jugendarbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren in Selbsthilfeprojekten arbeitsloser Jugendlicher noch Eigenorganisation und Selbstverwaltung gegen die herrschende Ausbildungspraxis gesetzt wurden, schien eine solch kritische Perspektive auf Ausbildung und Erwerbsarbeit bald schon nicht mehr opportun. Im normativen Diskurs seit Ende der 1990er-Jahre wurde die Verantwortlichkeit für Ausbildungslosigkeit vor allem und nahezu ausschließlich an Kompetenzdefiziten der Jugendlichen festgemacht. Als Legitimationsmuster für den faktischen Ausschluss von Erwerbsarbeit figurierten individuelle Defizitzuweisungen – die gesellschaftlichen und systembedingten Ursachen gerieten aus dem Blick. Strukturelle Defizite, wie der konstante Rückgang von Ausbildungsplätzen, wurden als individuelle Defizite uminterpretiert und sollten pädagogisch behandelt werden.

Neue Entwicklungen

Aktuell zeichnet sich allerdings eine neuerliche Wende im Diskurs ab. Bedingt durch den sogenannten demografischen Faktor, schließt sich die Schere zwischen Ausbildungsplatznachfrage und -angebot in Deutschland tendenziell wieder, sodass die pädagogische Übergangsförderung im Hinblick auf die Vermeidung eines drohenden Fachkräftemangels wieder an Gewicht gewinnt. Zugleich haben in etlichen anderen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeitszahlen eine Höhe erreicht, die sich nicht mehr mit individuellen Qualifikationsdefiziten erklären lässt.

Die Erfahrung, dass die Unwägbarkeiten des Fördersystems durch Rechtsgrundlagen und Maßnahmen übergreifender Planung und Begleitung auf der individuellen Ebene zu bewältigen sind und für einzelne Jugendliche ein abgestimmtes Förderkonzept erreichbar ist, hat zur Forderung beigetragen, das Fördersystem auch auf struktureller Ebene so abzustimmen, dass kein Jugendlicher in die Gefahr kommt, auf dem Weg in den Beruf verloren zu gehen.

Der verblassende Mythos des Matching

Unabhängig von dem lange Zeit herrschenden Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen verweist eine gleichbleibend hohe Quote von Ausbildungsabbrecher/innen (BMBF, 2006, S. 24) auf Defizite in der Berufswahlorientierung und der Passung zwischen institutionalisierter Lenkung, betrieblichen Anforderungen und subjektivem Bewältigungspotenzial. Allen Angeboten der Berufsberatung und -orientierung zum Trotz wird mindestens jeder fünfte Ausbildungsvertrag wieder gekündigt, die meisten davon innerhalb des ersten Ausbildungsjahres. Im Jahr 2011 betrug die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge sogar 24,5 Prozent (vgl. BIBB, 2013, S. 189). »Als Grund für die Beendigung ohne Abschluss gibt mehr als die Hälfte (53 %) der Jugendlichen an, die Ausbildung sei nicht das Richtige für sie gewesen« (a. a. O., S. 110). Betrachtet man zudem die unverändert fortbestehenden geschlechtsspezifischen Differenzen in der Berufswahl oder den nach wie vor deutlich geringeren Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im dualen Ausbildungssystem, so wird deutlich, dass Berufsfindungsprozesse einer Komplexität unterliegen, die durch die etablierten Steuerungsmittel, durch Informations- und Beratungsangebote nur bedingt beeinflusst werden kann.

Gleichwohl definiert das deutsche Schulsystem Berufsorientierung als Querschnittsaufgabe für alle Schularten, die nicht direkt auf die Erlangung der Hochschulreife ausgelegt sind (Niemeyer & Frey-Huppert, 2009). Zusätzlich halten das Internet und der Buchhandel für Schulabgänger/innen eine Vielfalt an Angeboten bereit, die sich auf detaillierte Informationen zu Ausbildungsgängen 20, Berufswahltests 21 und der auch in diesem Bereich unüberschaubaren Fülle an Ratgeberliteratur erstreckt. Fast allen diesen Angeboten gemeinsam ist die wenig hinterfragte Grundannahme, dass Jugendliche vor allem detaillierte Informationen benötigen, um den »richtigen« Beruf zu finden. Diese »richtige Berufswahl« erscheint dabei als das Ergebnis eines Passungsprozesses zwischen einer relativ statisch gedachten Ausstattung an Talenten und Fähigkeiten des Jugendlichen und einem definierbaren Angebot auf dem Arbeitsmarkt mit klar umrissenen Qualifikations- und Anforderungsprofil.

Diese Sichtweise geht auf den Trait-and-Factor-Ansatz von Frank Parsons (1909) zurück. Parsons geht davon aus, dass Menschen spezifische psychische Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, aus denen sich eine Eignung für klar abgrenzbare Berufs- und Tätigkeitsfelder ableiten lasse. John Holland operationalisierte diesen Ansatz anhand von sechs Persönlichkeitstypen, die sich aus den Präferenzen in der Herangehensweise an Aufgabenstellungen definieren (Weinrach & Srebalus, 1994). Das vielbeschworene Matching hat hier seinen Ursprung – und damit im Jahre 1909, in dem Parsons seine Theorie veröffentlichte. Trotz aller Modernisierungen des Trait-and-Factor-Ansatzes und der Entwicklung eines ausgefeilten Instrumentariums an Berufswahltests, die sich nach wie vor zumeist an der von Holland entwickelten Typologie orientieren, hat sich die Grundannahme erhalten, Mensch und Arbeitswelt müssten in Übereinstimmung gebracht werden, um dem Individuum ein glückliches (Berufs-)Leben zu ermöglichen. Weder Individualisierung, lebenslanges Lernen noch andere Beschreibungen der grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne und Postmoderne konnte dem Mythos des Matching etwas anhaben. Spricht man aber mit Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Unterstützungsangeboten im Übergang zwischen Schule und Beruf, so wird schnell deutlich, dass die Vielfalt der Angebote die Einfalt der Grundannahme nicht überdecken kann. Die Jugendlichen sehen sich einer Angebotspalette gegenüber, die sich weniger an ihrer Lebenswelt und der in sie eingebetteten Entwicklungsaufgaben orientiert, sondern nach wie vor darauf setzt, in einem Optimierungsprozess eine frühzeitige und nachhaltige employability (Beschäftigungsfähigkeit) zu erreichen.

Diese Diskrepanz zwischen Anforderungen auf der Subjektebene auf der einen Seite und den Unterstützungsangeboten im Berufsorientierungsprozess auf der anderen Seite spiegelt sich auch im fachwissenschaftlichen Diskurs wider. Die konzeptionelle Ausrichtung von Berufsberatung »degeneriere« vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirkung von Parsons bzw. Holland, wie Nestmann (2010) bemerkt. Erkennbar sei dies vor allem in einer erweiterten Praxis der Berufsberatung als guidance »zur Erhebung von diagnostischer Information über den Klienten, die Bereitstellung von Bildungs- und Berufsinformationen und den Versuch, über eine rational kognitiv gesteuerte Entscheidung eine möglichst genaue Passung von Person und Bildungsgang, Berufsentscheidung oder Laufbahnwahl herzustellen« (Nestmann, 2010, S. 61). Zeitgemäßer erscheint demgegenüber ein Konzept der »positiven Nichtsicherheit«, das herkömmliche Entscheidungsmodelle um Aspekte des kreativen Umgangs mit komplexen und in sich offenen Situationen erweitert. Berufsfindungsprozesse werden dabei nicht als »Matheaufgabe« begriffen (»Errechne aus den vorhandenen Informationen deinen Traumberuf«), sondern als Treibstoff oder Anregung für einen subjektzentrierten biografischen Prozess (Gelatt, 1989, 1991, 1992; Gelatt & Gelatt, 2003). In dieselbe Richtung verweisen Konzepte einer biografieorientierten Beratung und Begleitung individueller Berufsfindungsprozesse (vgl. zusammenfassend Dausien, 2010).