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Übergangsangebote am Einstieg in die berufliche Grundbildung in der Schweiz





Brücke oder »Knirschstelle« im Bildungssystem?



Thomas Meyer



In der Schweiz können heute – je nach Schätzmethode und Referenzjahr – zwischen einem Sechstel und einem Viertel aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger nicht damit rechnen, nach Austritt aus der obligatorischen Schule direkt in eine zertifizierende nachobligatorische Ausbildung der Sekundarstufe II

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 einzusteigen (vgl. etwa Babel, Gaillard & Strübi, 2012; BBT , 1999 ff.; Meyer, 2003). Sie finden sich in einer Vielzahl von sogenannten Brückenangeboten oder Zwischenlösungen wieder: Berufsvorbereitungsjahre, Motivationssemester, Vorlehren, aber auch Sprachaufenthalte, Au-pair-Stellen mit (sprach-)schulischen Elementen, Praktika u. v. m.



Mit Blick auf die Bedeutung und Vielfalt dieser indirekten Übergänge an der sogenannten ersten Schwelle

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 umreißt der vorliegende Beitrag die Strukturen und Funktionslogiken des Bildungssystems, in die Brückenangebote oder Zwischenlösungen eingebettet sind. Anhand von Ergebnissen der Jugendlängsschnittuntersuchung TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) wird aufgezeigt, wie sich dieser strukturelle Kontext auf die individuellen Bildungsverläufe der betroffenen Jugendlichen – und mithin auf deren Ausbildungs- und Lebenschancen – auswirkt.



»Zwischenlösungen« als Spiegel einer komplexen Übergangsmechanik



Die Schweiz gehört im internationalen Vergleich zu denjenigen Ländern, deren Bildungssysteme hochgradig selektiv, segregiert und segmentiert sind. Bereits nach dem fünften oder sechsten Primarschuljahr treten die meisten Schülerinnen und Schüler in der Schweiz in gegliederte Oberstufen (Sekundarstufe I) über. In den meisten Kantonen ist die Sekundarstufe I zwei- bis dreigliedrig organisiert, mit einem Oberstufenzug, dessen Schüler »Grundanforderungen« genügen, und einem bis zwei Zügen, deren Schüler »erweiterte Anforderungen« erfüllen.



Zuweisungen erfolgen meist auf der Grundlage von aufwendigen, von Kanton zu Kanton unterschiedlich angelegten Übertrittsverfahren. Die Lehrpläne und Stundentafeln der einzelnen Stufen unterscheiden sich substanziell voneinander, sodass sich im Laufe von drei bis vier Jahren Schulbesuch auf dieser Stufe erhebliche Lerndifferenziale kumulieren.



Selektions- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe I



Die Selektions- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe I zielen auf Unterrichtsformen in möglichst leistungshomogenen Abteilungen ab. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen stellen jedoch infrage, dass dieses Ziel erreicht wird. Kronig (2007) etwa moniert, dass die Leistungs(entwicklungs)prognosen, die den Zuteilungsentscheiden bei den Übertrittsverfahren zugrunde liegen, nur am oberen und am unteren Rand des Leistungsspektrums befriedigend sind – also bei den sehr starken und den sehr schwachen Schülerinnen und Schülern. Bei der großen Mehrheit der Schülerschaft im mittleren Leistungsbereich, so Kronig weiter, bewege sich der Zuteilungsentscheid in einer »meritokratischen Grauzone«, die zahlreiche Fehlentscheide bei der Zuweisung in Kauf nehme. Meyer (2009) betont, dass die Führung von leistungsgetrennten Zügen auf der Oberstufe einer faktischen Bildungsrationierung gleichkomme, im Rahmen deren den Schülerinnen und Schülern in Oberstufenzügen »mit Grundanforderungen« systematisch Lerngelegenheiten vorenthalten werden. Internationale Forschungsbefunde legen außerdem nahe, dass Bildungssysteme wie das schweizerische mit starker und früher Selektion der Tendenz nach mehr Bildungsverliererinnen und -verlierer schaffen und den Einfluss sozialer Herkunft auf den Bildungserfolg verstärken (vgl. etwa Quenzel & Hurrelman, 2010).



Gut dokumentiert ist die soziale Selektivität solcher Systeme. Eine ganze Reihe von Studien zeigen, dass bei den Übertrittsverfahren zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I individuelle Merkmale von Schülerinnen und Schülern wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder soziale Herkunft auch dann eine bedeutsame Rolle spielen, wenn die schulische Leistung statistisch kontrolliert wird (vgl. Moser & Rhyn, 1996; Neuenschwander, 2009).



Seit den 1990er-Jahren wurden zwar in vielen Kantonen Maßnahmen ergriffen, um die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Zügen der Sekundarstufe I zu erhöhen. Die (spärlich) verfügbaren publizierten Daten zeigen jedoch, dass diese »Passerellen« in der Regel nur sehr schwach frequentiert werden. Für die große Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler ist der Zuteilungsentscheid am Ende der Primarstufe irreversibel.



Die Zuteilung zu einem bestimmten Schultyp der Sekundarstufe I strukturiert in hohem Maße vor, welche Ausbildungswege den Jugendlichen nach Verlassen der obligatorischen Schule offenstehen. So hat die TREE-Studie bereits 2003 gezeigt, dass die Ausbildungschancen von Schülern und Schülerinnen aus Oberstufenzügen mit »Grundanforderungen« (Sek C-, Realoder Oberschüler/innen) auch dann stark eingeschränkt bleiben, wenn sie gleich gute Leistungen erbringen wie ihre Kameradinnen und Kameraden in den Oberstufenzügen mit »erweiterten Anforderungen« (BFS & TREE, 2003).



Fortsetzung der Segmentations- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe II



Die beschriebenen Prozesse der Sekundarstufe I finden ihre Fortsetzung und Entsprechung in ausgeprägten Segmentations- und Segregationsmechanismen auf Sekundarstufe II. Während die Verfahren des Übertritts in weiterführende schulische Ausbildungen formal in hohem Maße geregelt und fast ausschließlich auf den individuellen (schulischen) Leistungsausweis abgestützt sind,

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 sind die Mechanismen des Zugangs zur beruflichen Grundbildung deutlich vielschichtiger, weniger transparent und vor allem auch immer stark überlagert vom Verhältnis zwischen Angebot von und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen. Im stark auf die duale Berufsbildung ausgerichteten Schweizer Bildungssystem sind rund zwei Drittel der Ausbildungsplätze auf Sekundarstufe II den Schwankungen des Lehrstellen- und damit des Arbeitsmarktes unterworfen. Seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten ist der Schweizer Lehrstellenmarkt durch einen anhaltenden, starken Nachfrageüberhang geprägt. Dies führte zur Bildung einer »Warteschlange«, die in den Nullerjahren zeitweise rund 25 000 junge Menschen umfasste (vgl. BBT , 2012), was rund 30 Prozent eines Schulabgängerjahrgangs entspricht. Inzwischen hat sich das Ungleichgewicht etwas abgeschwächt, indem die Anzahl angebotener Lehrstellen etwas gestiegen und die Anzahl Bewerberinnen und Bewerber aus demografischen Gründen etwas zurückgegangen ist. Einzelne Branchen bekunden gar Mühe, ihre offenen Lehrstellen zu besetzen. Allerdings weist das Lehrstellenbarometer des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT)

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 auch im Jahr 2012 noch eine »Warteschlange« von rund 17 000 Jugendlichen aus (ebd.), und die Prognosen des Bundesamtes für Statistik legen nahe, dass sich an dieser Situation bis zum Ende des Jahrzehnts nichts Grundsätzliches ändern wird (Babel, Gaillard & Strübi, 2012).



Darüber hinaus ist der Lehrstellenmarkt kleinräumig und stark segmentiert. Er wird nicht nur von makroökomischen Faktoren wie der Konjunktur beeinflusst, sondern auch von lokalen und regionalen Wirtschafts- und Betriebsstrukturen, die wiederum einen Einfluss darauf haben, welche Lehrstellen in welchen Berufsfeldern angeboten werden. Nach wie vor ist die Berufsbildung in der Schweiz auch stark geschlechtsspezifisch segregiert, das heißt, der größte Teil der Lehrberufe wird entweder hauptsächlich von Frauen oder hauptsächlich von Männern erlernt (vgl. BFS, 2011).



Was die Bedeutung der schulischen Vorleistungen angeht, so hat Meyer (2006) gezeigt, dass zwischen dem Leistungsausweis am Ende der Sekundarstufe I und dem Anforderungsniveau der beruflichen Grundbildung ein deutlicher Zusammenhang besteht. Allerdings gibt es in der Schweiz – auch innerhalb der Kantone – keine standardisierten Leistungsausweise am Ende der Sekundarstufe I, was die Anbieter beruflicher Grundbildung vor erhebliche Beurteilungs- und Vergleichbarkeitsprobleme stellt. Ein Ausdruck davon sind standardisierte Tests wie »Multicheck«, »basic-check«, »kompass« o. Ä., welche Berufsbildungsanwärterinnen und -anwärter heute in vielen Fällen ihren Bewerbungsunterlagen beilegen müssen. Vor diesem Hintergrund wird der Schultyp, den die Bewerberinnen und Bewerber auf Sekundarstufe I besucht haben, häufig als approximatives Leistungskriterium beigezogen.



Über die schulischen Leistungen hinaus spielen am Übergang in die berufliche Grundbildung auch arbeitsmarktrelevante Selbstkompetenzen wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Auftreten oder Kommunikationsfähigkeit eine Rolle. Als Einflussfaktor werden auch die sogenannte individuelle Ausbildungsbereitschaft bzw. Ausbildungsreife stark diskutiert. In der Wissenschaft wird jedoch die Unschärfe des Begriffs kritisiert, die eine zuverlässige empirische Überprüfung erschwert (vgl. Eberhard, 2006).



Insgesamt führen die genannten Faktoren dazu, dass die Übergänge in die berufliche Grundbildung für viele Schulabgängerinnen und -abgänger mit erheblichen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten verbunden sind. Die Vielzahl der Allokationskriterien sowie die Kleinräumigkeit und Unübersichtlichkeit der Übergangsstrukturen führen zu einer starken Personalisierung der Selektions- bzw. Allokationsentscheide. Wie zahlreiche Studien nachweisen, gewinnen dadurch zugeschriebene, nicht beeinflussbare Merkmale wie die soziale Herkunft oder der Migrationhintergrund an Bedeutung für das Gelingen des Übergangs.



Funktionen von Brückenangeboten



Vor dem oben skizzierten Hintergrund der Komplexität der Schnittstelle zwischen den Sekundarstufen I und II müssen die Brückenangebote oder Zwischenlösungen eine Vielzahl von Funktionen erfüllen. Meyer (2003) hat folgende Hauptfunktionen vorgeschlagen:

 



•Kompensationsfunktion: Jugendliche, die eine Zwischenlösung besuchen, haben gemäß dieser Zuschreibung schulische, sprachliche oder andere Defizite, die einen direkten Einstieg in eine zertifizierende nachobligatorische Ausbildung verunmöglichen und die es zu beheben gilt.



•Orientierungsfunktion: Zwischenlösungen sollen Entscheidungs-, Orientierungs- und Einstiegshilfe für die nachobligatorische Ausbildungslaufbahn bieten.



•Systemische Pufferfunktion: Gemäß dieser Funktion nehmen Brückenangebote Jugendliche auf, die zwar bereit und in der Lage wären, direkt in eine Sek-II-Ausbildung einzusteigen, für die aber keine Ausbildungsplätze bereitstehen (»Warteschlange«).



Im bildungspolitischen Diskurs wurde und wird vor allem die erstgenannte Funktion – Beheben von individuellen Defiziten – stark in den Vordergrund gerückt. So definierte das BBT um die Jahrtausendwende die Klientel der Brückenangebote folgendermaßen:



»Dabei handelt es sich hauptsächlich um Migrantinnen und Migranten sowie Jugendliche mit schulischen Defiziten oder Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Ausbildungsplatz in der Berufsbildung zu finden, hat zurzeit eine große Anzahl Jugendlicher mit größeren und kleineren Sprach- und Bildungsdefiziten sowie Lernbehinderungen aller Art.« (BBT, 2000, S. 5)



Wohl räumt inzwischen auch die Bildungspolitik ein, dass zwischen Brückenangeboten und Lehrstellenknappheit ein Zusammenhang besteht. So stellt Galliker (2011, S. 4) im Nahtstellen-Schlussbericht der EDK fest: »Die Übertrittsquote in die beruflichen Grundbildungen hängt maßgeblich vom Lehrstellenangebot ab.«



Als Grundlage für die Diskussion um die Ausgestaltung und Zukunft der Brückenangebote wird jedoch immer wieder auf Artikel 12 des geltenden Berufsbildungsgesetzes (BBG, 2002) zurückgegriffen, der festhält: »Die Kantone ergreifen Maßnahmen, die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten.« 42



Die »erste Schwelle« im Lichte der TREE-Daten



Wie bewältigen Jugendliche in der Schweiz den kritischen Übergang an der komplexen ersten Schwelle? Welche Rolle spielen dabei die Zwischenlösungen bzw. Brückenangebote? In welchem Ausmaß erfüllen sie die verschiedenen Funktionen, die ihnen das Bildungssystem zuweist? Die Daten von TREE

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 erlauben eine lückenlose, detaillierte Analyse von individuellen nachobligatorischen Ausbildungs- und Erwerbsverläufen. Sie bieten sich deshalb in besonderem Maße als empirische Grundlage zur Klärung der oben angesprochenen Fragen an.



Die Längsschnittstudie TREE



TREE ist eine Längsschnittuntersuchung einer Stichprobe von über 6000 Jugendlichen, die im Jahr 2000 an der ersten PISA-Studie teilgenommen und danach die obligatorische Schule verlassen haben. Die Stichprobe ist national und sprachregional repräsentativ für die Schulabgängerinnen und -abgänger des Schuljahres 1999/2000. Die Probanden und Probandinnen der Stichprobe wurde zwischen 2001 und 2010 insgesamt achtmal durch TREE nachbefragt. TREE verfügt für sie somit über detaillierte Verlaufs- und Kontextdaten der ersten zehn Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule. Eine weitere Befragung im Jahr 2014 ist in Vorbereitung (vgl. TREE, 2013).



TREE zeigt zunächst, dass zwischen den Ausbildungsgängen, die das Bildungssystem formell vorsieht, und den tatsächlichen Ausbildungsverläufen der Jugendlichen eine große Kluft besteht: Nur gut die Hälfte aller Schulabgängerinnen und -abgänger bewältigen die erste Schwelle und die Sekundarstufe II so, wie es die Organigramme des Schweizer Bildungssystems vorsehen. Die Übergänge und Ausbildungsverläufe der anderen knappen Hälfte sind geprägt von Brüchen, Umwegen und Diskontinuitäten, zu denen auch der indirekte, verzögerte Einstieg in Sek-II-Ausbildungen über Zwischenlösungen bzw. Brückenangebote gehört (Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010). Mehrere Analysen der TREE-Daten legen nahe, dass diese Brüche und Diskontinuitäten einen eigenständigen Risikofaktor für vorzeitigen Ausbildungsabbruch bilden.



Einflüsse auf Chancen beim Übertritt



Auf der Basis der TREE-Daten hat Meyer (2003, S. 103 ff.) folgendes Profil der Absolvierenden von Brückenangeboten entworfen: Übervertreten sind in dieser Population die Frauen, Jugendliche mit Migrationshintergrund und/oder eher bescheidener sozialer Herkunft sowie Schülerinnen und Schüler, die auf Sekundarstufe I nur »Grundanforderungen« erfüllt haben. Mit Blick auf die PISA-Messwerte sind Jugendliche mit eher geringen Leistungen etwas übervertreten, allerdings weisen über 40 Prozent mittlere bis hohe Werte auf.



In vertiefenden Analysen der TREE-Daten haben Hupka et al. (2011) gezeigt, dass jenseits von Leistungsmerkmalen individuelle Herkunftsmerkmale und Strukturmerkmale des Bildungssystems einen eigenständigen Einfluss auf die Chancen beim Einstieg in nachobligatorische Ausbildungen ausüben. So mindert zum Beispiel der Umstand, auf Sekundarstufe I einen Schultyp mit »Grundanforderungen« besucht zu haben, die erwähnten Einstiegschancen nachhaltig und dauerhaft. Dies gilt auch, wenn die Leistung und eine ganzen Reihe von weiteren Faktoren statistisch kontrolliert werden – und auch wenn die Betroffenen ein oder zwei Jahre in Zwischenlösungen verbracht haben.








Abbildung 1: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe. Quelle: Keller, Hupka & Meyer (2010)



Schon 2003 hatte TREE gezeigt: Jugendliche, die auf der Sekundarstufe I einen Schultyp mit Grundanforderungen besuchten, haben auch dann verminderte Chancen auf eine anspruchsvolle Ausbildung auf Sekundarstufe II, wenn man die vorhandenen Kompetenzen mit einem standardisierten Leistungsmaß wie den PISA-Leistungsmesswerten kontrolliert (BFS & TREE, 2003).



Verschärft wird dieses Chancenminus durch einen zweiten Rationierungseffekt, nämlich das knappe Ausbildungsplatzangebot auf Sekundarstufe II. Die dadurch entstehende Angebotsdominanz führt unter anderem dazu, dass (berufliche) Ausbildungsplätze auch dann an Nachfrager aus »höherwertigen« Sek-I-Schultypen vergeben werden, wenn Bewerberinnen und Bewerber mit »bescheideneren« schulischen Anforderungsprofilen dafür infrage kämen. Diesen Befund stützen auch andere Datenquellen wie das Lehrstellenbarometer: Für mehr als die Hälfte aller angebotenen Lehrstellen genügt es aus Sicht der Lehrbetriebe, einen Sek-I-Schultyp mit »Grundanforderungen« besucht zu haben. Aus betrieblicher Sicht ist nur für rund 40 Prozent aller angebotenen Lehrstellen der Besuch eines Schultyps mit erweiterten Anforderungen notwendig. Schaut man sich allerdings die schulische Herkunft der Jugendlichen an, die eine Lehre beginnen, so zeigt sich, dass fast 70 Prozent von ihnen auf Sekundarstufe I »erweiterten Anforderungen« genügten, während nur knapp 30 Prozent Schultypen mit »Grundanforderungen« besucht haben. Mit anderen Worten: Fast 30 Prozent aller Lehrstellen werden mit schulisch »überqualifizierten« Bewerberinnen und Bewerbern besetzt (vgl. BBT , 2006, S. 84). In dieses Bild passt auch der Befund von Hupka et al. (2011), wonach auf kantonaler Ebene ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen dem Anteil der Schülerinnen und Schüler, die auf Sekundarstufe I in Zügen mit »Grundanforderungen« beschult werden, und dem Anteil Jugendlicher, die ein Brückenangebot durchlaufen: Je höher ersterer, desto höher auch letzterer. Dieser Zusammenhang stützt die weiter oben formulierte These, dass die feste Einteilung eines erheblichen Anteils von Schülerinnen und Schülern in Sek-I-Zügen mit reduzierten Leistungsanforderungen einer faktischen Bildungsrationierung gleichkommt – die dann am Ende der obligatorischen Schule via Brückenangebote systemisch kompensiert werden muss.



Selektionsmechanismen und Erfolge im Zusammenhang mit Brückenangeboten



Vor dem Hintergrund der oben zusammengefassten Ergebnisse und auf Basis der TREE-Daten haben Meyer und Sacchi (i.V.) ein Modell entwickelt, das die Selektionsmechanismen an der ersten Schwelle – unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Brückenangebote – so umfassend und präzise wie möglich abbildet. Die Berechnungen modellieren einerseits die Faktoren, die Einfluss darauf haben, ob jemand ein Brückenangebot besucht, statt direkt in eine zertifizierende Ausbildung auf Sekundarstufe II einzutreten. Andererseits modellieren sie den »Erfolg« dieser Brückenangebote, wobei als Erfolgskriterium der Abschluss einer Sek-II-Ausbildung eingesetzt wird.



Insgesamt ergibt sich daraus der bildungspolitisch irritierende Befund, dass Leistungsmerkmale bei der Frage des direkten oder verzögerten Einstiegs in nachobligatorische Ausbildungen in der Schweiz eine weitgehend vernachlässigbare Rolle spielen. Gleiches gilt fast durchweg für individuelle Eigenheiten und Persönlichkeitsmerkmale wie Einstellungen oder Motivation sowie die soziale Unterstützung durch Schule und Elternhaus – alles Faktoren, die im bildungspolitischen und -wissenschaftlichen Diskurs häufig in einen Zusammenhang mit einem gelingenden (Direkt-)Einstieg gebracht werden.



In krassem Widerspruch zum individualisierenden Diskurs, der in erster Linie Dispositionen und Leistungen der einzelnen Jugendlichen für das Gelingen des (direkten) Übergangs verantwortlich macht, sind es laut Meyer und Sacchi vor allem Herkunfts- und Strukturmerkmale, welche die Selektions- bzw. Allokationsprozesse an der Schwelle zwischen den Sekundarstufen I und II mitbestimmen – Faktoren mithin, welche die Jugendlichen selbst kaum oder gar nicht beeinflussen können. Zu nennen sind hier insbesondere die soziale Herkunft und der Migrationshintergrund, das Geschlecht sowie (bildungs-)institutionelle Faktoren und deren regionale Variabilität. Der starke Einfluss von Sprachregion und schulischer Einteilung auf Sekundarstufe I verdeutlicht dabei, wie stark die regional heterogenen, vertikal stark gegliederten Organisationsstrukturen der Sekundarstufe I die nachobligatorischen Ausbildungschancen mitprägen. Verschärft wird dieser starke Einfluss der Strukturen des Bildungssystems durch die starke Rationierung des Ausbildungsplatzangebots auf Sekundarstufe II.



Mit Blick auf die weiter oben postulierten Funktionen von Zwischenlösungen ist angesichts dieser Ergebnisse festzuhalten, dass die Kompensationsfunktion – ganz entgegen ihrer Prominenz im bildungspolitischen Diskurs – de facto für die beobachteten Übergangs- bzw. Selektionsprozesse kaum relevant ist. Die Orientierungsfunktion erweist sich in Meyers und Sacchis Modellierung nur in einer Hinsicht als relevant: Wer über gar keine Vorstellungen zur nachobligatorischen Laufbahn verfügt, dessen Chance auf einen Direkteinstieg sinkt unter sonst vergleichbaren Bedingungen. Die Gruppe der davon Betroffenen ist allerdings sehr klein. So bleibt vor allem die systemische Pufferfunktion der Zwischenlösungen, die bei den Übergangsprozessen zwischen den Sekundarstufen I und II im Vordergrund steht. Dass dieser Puffer sozial hochgradig selektiv und von Leistungsgerechtigkeit weit entfernt ist, stellt der Mechanik dieser Schnittstelle kein gutes Zeugnis aus.



Was nun die Wirkung von Brückenangeboten im Sinne eines erfolgreichen Abschlusses einer Sek-II-Ausbildung angeht, so zeigt sich, dass das Durchlaufen eines solchen Angebots im Vergleich zum Direkteinstieg die Chance substanziell vermindert, später noch in eine zertifizierende Sek-II-Ausbildung einzutreten und diese erfolgreich abzuschließen. Im Vergleich zu Direkteinsteigerinnen und -einsteigern mit anfänglich identischen schulischen, familiären und individuellen Voraussetzungen reduziert sich die Chance auf einen Abschluss laut Meyer und Sacchi (i.V.) um 8 bis 17 Prozent. Die Absolventen und Absolventinnen von Brückenangeboten fahren damit zwar immer noch markant besser als die Jugendlichen, die nach Austritt aus der obligatorischen Schule keinerlei Ausbildungslösung haben. Im Vergleich zu dieser Gruppe entfalten Brückenangebote durchaus eine positive Wirkung auf die Abschlusschancen, vermögen aber die negative Wirkung des verpassten Direkteinstiegs nur teilweise wettzumachen.



Kritische Anmerkung



Bei der Beurteilung dieser Ergebnisse aus heutiger Sicht gilt es zu beachten, dass die TREE-Kohorte vor rund zwölf Jahren aus der Schulpflicht entlassen worden ist. Daraus kann die Kritik abgeleitet werden, dass hier historische Prozesse modelliert werden, die heute ganz anders verlaufen. Mit Blick auf eine gewisse Konsolidierung und Professionalisierung der Brückenangebote im vergangenen Jahrzehnt könnte etwa argumentiert werden, dass diese heute eine höhere Akzeptanz bei den abnehmenden Ausbildungsanbietern genießen und deshalb nicht mehr erfolgschancenmindernd wirken. Ein weiterer Einwand betrifft die demografischen Veränderungen an der beobachteten Schnittstelle, die auf eine gewisse Entspannung des Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage im Bereich der beruflichen Grundbildung hindeuten. Die weiter oben referierten statistischen Zeitreihen von Bundesamt für Statistik und Lehrstellenbarometer lassen jedoch vermuten, dass sich an der Grundmechanik der beobachteten Allokationsprozesse wenig geändert hat. Empirisch überprüfen lässt sich diese Kritik jedoch erst dann, wenn Längsschnittdaten einer neuen Kohorte zu diesem Übergang vorliegen.

 



Fazit und Ausblick



Brückenangebote sind bestenfalls die zweitbeste Lösung. Diese Zuspitzung legen die Ergebnisse der Jugendlängsschnittstudie TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) nahe. Diesem provokativen Fazit liegen zwei Beurteilungskriterien zugrunde. Das erste Kriterium fragt nach den Selektionsmechanismen, aufgrund deren Jugendliche nach Erfüllung ihrer Schulpflicht in Brückenangebote rutschen, statt direkt in eine zertifizierende Ausbildung der Sekundarstufe II einzusteigen. Hier zeigen die Analysen der TREE-Daten, dass die Selektion in Brückenangebote nicht in erster Linie aufgrund von individuellen Leistungsdefiziten, Motivations-, Persönlichkeits- oder Orientierungsproblemen erfolgt, sondern vor allem stark beeinflusst wird von Herkunfts- und Strukturmerkmalen wie sozialem Status, Migrationshintergrund oder dem auf Sekundarstufe I besuchten Schultyp (erweiterte Anforderungen vs. Grundansprüche).

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 Diese faktischen Selektionsfaktoren stehen in zum Teil krassem Widerspruch zu den bildungspolitisch intendierten bzw. postulierten Funktionen von Brückenangeboten, die vor allem die Behebung individueller Defizite in den Vordergrund rücken.



Eine durchzogene Bilanz weisen die Brückenangebote auch hinsichtlich des zweiten Beurteilungskriteriums auf, des erfolgreichen Abschlusses einer zertifizierenden Ausbildung auf Sekundarstufe II. Hier zeigt sich aufgrund der TREE-Analysen, dass Diskontinuitäten des Ausbildungsverlaufs ein eigenständiger Risikofaktor dafür sind, dass Ausbildungen frühzeitig abgebrochen oder gar nicht angefangen werden. Zu diesen Diskontinuitäten gehören auch die Brückenangebote. Im Vergleich zu den Direkteinstiegen in zertifizierende Sek-II-Ausbildungen wirken diese leicht chancenmindernd, das heißt, das Risiko von Brückenangebotsabsolventinnen und -absolventen, ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss zu bleiben, ist laut TREE leicht erhöht.



Anders präsentiert sich die Bilanz, wenn man als Vergleichsgruppe nicht die Direkteinsteiger, sondern diejenigen beizieht, die nach Austritt aus der obligatorischen Schule über keinerlei Anschlusslösung verfügen. Im Vergleich zu dieser Gruppe erweist sich das Durchlaufen eines Brückenangebots als signifikanter Schutzfaktor gegen Ausbildungslosigkeit.



Ausblick auf Veränderungen am Übergang in die Berufsbildung



Was hat sich an der kritischen Schnittstelle zwischen Sekundarstufe I und Sekundarstufe II im vergangenen Jahrzehnt verändert?



Durch die Stabilisierung der Lehrstellensituation und die demografische Entspannung hat sich erstens der jahrelange ausgeprägte Nachfrageüberhang im Bereich der beruflichen Grundbildung etwas entschärft.



Mit Blick auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund als ausgeprägte Zielgruppe der Brückenangebote zeichnen sich zweitens Verschiebungen ab, die sich in den kommenden Jahren noch akzentuieren dürften: Zum einen gehen die Anteile der »kritischen« Migrationsgruppen, etwa aus den Balkanländern, der Türkei und Portugal, zurück, die bisher in den Brückenangeboten stark übervertreten waren (vgl. etwa BFS-Publikationsreihe »Schülerinnen, Schüler und Studierende«). Demografisch stark im Vormarsch sind dagegen Jugendliche aus sozioökonomisch gut gestellten Elternhäusern, deren gut gebildete Eltern in den letzten Jahren aus dem EU-Raum eingewandert sind. Diese dürften sich allerdings mehrheitlich eher im Gymnasialbereich bemerkbar machen als im Bereich der Brückenangebote. Insgesamt dürfte sich somit die implizite Funktion der Brückenangebote als Auffangbecken von bildungsfernen Migrantinnen und Migranten eher abschwächen. Es steht demnach zu erwarten, dass in Zukunft eher bildungsferne »Einheimische« und junge Migrantinnen und Migranten aus dem außereuropäischen Raum vermehrt i