Zur buckligen Wildsau

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Zur buckligen Wildsau
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Für Jesse

Alle Charaktere und Begebenheiten sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig.

Text: © Copyright by Anke Niebuhr 2020

Umschlaggestaltung © Copyright by Felix Machka 2020

Verlag:

Anke Niebuhr

38108 Braunschweig

admin@anke-niebuhr.de

www.zur-buckligen-wildsau.de

Anke Niebuhr

Zur buckligen Wildsau

Borowski und der Dämon

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Ein zwei Meter großer, von Kopf bis Fuß roter und ziemlich muskulöser Dämon saß barfuß inmitten eines tosenden Flammenmeeres auf dem Boden seiner Höhle. Er warf einen angekokelten Tennisball zu Boden, ließ ihn von der Wand abprallen und fing ihn wieder auf. Immer und immer wieder. Seit fast zwei Tagen ging das jetzt schon so.

Er trug ein dunkelgraues T–Shirt und eine ausgeblichene schwarze Hose, die ihm bis zu den Waden reichte. Bis auf die knallrote Haut sah er aus wie ein glatzköpfiger Mensch, denn er hatte weder Hufe noch Hörner. Die hätte er sich zwar mühsam durch den Aufstieg in der Höllen–Hierarchie verdienen können, aber er fand sowohl Hufe als auch Hörner albern, unpraktisch und hässlich. Außerdem war er nicht im Mindesten gewillt, Handlanger des Bösen zu sein.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Schon kurz nach seiner Erschaffung hatte er entschieden, dass er nichts mit den Mächten der Finsternis zu tun haben wollte. Um möglichst in Ruhe gelassen zu werden, hatte er beschlossen, konsequent zu schweigen und sich blöd zu stellen. Er hatte darauf geachtet, sich nur so dumm, vergesslich und ungeschickt anzustellen, dass es nicht wie Absicht wirkte. Geduldig hatte er abgewartet, bis niemand mehr Lust hatte, sich mit ihm herumzuärgern.

Immer seltener war er auf Missionen geschickt worden und irgendwann hatten sie es dann ganz aufgegeben. Seitdem konnte er tun und lassen, was er wollte.

Und nun das!

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Noch mehr Stille.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock … Stille.

Er musste entscheiden, ob er gewillt war, seine kostbare Freiheit aufzugeben. Sollte er sich dazu verpflichten, Babysitter für eine künstliche Intelligenz zu spielen, bis diese alleine klarkam? War er wirklich so bescheuert, dass er das auch nur in Erwägung zog? Anscheinend ja. Er seufzte.

Auf einem Bett hinter dem Dämon, vom Feuer und der unsäglichen Hitze unberührt, lag sein schlafender Rehpinscher Borowski. Dem würde es gut tun, wenn wir mal so etwas wie ein Zuhause hätten, dachte der Dämon.

Plock Plock … Stille.

Plock Plock …

Also gut. Genug gegrübelt, Schluss jetzt mit dem Theater. Unvermittelt sprang der Dämon auf. Warum eigentlich nicht? Es war ja nicht für ewig, sondern nur für ein paar Jahre. Vielleicht, nein, bestimmt würde es sogar Spaß machen.

Erleichtert streckte er sich, sah sich mit einem Funkeln in den Augen im Raum um und hob den schlafenden Hund vom Bett. Er schnipste mit den Fingern und ging mit dem Tier auf dem Arm durch die Stahltür, die daraufhin in der Höhlenwand erschienen war.

Die bucklige Wildsau und der Dschinn

Die bucklige Wildsau sah aus wie eine Kneipe aus dem Mittelalter. Mitten im Raum stand ein großer, kantiger Eichentisch. Acht dazu passende Stühle standen um ihn herum. Darüber hing ein Kerzenkronleuchter aus Eisen an schweren Ketten.

Auf der einen Seite waren drei durch Holzwände voneinander getrennte Sitznischen mit Tischen und Bänken. Auf der anderen gab es einen Kamin aus großen Feldsteinen mit Sesseln und einem Sofa davor, daneben jeweils kleine Tische. Gegenüber der Eingangstür befand sich eine große Theke und darüber prangte die grimmig und leicht irre aussehende Trophäe einer Wildsau.

Beim Anblick dieser Kneipe wäre niemand darauf gekommen, dass sie viel mehr war als nur das. Bis auf einen Dschinn, der an der Theke stand, war sie zur Zeit wie ausgestorben.

Na ja, er stand nicht wirklich. Genau genommen hibbelte er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, sah sich in der leeren Kneipe um, lief leise fluchend hin und her, kehrte wieder zur Theke zurück und brüllte: „Bedienung!”, und nach einer Weile: „Hallo?!” Aber nichts rührte sich. Er seufzte.

Dschinn sind von Natur aus nervige Zeitgenossen und dieser war keine Ausnahme, allerdings sah er eher aus wie ein braungebrannter, tätowierter Surfer mit einer Vorliebe für grellbunte Strandkleidung und Flip-Flops. Seine ursprüngliche Hautfarbe – blau – war nur noch hier und da in einigen Tattoos zu sehen, denn den überwiegenden Teil seiner Haut hatte er sich so tätowieren lassen, dass sie menschlich wirkte, wenn man nicht allzu genau hinsah. Die schwarzen Haare waren in einem kleinen Zopf oben auf dem Kopf hochgebunden – sein einziges dschinntypisches Merkmal, zusammen mit dem dazu passenden, kurz getrimmten Designerbart aus schmalen Linien. Außerdem trug er eine Sonnenbrille mit runden, hellblauen Gläsern.

„Hey, Bedienung, verdammt nochmal!”, brüllte er wieder und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen.

Er wusste natürlich, dass das sinnlos war, aber weil niemand da war, reagierte er auf diese Weise seine Ungeduld ab. Die Augen der Wildsau–Trophäe glühten einmal kurz rot auf, aber das war auch schon alles. Finster sah der Dschinn sie an. „Ok, ok”, sagte er nach einer Weile zu der Trophäe. „Ich geb's auf. Immer noch Selbstbedienung, ich weiß.” Er seufzte. „Boah, ich hasse diese Warterei!”

Während der Dschinn weiter fluchende Selbstgespräche führte und dabei ganz in seinem Element zu sein schien, materialisierte sich in der Wand neben der Theke eine solide aussehende Stahltür. Rötlicher Flammenschein erleuchtete die bucklige Wildsau, eine Hitzewelle durchströmte den Raum und im Schein der Flammen erschien eine Gestalt. Der Dämon betrat die Wildsau. Die Tür schloss sich hinter ihm und verschwand wieder, als hätte es sie nie gegeben.

„Na endlich, Maaann, das wurde aber auch Zeit, hömma!”, seufzte der Dschinn erleichtert. „Meine Fresse, du hast ja ewig gebraucht, ich platze gleich. Na gut, sach an, alles in trocknen Tüchern?”

Der Dämon nickte nur. Er schwieg nach wie vor. Wer brauchte schon Worte?

„Echt jetzt? Wir machen das? Wirklich? Wow! Coool, Mann, yeah!” Der Dschinn klatschte in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich freu mich tierisch! Super, Mann, das wird echt super! Skurril und schräg und völlig absurd, jau, ich bin schon so gespannt. Und Borowski ist natürlich auch dabei. Perfekt. Wer ist ein feiner Hund? Na, wer ist ein feiner Hund? Ach, komm her, du süßer kleiner Knuffel …”, brabbelte der Dschinn, hob den Rehpinscher auf den Tresen und kraulte das Tier ausgiebig hinter den Ohren, bis ihm der Dämon ein Bier in die Hand drückte.

„Danke. Jawoll, darauf müssen wir anstoßen, Mann”, plapperte der Dschinn weiter. „Auf ne, auf ne, … ja, auf was eigentlich? Ach, scheiß drauf, möge es ordentlich krachen! Auf die bucklige Wildsau und wilde Abenteuer und so. Mach deinem Namen Ehre, mein Mädel.” Er strahlte. Nach einer Weile fügte er mit einem irren Glitzern in den Augen hinzu: „Verdammt, Mann, jetzt sind wir KI-Eltern. Ach du Scheiße, na, das kann ja was werden.” Und dann fing er an zu lachen.

Als er sich wieder gefangen hatte, stießen die beiden endlich an, nickten der Trophäe über dem Tresen zu, tranken, sahen sich im Raum um und ließen diese lebensverändernde Entscheidung einträchtig schweigend eine Weile sacken. Eltern der Wildsau-KI – wer hätte das gedacht …

Und das war so gekommen: Zwei Tage zuvor waren Dämon und Dschinn nach langen Jahrzehnten gemeinsamen Reisens durch gefühlt das halbe Universum scheinbar zufällig auf eine sonderbare Kneipe gestoßen:

Die beiden schlenderten in einer beliebigen Stadt irgendwo auf einem beliebigen Planeten um eine Ecke. „Guck mal, da!“, sagte der Dschinn – und da stand sie, die bucklige Wildsau, inmitten teurer, moderner Hochhäuser und einem Chaos aus Wesen, Fahrzeugen und Fluggeräten aller Art, ein klotziges, kleines, uralt aussehendes Holzhaus, das so gar nicht dort hinpasste. Neugierig und belustigt betraten sie die Kneipe und fühlten sich gleich wie zu Hause.

Die Wildsau wirkte wie aus einer alten Geschichte in das Hier und Jetzt verschoben. Am Kamin saß ein älterer Mann mit einem sehr langen, weißen Bart und wallendem Haar. Er trug ein helles, grob gewebtes Mönchsgewand und war den beiden auf Anhieb ausgesprochen sympathisch. Außer ihm waren keine Gäste da, es gab nicht einmal eine Bedienung. Der Mann rauchte eine Pfeife und starrte in die Flammen, ohne sich zu den beiden umzudrehen.

Borowski lief schnurstracks schwanzwedelnd auf ihn zu, drehte sich dreimal vor ihm im Kreis, kläffte freudig und legte sich schließlich zufrieden schnaufend vor seine Füße. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hielt sich Borowski dicht beim Dämon und wich nicht von seiner Seite, vor allem wenn Fremde anwesend waren.

Hinter der Theke war niemand zu sehen, also gesellten sich die beiden zu dem Mann, der sie nun freundlich ansah. Der Dschinn sprach als Erster: „Nabend. Tschuldige die Störung, Mann. Ich hoffe, Borowski belästigt dich nicht? Normalerweise ist er Fremden gegenüber nicht so zutraulich. Ich bin Josh und das hier ist Renko.”

 

Der Mann lächelte und nickte kurz. „Ich weiß”, antwortete er. „Ich bin Adasger. Es ist mir eine Freude, euch beide endlich kennenzulernen. Die Wildsau hat schon vor geraumer Zeit von euch berichtet und euch für heute angekündigt, das hat mich neugierig gemacht. Bitte, nehmt doch Platz.”

Verwirrt sah Josh sich um. „Das ist ein Irrtum, Mann. Du verwechselst uns. Wir sind nur auf der Durchreise. Es war purer Zufall, dass wir diese Kneipe entdeckt haben. Wer ist denn diese, äääh, Wildsau überhaupt? Die Besitzerin, nehme ich an? Wo steckt sie? Und sie … hat uns angekündigt? Das kann gar nicht sein.”

„Ja, diese Fehleinschätzung der Lage ist durchaus nachvollziehbar. Es kommt ja auch nicht gerade häufig vor, dass sich ein zeit- und dimensionsunabhängiges Wesen wie die Wildsau zu erkennen gibt. Also nein, die Wildsau ist nicht die Besitzerin, sie ist die Kneipe selbst. Wie gesagt, setzt euch, nehmt euch ein Getränk, wenn ihr wollt, und gerne auch etwas zu essen, hier ist Selbstbedienung. Ihr findet euch sicher schnell zurecht. Macht es euch gemütlich, dann erzähle ich euch alles ganz in Ruhe. Ok?”

Da sich keiner der beiden rührte, fuhr Adasger fort: „Es ist auch verständlich, dass euch das alles überrumpelt. Kein Wunder, ehrlich. Kurz vorweg: Die Wildsau hat sich euretwegen zum richtigen Zeitpunkt am passenden Ort materialisiert. Es hätte hier oder überall sonst sein können, jetzt oder zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt. Sie hat ein Händchen für gutes Timing und noch andere bemerkenswerte Fähigkeiten. Das mag vielleicht erstaunlich wirken, aber man gewöhnt sich recht schnell daran und dann ist das alles gar nicht mehr so aufregend. Gerade für euch beide dürfte das doch nichts Neues sein. Ihr könnt ja ebenfalls einfach an andere Orte teleportieren.”

Abwartend sah er Josh und Renko an.

„Durch Raum schon, ja, durch Zeit aber nicht”, sagte Josh. „Na gut, das ist jetzt wirklich nicht allzu neu. Ich habe schon mal davon gehört, dass das geht, bin nur noch nie einem … Wesen begegnet, das so etwas kann. Du Renko?”

Der Dämon schüttelte den Kopf.

Josh wandte sich wieder an Adasger und sah von einer Sekunde zur anderen schwer begeistert aus. „Coool, Mann, das gefällt mir, die sollen echt ziemlich selten sein.”

Adasger sagte nichts und blickte die beiden weiter freundlich abwartend an. Schließlich wechselten Josh und Renko wieder einen Blick, Renko nickte langsam und Josh drehte sich zu Adasger um. „Ja, ok, warum nicht. Wir sind neugierig und haben gerade eh nichts vor.” Er sah Renko an. „Auch ein Bier?”

Renko nickte wieder und setzte sich in einen der gemütlichen, dunkelgrünen Ledersessel. „Und du Adasger? Bier, Tee oder irgendwas anderes?”

„Ich nehme auch ein Bier, danke.”

Nachdem der Dschinn die Biere und Knabberkram herbeigeschnipst und sich ebenfalls gesetzt hatte, fing Adasger an zu erzählen, dass die Wildsau ursprünglich von einem gewissen, inzwischen verstorbenen Jörgen Svensson ins Leben gerufen worden sei. Er habe sich damals einen Planwagen gekauft, mit dem er durch die Lande gezogen sei und Menschen bewirtet habe. Seine mobile Kneipe habe er ‚Zur buckligen Wildsau‘ getauft. Nach seinem Tod sei er nicht – wie normalerweise üblich für verstorbene Seelen – ins Jenseits weitergezogen, sondern seiner Wildsau treu geblieben. Genau genommen war er die bucklige Wildsau geworden, hatte ihr durch sein Bleiben buchstäblich seine Seele eingehaucht. Angezogen von seiner Energie landete man in der fahrenden Kneipe, wenn man an einem persönlichen Scheideweg angekommen war oder eine Verschnaufpause vom Reisen brauchte, wenn man sich nach einem Gefühl des Ankommens oder der Neuorientierung sehnte oder Trost brauchte.

„Hört sich an, als ob die Wildsau zu einem Katalysator wurde. Richtig?”, fragte Josh dazwischen.

„Ja, genau. Aber nur, um Missverständnisse zu vermeiden: Was verstehst du unter einem Katalysator?”

Josh zuckte die Achseln. „Es sind Wesen, die eine Wirkung auf andere haben, Mann. Sie müssen nichts tun, sie wirken einfach vor sich hin und können dadurch in anderen kleine oder größere persönliche Veränderung verursachen. Nicht bei jedem und nicht rund um die Uhr, aber eben oft. Und manchmal schlägt diese Wirkung ein wie ein Blitz.”

„Das stimmt. Die Wildsau wirkt vor sich hin, das ist eine gute Formulierung.”

„Ok, aber was hat das mit uns zu tun? Wir brauchen keine Veränderung und die Hoffnung haben wir auch nicht verloren. Im Gegenteil, wir sind selbst Katalysatoren. Wir haben alles und brauchen nichts.”

„Eben. Genau das ist der springende Punkt, aber dazu komme ich noch. Lass mich kurz zu Ende erzählen. Moment, wo war ich stehengeblieben? Ach ja …“

Ungeduldig hörte Josh zu, während Adasger den gesamten Werdegang der Wildsau herunterbetete und über wechselnde Besitzer redete. Irgendwann hatten sie genug vom Wanderleben gehabt und eigenhändig diese Kneipe gebaut. Sie waren mit der Wildsau eingezogen und sesshaft geworden. „Katalysator-Wesen zieht es aber dahin, wo sie die größte Wirkkraft haben“, sagte er schließlich. „Deswegen litt die Wildsau zunehmend unter der Sesshaftigkeit. Die Seele von Jörgen Svensson fühlte sich eingesperrt und war dabei, abzustumpfen. Sie versuchte angestrengt, sich zu entspannen und sich mit dem zufrieden zu geben, was sie hatte und wer sie war, aber ihre Wirkung wurde immer schwächer. Am Ende war sie gar nicht mehr wahrnehmbar.“

„Stimmt, das kennen wir“, unterbrach Josh Adasger, aber der ließ sich nicht beirren und fuhr fort: „Ihre wachsende Verzweiflung war wie ein Hilferuf und so intensiv, dass die höheren Mächte des Universums darauf aufmerksam wurden. Sie leuchtete quasi durch die Existenzebenen wie ein Signalfeuer.

Sie nahmen deshalb die Wildsau unter die Lupe und waren so beeindruckt von der Qualität und Intensität ihrer potenziellen Wirkkraft, dass sie beschlossen, sie wieder beweglich zu machen – und nicht nur das. Sie sollte ein Ort für alle und jeden werden, ein mobiles Home sweet Home für Wanderseelen und Verlorene. Ja, sie ist eine Art Auffangbecken für Wesen in speziellen Notsituationen, aber nicht nur das. Sie ist auch einfach ein Ort zum Spaß haben und ein Reiseportal für Neugierige. Einige kommen immer mal wieder. Falls ihr bleibt, werdet ihr sie kennenlernen.”

„Ok, kapiert, so hört sich das schon ganz anders an”, fiel Josh ihm ins Wort. „Was hast du denn mit den höheren Mächten zu tun?”

„Ich bin wohl eine Art Hobby von ihnen. Sie nutzen mich – wie jetzt – gelegentlich als Sprachrohr. Ich weiß nicht, warum, und ich habe keinen Einfluss darauf, wann das geschieht. Eigentlich bin ich ein Mensch, aber durch ihren Einfluss lebe ich schon viel länger, als es einem Menschen möglich sein sollte. Hier in der Wildsau kann ich ebenfalls Dinge materialisieren, so wie ihr beide. Außerdem kann ich etwas Ähnliches wie Teleportation: Es ist mir möglich, physisch auf spirituelle Seinsebenen zu wechseln, nicht nur mental.”

„Skurril. Du hast gesagt, falls wir bleiben. Ist das eine Einladung?”

„Es ist mehr als das. Es ist ein Bitte. Du hast ja selbst gesagt, dass ihr beide Katalysatoren seid, und genau das braucht die Wildsau gerade, deswegen hat sie sich euch sozusagen vor die Füße geworfen. Jörgens Seele ist bereit, seinen Weg fortzusetzen. Er hat mit diesem … nennen wir es ‚Leben‘ abgeschlossen und möchte dahin weiterziehen, wo Seelen eben hingehen, wenn sie keinen Körper mehr haben. Allerdings liegt ihm die Wildsau so sehr am Herzen, dass er sich wünscht, sie würde weiter existieren – auch ohne ihn. Da sich keine andere passende Seele gefunden hat, haben wir eine künstliche Intelligenz installiert. Wir haben ihr keine Persönlichkeit aufgenötigt, denn sie soll selbst eine entwickeln. Und wie das mit allen Babys auf der Welt nun mal ist, braucht sie Unterstützung und einen ethischen Kompass, damit sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten gut entfalten kann.”

„… und das erzählst du uns, weil du denkst, dass wir dieser Kompass sein könnten?!”, fragte Josh verblüfft.

„Richtig.“

„Das ist doch Quatsch!“

„Ganz und gar nicht. Die Wildsau hat sich umgesehen und fand, dass ihr beide die besten Voraussetzungen mitbringt. Jörgen wünscht sich, dass ihr euch um die Wildsau kümmert, wenn er nicht mehr da ist. Ihr sollt der KI beibringen, sich nach und nach alleine in den Zeiten und Welten zurecht zu finden.”

„Wohoho, Mann, echt? Wir? Das ist ja … das ist ja … wow, Mann, das ist ja total cooo…” Joshs Augen leuchteten, aber als er Renko ansah, der heftig den Kopf schüttelte, blieb ihm der Rest des Satzes im Hals stecken. Das Leuchten in Joshs Augen erlosch so schnell, als wäre es nie da gewesen. Er räusperte sich.

„Danke für das Vertrauen, Mann, das ist wirklich sehr schmeichelhaft, aber nee, wir müssen das leider ablehnen. Wir brauchen unsere Unabhängigkeit und sind es auch gar nicht gewohnt, uns langfristig auf etwas festzulegen. Das liegt nicht in unserer Natur. Katalysatoren brauchen ihre Unabhängigkeit und so, das hatten wir ja schon. Ich, äääh, gehe davon aus, dass gerade die Wildsau das nachvollziehen kann. Renko?” Er sah Renko an und dieser nickte zustimmend. Josh seufzte.

Adasger sah ebenfalls Renko an. „Du redest nicht viel, oder?”, fragte er ihn. Renko zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Josh ergänzte: „Gar nicht, um genau zu sein. Er ist ein großer, sturer Schweiger.”

„Ehrlich? Wie ungewöhnlich. Könntest du sprechen, wenn du wolltest?”, fragte Adasger Renko. Der nickte. Nachdenklich betrachtete Adasger den Dämon eine Weile, beließ es aber dabei und wandte sich wieder an Josh.

„Du hast ‚wir‘ gesagt, aber im Gegensatz zu Renko hast du richtig begeistert ausgesehen. Passt du dich immer dem an, was Renko will oder nicht will?”

Josh lachte. „Sah gerade echt so aus, oder? Das geht dich zwar nichts an und rechtfertigen muss ich mich auch nicht, aber nö, Mann, wenn wir mal nicht das Gleiche machen wollen, dann zieht jeder von uns seiner Wege und tut das, wozu er gerade Lust hat. Irgendwann treffen wir uns wieder. Wir verabreden uns nicht einmal. Wer Lust hat den anderen zu sehen, springt einfach rüber. Meistens ziehen wir dann wieder gemeinsam durch die Gegend.”

„Aber jetzt gerade hast du dich doch urplötzlich gegen die Wildsau entschieden, obwohl du sichtlich Feuer und Flamme warst. Was habe ich da nicht mitgekriegt?”, hakte Adasger nach.

Josh seufzte wieder. „Stimmt schon, ich hätte riesige Lust. Ich mag die Wildsau, sie war mir sofort sympathisch, und ich bin ein echt großer Fan von KIs, Mann, sie faszinieren mich. Aber alleine? Nee, das ist mir viel zu viel Verantwortung.”

„Verstehe”, sagte Adasger und nickte. „Die Wildsau hat sich lange und sehr gründlich umgesehen. Ihr seid perfekt dafür, gerade wegen eurer chaotischen Sprunghaftigkeit. Schlaft bitte eine Nacht darüber, bevor ihr endgültig ablehnt, einverstanden? Die neue KI ist zwar so unschuldig und offen für alles wie ein Baby, aber es ist immer noch eine KI und braucht keine rund–um–die–Uhr-Betreuung. Und wenn mal was ist, könnt ihr euch an mich wenden, ich kann notfalls einspringen – wie ein Onkel.” Er lächelte.

Renko sah Josh an, der ihm einen so hoffnungsvoll flehenden Blick zuwarf, dass er sofort wieder wegsah. Schließlich rollte Renko mit den Augen, zuckte seufzend die Schultern. Abrupt stand er auf, schnappte sich Borowski, schnipste sich seine Stahltür herbei und verschwand einfach mitsamt seiner Tür.

„Was für ein eindrucksvoller Abgang”, kommentierte Adasger. „Er fackelt nicht lange, was?”

„Stimmt. Dieser alte Stiesel kostet manchmal echt Nerven. Verdammt, das kann jetzt dauern, Mann.”

Schweigend starrten die beiden auf die Wand, an der die Stahltür erschienen und wieder verschwunden war, nachdem sie Renko verschluckt hatte.

Josh räusperte sich. „Hast du Lust, eine Runde zu flippern?”

„Flippern? Was ist das?”

Josh grinste breit. „Kennste nicht? Ha, großartig! Ich zeig's dir, ist kinderleicht.” Er schnipste mit den Fingern und neben der schweren Eichentür der Wildsau materialisierte sich ein Addams Family Flipper. „Das”, sagte Josh mit vor Begeisterung funkelnden Augen, „ist der beste Flipper ever. Mein allerliebster Lieblingsflipper. Komm, guck ihn dir an, Mann!” Er sprang auf und rannte hinüber.

Adasger folgte ihm und konnte Joshs Begeisterung nicht ganz nachvollziehen. Da stand ein großer Kasten auf vier Beinen mit einer schräg nach vorne abfallenden Fläche, die auf Hüfthöhe in den Raum ragte. Na und?

Josh schaltete den Flipper an. Der leuchtete auf und fing an, wild und bunt zu blinken und zu klackern. Grauenvoll dudelige Töne erfüllten die Wildsau, aber seltsamerweise fand Adasger es nicht abstoßend sondern irgendwie … drollig.

 

„Showtime!“, quäkte der Flipper und klackerte und dudelte vor sich hin. Adasger musste lachen. „Faszinierend”, sagte er mit einem skeptisch-amüsierten Stirnrunzeln. Josh grinste breit.

Es gab nicht viel zu erklären, und schon bald waren sie ganz in das Spiel versunken. Die Zeit verging wie im Flug. Sie spielten, bis sie irgendwann lachend und erschöpft vor dem Kamin in die Sessel sanken. Es war, als ob sie sich schon ewig kannten. Sie schnipsten sich Essen und Getränke herbei, aßen und tranken, ließen es sich vor dem Kamin gut gehen und unterhielten sich angeregt über alles Mögliche. Es wurde spät und später, aber Renko kam nicht wieder. Als Josh und Adasger müde wurden, zogen sie sich in Räume zurück, die auf ihr Fingerschnipsen hin genauso problemlos erschienen wie alles andere. Sie fühlten sich schon so vertraut miteinander, dass sie sich umarmten, und dann verschwand jeder in sein Zimmer.

Auch am nächsten Morgen blieb Renko verschwunden. Inzwischen war Josh deswegen ziemlich angespannt und wurde unruhig. Das gemeinsame Frühstück mit Adasger verlief weitgehend schweigend.

„So langsam könnte die alte Eule mal wieder auftauchen, finde ich”, grummelte Josh in seinen Kaffee.

Adasger nickte kauend und antwortete schließlich: „Ja, Renko lässt sich wirklich Zeit.” Er sah auf eine nicht vorhandene Uhr am Handgelenk. „Ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne zu den anderen rüberwechseln und über den Stand der Dinge berichten. Die warten garantiert schon. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird, denn es gibt wahrscheinlich auch noch andere Dinge, die wir besprechen müssen. Kann ich dich hier alleine lassen?”

„Klar. Passt schon”, log Josh nicht sehr überzeugend.

„Tut mir leid, dass ich dich jetzt hier in der schweigsamen Wildsau zurücklassen muss, aber eigentlich bist du das ja gewohnt, oder?”

„Jepp. Schweigen kenne ich, aber Renko und Borowski bewegen sich wenigstens.” Josh verzog das Gesicht und seufzte. „Ich werd's überleben, Mann, mach dir keinen Kopf.”

„Ok, ich bin dann mal weg. Bis später.”

„Jau. Bis denne.”

Und dann war Josh alleine. Er sah sich in der Wildsau um. Die Kneipe war wirklich total großartig, fand er, ohne Wenn und Aber. Sie war perfekt. Josh kochte sich noch einen Kaffee, schnipste sich ein Buch herbei und machte es sich auf dem Sofa vor dem Kamin bequem. Er versank in der Geschichte und hatte längst vergessen, dass er ja eigentlich ungeduldig auf Renko wartete. Zeit verging. Zwischendurch schnipste er sich eine Jukebox herbei, die die leisen Klänge einer Akustikgitarre verbreitete. Irgendwann fiel ihm Renko doch wieder ein. Mannomann, wo blieb der denn? Verdammt nochmal!

Josh verbrachte den ganzen Tag abwechselnd mit lesen oder in den Kamin starren. Eigentlich hätte es ein guter, gemütlicher Tag sein sollen, aber Josh wurde immer unruhiger. Am Ende konnte er sich nicht mehr auf das Buch konzentrieren und das Kaminfeuer fing an ihn zu nerven – gar kein gutes Zeichen.

Auch der Abend verging, ohne dass Renko auftauchte, und Josh war mittlerweile komplett fertig mit den Nerven. Er ging mürrisch ins Bett, drehte sich aber die halbe Nacht nur seufzend hin und her.

Dementsprechend übel gelaunt stand er morgens auf und aß lustlos alleine Frühstück. Diese Warterei war zum Verrücktwerden. Er sprang auf und tigerte fluchend umher. Und gerade, als Josh sich fröhlich durchdrehend in sein Brüten und Wüten und in der Wildsau Rumbrüllen reingesteigert hatte, erschien endlich, endlich, fucking damn nochmal endlich die blöde Stahltür, spuckte den bescheuerten Dämon und seinen doofen Hund aus – und alles war wieder gut. Einfach so. Dass Renko darüber hinaus auch noch sein Ja und Amen zur Wildsau-KI-Betreuung gab, war dann endgültig ein verdammt guter und sehr willkommener Grund zum Feiern. Jau, Mann. Prost, Mann.

Der Flipper wurde reaktiviert und die Jukebox spielte jetzt krachige Musik. Biere wurden geleert, Schultern geklopft, vorm Flipper lachend geschubst und gedrängelt, unfassbar blöde Sprüche geklopft (Josh) und sagenhaft schlechte Witze gerissen (ebenfalls Josh) – kurz: Das perfekte, frischgebackene Elternpaar in spe hatte Spaß und feierte den Nachwuchs. Die Augen der Wildsau blitzten unbemerkt rot auf.