Ostseegrab

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8



Olli kauerte in seinem Wohnmobil auf der Sitzbank und starrte ins Leere. Er hatte noch immer nicht geduscht, sondern sich nur ein frisches T-Shirt angezogen. Es war ihm egal, wenn er nach Erbrochenem stank. Sarah war tot. Er sah ihr Gesicht und das nasse Haar vor sich. Immer wieder ging er in Gedanken den Verlauf des Abends durch. Sie hatten gestritten und sie war abgehauen. Er hatte sich betrunken. Mehr war seines Wissens nicht gewesen, aber was wusste er denn noch? Die Polizei würde ihn früher oder später befragen. Was sollte er bloß sagen? Dass es kein Unfall sein konnte, weil sie nie im Leben nachts auf ihr Board gestiegen wäre? Dass irgendetwas passiert sein musste? Aber was? Und wenn die Polizei ihm nicht glaubte, dass er sein Wohnmobil in der Nacht nicht mehr verlassen hatte? Er hatte kein Alibi. Außerdem war es gut möglich, dass irgendjemand den Streit mitbekommen hatte. Warum war sie auch nicht bei ihm geblieben? Dann wäre sie noch am Leben. Immer wieder schlichen sich Erinnerungen in seine Gedanken. Wie sie lachte und ihr Haar im Wind flatterte. Ihr ernstes Gesicht, wenn sie ihr Equipment prüfte. Die kontrollierte Sarah! Sie hatte immer alles doppelt und dreifach gecheckt. Und genau diese Tatsache machte ihn jetzt wahnsinnig. Sarah wäre nie und nimmer nachts aufs Wasser gegangen. Sie hatte viel zu viel Respekt vor der See. Aber warum war sie dann ertrunken? Olli öffnete den Schrank. Irgendwo war doch noch dieser Cognac. Er brauchte dringend einen Schluck. Olli griff sich einen benutzten Kaffeebecher aus der Spüle und schenkte ihn halb voll. Der Cognac brannte wie Feuer. Als es an der Tür klopfte, zuckte er zusammen, obwohl er die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Die beiden Polizisten, die am Morgen schon am Strand gewesen waren, standen vor seiner Tür.



»Oliver Konrad?«, fragte der ältere.



Olli nickte.



»Polizeihauptkommissar Larrson. Das ist mein Kollege Meier. Wir müssten Ihnen kurz ein paar Fragen stellen. Sie arbeiten hier als Surflehrer, richtig?«



»Mmh.«



»Heißt das ja?«



»Ja! Sorry, ich bin ziemlich fertig.«



»Sie wissen sicher bereits, dass heute eine tote Frau am Strand gefunden wurde?«



Ollis Mund war plötzlich knochentrocken.



»Wir wissen noch nicht, wer sie ist«, fuhr Larrson fort. »Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Sie kennen doch sicher viele der Surfer und Kiter.«



Olli schluckte. »Ich war heute Morgen am Strand. Ich habe sie gesehen. Von Weitem nur, aber ich glaube, es ist Sarah Müller.«



»Ach!«, entfuhr es Meier. Voller Elan nahm er seinen Kugelschreiber zur Hand. »Kannten Sie diese … äh … Sarah gut?«



»Ich habe ihr beim Training geholfen«, erklärte Olli. Und ich habe sie geliebt, dachte er traurig.



Larrson nickte und Meier machte sich ein paar Notizen.



»Sie war keine Anfängerin, wie diese…«, Larrson holte jetzt ebenfalls ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte kurz darin. »Hier hab ich es. Wie diese Sandra Schmidt.«



Olli schüttelte den Kopf. »Nein, Sarah war kurz davor, Deutsche Meisterin zu werden.«



Larrson atmete tief durch und nickte. »Warum ist sie so spät noch aufs Wasser gegangen? Können Sie sich das erklären? Hat sie vielleicht Drogen genommen?«



»Nein«, antwortete Olli leise. Dann straffte er die Schultern. »Nein, Sarah war Sportlerin. Wenn überhaupt, dann hat sie mal ein Glas Wein getrunken. Aber sie war manchmal ein verrücktes Huhn. Sie liebte das Wasser.«



»Sie liebte das Wasser. Verstehe. Hatte sie Ihnen von ihren Plänen erzählt oder waren Sie nachts noch mal am Strand?«



»Ich?« Er sehnte sich nach einer Zigarette. »Nein! Ich war hier. War ein stressiger Tag. Ich meine, wir haben hier manchmal zwei Kurse am Tag, jetzt in der Hauptsaison. Ich war im Eimer.«



»Und wann haben sie Sarah dann das letzte Mal gesehen?«



Olli fragte sich, ob er gleich umkippen würde? Alles war verschwommen. »Gestern Abend am Strand«, brachte er raus. »Wir trinken da gerne noch ein Bierchen. Wenn die Sonne untergeht, wissen Sie.«



Larrson nickte voller Verständnis. »Ist klar! Wenn bei Fehmarn die rote Sonne im Meer versinkt«, sang er schief. »Sie haben uns sehr geholfen. Zumindest haben wir jetzt einen Namen. Kann sein, dass wir später noch ein paar Fragen haben. Schönen Tag!«



Endlich zogen sie ab. Er hatte es einigermaßen glimpflich hinter sich gebracht und er hatte nur ein bisschen gelogen. Sarah war kein verrücktes Huhn gewesen. Hätte er doch lieber die ganze Wahrheit sagen sollen? Nein, entschied er. Er musste jetzt vorsichtig sein. Vielleicht war er ja tatsächlich der Letzte, der sie lebend gesehen hatte.



Ben schloss das kleine Gartenhaus hinter dem Bistro auf. Die Holzbude diente Olli und ihm als Büro. Hier lagen die Bücher für die Anmeldungen und die Schlüssel für die Schuppen mit dem Equipment. Ben hatte das Bedürfnis, nach dem schrecklichen Ereignis am Morgen etwas Normales zu tun. Er musste sich ablenken. Wenn er darüber nachdachte, dass nun schon zwei Frauen tot waren, würde er verrückt werden. Die Kurse für den Tag waren gut gebucht. Noch war kein Schüler zu sehen, aber der Unterricht begann ja auch erst in einer Stunde. Wenn überhaupt noch jemand kommt, dachte Ben. Wer wollte schon an einen Strand, an dem gerade noch eine Leiche gelegen hatte? So ein Unsinn, stellte er verbittert fest. Da machte er sich wirklich zu Unrecht Sorgen. Er wusste doch, wie vergesslich die Menschen waren. Auf Phuket waren Tausende gestorben und ihre faulenden Körper hatten am Strand vor sich hingestunken. Und nur ein paar Wochen später hatten die ersten Touristen genau dort schon wieder in der Sonne gelegen. Ben schnappte sich die Schlüssel für die Schuppen. Was soll das eigentlich, fragte er sich plötzlich. Sie konnten heute unmöglich Kurse geben. Olli würde sowieso nicht in der Lage sein und außerdem wäre es geschmacklos, einfach so zu tun, als wäre nichts passiert. Er war damals geschockt gewesen, wie schnell man auf Phuket nach dieser entsetzlichen Katastrophe zum normalen Leben zurückgefunden hatte. Wenn er jetzt genauso einfach zur Tagesordnung übergehen würde, wäre er nicht besser als die, die er damals verurteilt hatte. Ben beschloss einen Zettel an die Tür zu hängen, der den Schülern mitteilen würde, dass es erst morgen weitergehen könnte. Jeder würde das verstehen. Schließlich war Sarah für viele ein unerreichbares Vorbild gewesen. Das wäre auch in Hanjos Sinne, da war er sicher. Sarah! Warum musste sie Olli auch wehtun? War das nicht alles skurril? Ben hätte fast gelacht. Jetzt war Sarah tot und brach Olli trotzdem das Herz. Was hatte Olli vorhin eigentlich gemeint? Er sei schuld? Wieso fühlte der sich schuldig? Er musste das genauer wissen. Ben schrieb schnell die Notiz und machte sich auf zu seinem Kumpel. Die Tür des Wohnmobils war verschlossen. Auf sein Klopfen regte sich nichts. »Mach auf, verdammt noch mal! Ich weiß, dass du da bist! Ich muss mit dir reden.« Endlich schnappte das Schloss und die Tür flog auf.



»Verschwinde! Ich kann heute nicht.«



Olli roch nach Schnaps. Ben sprang mit einem Satz an ihm vorbei. Im Wohnmobil sah es aus wie auf einer Müllhalde und es stank auch entsprechend. Ben hatte damit gerechnet, dass Olli in sehr schlechter Verfassung sein würde, doch was er jetzt sah, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. »Mein Gott, Olli! Hast du das alles allein vernichtet?«



»Muss wohl! Auch einen kleinen Cognac?«



»Hör auf zu saufen! Es ist ja noch nicht mal Mittag.«



»Kümmere dich doch um deinen eigenen Scheiß! Lass mich einfach in Ruhe.«



»Das ist unser Scheiß! Für heute habe ich die Kurse abgesagt, aber morgen müssen wir unseren Job machen.«



»Job? Du tickst doch nicht ganz richtig! Sarah ist tot! Und du willst einfach so weitermachen? Meinst du, das kommt so prima an? Schnupperkurs trotz Leiche? Das ist ja krank! Verschwinde!«



»Ich hau ab. Aber vorher will ich noch eins wissen. Wieso hast du heute Morgen am Strand gemeint, dass es vielleicht deine Schuld sei?«



»Hab ich das?«



»Hast du irgendetwas zu Sarah gesagt? Irgendwas, das sie auf eine so bescheuerte Idee gebracht hat, noch mal aufs Wasser zu gehen? Oder hat sie vielleicht angedeutet, dass sie später noch kiten wollte?«



Olli stand schwankend auf und sah ihn wütend an. »Die Polizei hat mich bereits befragt. Ich brauch jetzt kein zweites Verhör! Verpiss dich endlich!«



Die Polizei war schon hier gewesen! Ben verließ mit zitternden Knien das Wohnmobil. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Bullen mit ihm sprechen würden. Er musste sich wirklich genau überlegen, was er sagen wollte.




9



Stefan schlug verwirrt die Augen auf. Sein Herzklopfen ließ nach, als er feststellte, dass er zu Hause war. Er hatte so viel wirres Zeug geträumt: da war die Vernehmung der letzten Nacht. Diese Frau, die ihr totes Baby vom Balkon geworfen hatte, hatte sich in die ertrunkene Wassersportlerin verwandelt. Und immer wieder hatte sie geschrien: »Es war Mord, warum seht ihr das nicht ein?« Statt seines Kollegen hatte Sophie neben ihm gesessen und ihn vorwurfsvoll angesehen … Ich habe es dir gleich gesagt, gleich gesagt, gleich gesagt … Stefan atmete tief durch. Hoffentlich hatte Broder mittlerweile die Identität der Frau herausgefunden. Die Türklinke wurde leise nach unten gedrückt und Tina blickte ins Zimmer.



»Entschuldige. Hab ich dich geweckt?«



»Nein. Ich bin gerade aufgewacht.«



»Unser Kleiner stinkt und ich habe unten keine Windeln mehr.«



Stefan sprang mit einem Satz aus dem Bett. »Lass mich!«



»Mit Vergnügen!« Tina gab ihm grinsend das Baby und setzte sich in den Schaukelstuhl. Vorsichtig legte Stefan seinen kleinen Sohn auf die Wickelkommode und machte sich ans Werk. Finn begann leise zu krähen. »Hat er Hunger?«

 



»Er bekommt ja gleich was. Geht es dir wieder besser?«



»Ja, ich habe einfach eine Mütze voll Schlaf gebraucht. Sorry, ich war wohl etwas ungastlich.«



»Ungastlich? Du warst richtig ekelig! Sophie hat es im Moment nicht einfach. Bitte versuche, na du weißt schon. Ich freu mich wirklich über ihren Besuch. Stell dir vor, sie macht gerade das Mittagessen! Ich habe fast ein schlechtes Gewissen.«



»Wenn es ihr Spaß macht! Für sie ist das hier eben Urlaub auf dem Land, nach dem Motto: Es darf mit angepackt werden! Ist doch mal was anderes, als sich den ganzen Tag im Fünfsternehotel bedienen zu lassen. Das wird doch auch irgendwann langweilig für so eine Luxuskuh.« Tina rollte mit den Augen. »Ist schon gut! Ich mag Sophie, ich mag Sophie«, lenkte Stefan sofort ein.



»So ist es brav. Bete dein Mantra. Was war eigentlich heute Morgen? Habt ihr gestritten?«



»Hat Sophie das gesagt?«



»Nein, hat sie nicht! Sie ist keine Petze.«



»Ich bin eben nicht gut drauf, wenn ich nach einer schlaflosen Nacht auf eine Leiche und Sophie treffe.«



»Das hat Sophie auch gemeint, aber ich dachte, da wäre noch etwas anderes. Sie sagte mir, dass ihr da was komisch vorkam. Irgendwas mit dem Treibgut.«



Stefan stöhnte genervt. »Ich habe die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen lassen, weil dieser Doktor Fips ein echter Trottel ist. Die Jungs im grünen Kittel werden nichts Ungewöhnliches finden. Sag mal, warum schreibt deine durchgeknallte Freundin eigentlich keine Krimis?«



Tina lachte. »Nein, viel besser! Sie sollte Privatdetektivin werden.«



»Tolle Idee. Wehe, du schlägst ihr das vor!«



Gemeinsam schlichen sie die Treppe runter.



»Und nicht vergessen, Liebling, immer nett sein zu unserem Gast«, flüsterte Tina. »Sonst machen wir gemeinsam eine Detektei auf.«



Stefan grinste sie an, obwohl er sich gerade überhaupt nicht wohlfühlte. Er hätte besser aufpassen müssen. Das mit dem Treibgut könnte tatsächlich ein Hinweis sein.



Felix stocherte lustlos in seinem Hummercocktail herum. Das gemeinsame Mittagessen war Juliettes Idee gewesen. Als ob er sonst keine Probleme hätte! Felix versuchte, sich zusammenzureißen. Seine Kinder konnten schließlich nichts für sein Dilemma. Sie saßen gemeinsam am Esstisch, der unter dem Angebot des Feinkostladens zusammenzubrechen drohte. Seine Frau redete, ohne Luft zu holen. Felix hörte nur mit einem Ohr zu.



»Liebling! Träumst du? Ich habe dich gefragt, ob du dir grüne Mosaikkacheln für den Pool vorstellen könntest?«



»Welchen Pool?«



Juliette lächelte ihn vorwurfsvoll an. »Ich rede von der Finca.«



»Bist du eigentlich übergeschnappt? Ich hab ein paar mehr Probleme am Arsch als grüne Kacheln!«



»Musst du diese Kraftausdrücke vor den Kindern verwenden?« Juliette schüttelte empört den Kopf. »Wenn ihr fertig seid, dürft ihr aufstehen. Ich habe noch etwas mit eurem Vater zu besprechen.«



Scheinbar erleichtert verließen die Geschwister das Esszimmer. Felix stand ebenfalls auf und ging an die Bar.



»Willst du auch was?«, fragte er versöhnlich.



»Ein Glas Champagner!«



Felix öffnete eine kleine Flasche Veuve Cliquot und schenkte sich selbst einen Whisky ein. Seine Frau hatte sich auf der weißen Couch ausgestreckt. Er hasste die Möbel. Eigentlich hasste er die gesamte Einrichtung. Das ganze Haus sah aus wie die Kulisse für einen teuren Werbespot. Chaos herrschte nur in den Kinderzimmern. Es war schließlich auch unmöglich, so viel Spielzeug unterzubringen. Dabei waren die Zimmer der Kinder größer als eine Hotelsuite. Hotelsuite! Er musste wieder an Sophie denken. Mit dem Artikel wollte sie ihm drohen, das war klar. Sie wollte ihm schon mal zeigen, was in ein paar Monaten erneut auf ihn zukommen würde. Spätestens dann war er erledigt.



»Felix, du musst dich etwas beruhigen. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen. Und du findest bestimmt auch eine neue Freundin«, stichelte Juliette.



Felix sah sie wütend an. Sein Management hatte vorgeschlagen, dass er sich jetzt möglichst oft mit seiner Frau und seinen Kinder sehen lassen sollte, bis sich die Wogen geglättet hätten. Auf Dauer würde die Affäre sicher keinen großen Schaden anrichten, versuchte man ihn zu beruhigen. Keinen Schaden! Das Ganze war eine Katastrophe! »Bist du so doof? Zwei Werbeverträge sind bereits geplatzt!«



»Du brauchst nicht zu schreien!«, keifte Juliette zurück.



»Schließlich hast du uns in diesen Schlamassel geritten. Die armen Kinder. Denkst du manchmal daran, was sie grade durchmachen?«



»Na, und du? Vielleicht sollten wir uns bei der Nanny nach ihrem Befinden erkundigen!«



Juliette sprang auf und schmiss das Champagnerglas an die Wand über dem Kamin. »Drecksack! Du zerstörst die heile Welt unserer Kinder und mich behandelst du unmöglich. Ich bin wirklich unendlich froh, morgen von hier wegzukommen.«



Wütend rauschte sie aus dem Zimmer. Heile Welt! Seine heile Welt war explodiert. Die Regenbogenpresse zerriss ihn in der Luft. Felix bedauerte jede einzelne Stunde, die er in den letzten zwei Jahren mit Sophie verbracht hatte. Sie wollte dieses Baby kriegen und dann würde sie ihn erpressen. Felix drehte das leere Glas in der Hand. Die Eiswürfel klirrten leise. Sophie sollte sich bloß nicht zu sicher fühlen. Auch wenn es schwierig werden würde, sich heimlich an ihr zu rächen. Ihm würde schon noch etwas einfallen.




10



Sophie saß mit den Kindern am Tisch, als Tina und Stefan ins Esszimmer kamen. Die beiden sahen glücklich aus. Nicht wie ein frisch verliebtes Paar, aber beneidenswert zufrieden.



»Hey, hast du die Bande im Griff?«, fragte Tina.



»Aber sicher! Wir kommen bestens klar.«



Die Kinder nickten ernst. »Die beiden haben übrigens versprochen, gleich einen Mittagsschlaf zu machen, wenn Pelle ihnen beim Einschlafen zusehen darf. Ich habe gesagt, dass ihr das letzte Wort habt.«



»Soll Pelle das doch entscheiden«, schlug Tina vor. »Schließlich hat er sie dann an der Backe.«



Pelle hatte sich anscheinend schon entschieden und wedelte begeistert mit dem Schwanz. »Na dann! Abmarsch!«



Die Kinder rannten johlend nach oben. Pelle polterte hinter ihnen her und stieß fast eine große Topfpflanze um.



»Ist er nicht geschmeidig wie eine Dschungelkatze?«, lachte Sophie.



»Ja, oder wie heißt das graue Tier mit dem Rüssel noch mal?«, konterte Stefan trocken.



Sophie lachte über seinen Witz. Immerhin war er gerade das erste Mal ein bisschen freundlich. »Er ist ein bisschen plump, aber er hat andere Qualitäten. Er ist gleichzeitig Biotonne und Bodyguard!«



Nachdem die Kinder im Bett verschwunden waren, setzten sie sich auf die Terrasse. Es gab diverse Antipasti und Ciabatta. Das Essen verlief überraschend harmonisch, bis Stefan nach Felix fragte.



»Und? Was macht denn dein Showmaster?«



»Schatz, das ist jetzt wirklich kein gutes Thema«, versuchte Tina ihren Mann zu bremsen.



Stefan riss die Augenbrauen hoch. »Ach nee! Ist Schluss?«



Sophie nickte langsam. »Aus und vorbei! Nach zwei Jahren Beziehung.«



Stefan zuckte mit den Schultern. »Aber Beziehung kann man das doch eigentlich nicht nennen, oder?«



»Wie soll ich es denn dann nennen? Wir waren zwei Jahre lang jede freie Minute zusammen. Wir haben gemeinsame Erlebnisse. Und fast …«



»Ich würde es Langzeitaffäre nennen!«, fiel Stefan ihr ins Wort. »Was guckst du mich so an? Zumindest habe ich nicht Vögelverhältnis gesagt.«



»Stefan!« Tina haute mit der Hand auf die Tischplatte. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.



»Ich hab doch recht! Sie war seine Geliebte. Mit ihr hat er mehr Zeit verbracht als mit seiner Frau und seinen Kindern.«



»Aha, der Herr Moralapostel! Wenn du dir über Dritte so viele Gedanken machst, dann denk doch mal an die Eltern des Unfallopfers! Bist du blöd oder einfach nur faul? Warum machst du deinen Job nicht?«



»Ihr hört jetzt sofort auf!«, ging Tina dazwischen.



»Ach, lass nur Schatz! Deine überspannte Freundin denkt sich eben Verbrechen aus! Ihr ist eben ein bisschen langweilig ohne ihren Lover!«



»Stefan!«



»Nein, lass ihn. Das hat nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Stefan ist überfordert. Keine Ermittlung, keine Aktenberge! So kommt man auch voran bei der Polizei.«



»Was meinst du eigentlich?«



»Die Frau kann nicht angeschwemmt worden sein, das hast du doch gesehen! Und was macht ihr? Nichts! Statt der Spurensicherung kommt ein greiser Inseldoktor. Und dieses Superhirn zählt eins und eins zusammen, anstatt sie zu untersuchen. Neoprenanzug, Ostsee, muss ja ertrunken sein, das arme Ding. Und plötzlich ist er sich nicht mehr sicher? Uppsala! Ihr wisst doch nicht mal, wer sie überhaupt ist!«



»Mach dir keine Sorgen!«, zischte Stefan. »Die Kollegen haben das mittlerweile bestimmt rausgefunden.«



»Ach, wer denn? Diese Sheriffs aus Burg vielleicht?«



»Hör mal zu, du oberschlaue Kuh. Polizeihauptkommissar Larrson macht seinen Job schon lange genug, auch ohne deine Hilfe. Und dein Mordopfer liegt in der Gerichtsmedizin, okay? Such dir ein Hobby, anstatt polizeiliche Ermittlungen zu behindern. In diesem Land entscheidet immer noch der Staatsanwalt, ob die Rechtsmediziner eine Leiche in die Hände kriegen. Überlass den Job den Profis und kümmere du dich um die Magersucht von Prinzessin X oder das Baby von Model Y! Such dir doch einen neuen Kerl, wenn du dich langweilst. Van Hagen war ja schlau genug, lieber bei seiner Frau zu bleiben!« Stefan knallte sein Glas auf den Tisch und sprang auf. Sofort war das leise Wimmern vom kleinen Finn zu hören. Tina erhob sich bleich und ging nach oben. Sophie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken. In ihren Ohren rauschte es. Sie hörte noch, wie Stefan seinen Wagen startete, dann brach sie in Tränen aus. Eine feuchte Hundenase stupste sie an. Tina musste Pelle aus dem Kinderzimmer gelassen haben. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte. Der Labrador winselte leise. »Ich bin wieder in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Komm, wir gehen ein paar Schritte.« Alles lief viel schlimmer, als sie es sich in den bösesten Fantasien hätte ausmalen können. Stefan und sie würden niemals Freunde werden. Sie schafften es ja nicht einmal, eine gemeinsame Mahlzeit ohne Streit hinter sich zu bringen. Aber von ihm würde sie sich nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil! Sie würde ihm jetzt erst recht auf die Finger schauen und in jede kleine Ecke, die er in seiner Selbstgefälligkeit übersah! Die junge Frau lag namenlos in einem Kühlschrank. Die wahre Ursache ihres Todes schien die Polizei überhaupt nicht zu interessieren. Es ging doch nur darum, herauszufinden, wer sie war, damit jemand die Leiche auf seine Kosten beerdigen ließ. Ihre armen Eltern wussten noch nicht einmal, dass sie tot war. Sophie fröstelte. Und dabei lag die geliebte Tochter in der Gerichtsmedizin in Lübeck, mausetot und kalt. Lübeck! Rechtsmedizinisches Institut! »Lutz!« Sophie zischte den Namen durch die Mittagshitze. Ja, er musste ihr helfen, ob er nun wollte oder nicht. Lutz würde immer ein bisschen Angst vor ihr haben.



Lutz Franck saß in seinem Büro und versuchte, sich auf seinen Bericht zu konzentrieren. Er hatte am Morgen die Babyleiche obduziert. Eigentlich liebte er seinen Beruf. Sein Job war sinnvoll und wichtig. Er war der Mensch, der sich mit den letzen Stunden, Minuten und Sekunden seiner toten Patienten auseinandersetzte. Oft erfuhren sie durch ihn posthum Gerechtigkeit. Aber einen winzigen Körper aufzuschneiden und einen Schädel aufzuklappen, der nicht größer war als eine Pampelmuse, das machte ihm zu schaffen. Das Baby hatte nicht nur ein sehr kurzes, es hatte auch ein grauenvolles Leben gehabt. All diese Frakturen! Lutz raffte sich auf. Er hatte einen Neuzugang und der Staatsanwalt wollte, dass er sich die Leiche mal anschaute. Als sein Handy klingelte und er auf das Display sah, war er wirklich erstaunt. Sophie? Nichts Gutes ahnend, nahm er das Gespräch an. »Lange nichts von dir gehört, nur gelesen!«



»Du liest die ›Stars & Style‹? Hallo Lutz! Freut mich zu hören, dass auch Intellektuelle Klatschblätter lesen.«



»Was gibts?«, fragte er vorsichtig.



»Ich brauch deine Hilfe!«



Nein, nicht das! Lutz knurrte leise. Wenn er einen Prominenten in der Kühlkammer hatte, wusste er davon nichts und er hatte auch keine Lust auf Stress. Auf der anderen Seite war ihm natürlich bewusst, dass er ihr nichts abschlagen konnte. Sophie wusste von seinem Betrug, außer dem Ghostwriter natürlich. Es war eben viel bequemer, sich seine Doktorarbeit schreiben zu lassen. Durch einen dummen Zufall hatte sie damals Wind von der Sache bekommen. Nicht, dass sie es je wieder erwähnt hätte, aber vergessen würde sie die Geschichte niemals. Sie hatte die Möglichkeit, ihn gründlich in Schwierigkeiten zu bringen.

 



»Lutz? Bist du noch dran?«



»Nein!«, knurrte er. »Was soll ich für dich tun?«



»Mach die Kühltruhe auf!«



»Vergiss es! Wir haben keinen Promi, keinen Royal, oder was dich sonst so interessieren könnte!«



»Ihr habt eine Wasserleiche!«



»Wir haben sogar drei! Welche darf es denn sein?«, fragte er ironisch.



»Lutz, es ist wichtig! Eine junge Frau, die auf Fehmarn angeblich angeschwemmt wurde. Groß, blond …«



»Ja?«



»Irgendetwas stimmt da nicht!«



Sophie schien es ernst zu sein. »Geht es um eine Story?«



»Was? Nein! Ich habe sie gefunden, na ja, eigentlich mein Hund. Die Sache ist irgendwie merkwürdig und ich habe da so ein mulmiges Gefühl.«



»Und was soll ich da machen?«



Sophie seufzte. »Guck sie dir doch mal an. Bitte! Ich glaube einfach nicht, dass sie ertrunken ist. Die Polizei geht von einem Unfall aus, aber … Sie sah irgendwie hingelegt aus. Wahrscheinlich ist da wirklich nichts, aber könntest du trotzdem mal nachsehen?«



»Nachsehen?« Lutz fragte sich, ob er sie richtig verstanden hatte.



Sophie schwieg ein paar Sekunden. »Ja. Hinter manchem steckt doch eine Lüge, oder?«



Lutz biss sich auf die Backenzähne. Drohte sie ihm gerade? »Deine Tote ist sowieso die Nächste. Ich soll eine Leichenschau durchführen. Danach entscheide ich, ob ich dem Staatsanwalt eine Obduktion empfehle. Und nun lass mich in Ruhe! Mein Tag verläuft schon beschissen genug!«



»Kannst du mich zwischendurch anrufen und mir sagen, ob sie überhaupt ertrunken ist?«



Sie ließ nicht locker. »Noch einen schönen Tag!« Lutz drückte das Gespräch einfach weg und fluchte. Das konnte ihn in Teufels Küche bringen. Er durfte keine Informationen an Dritte weitergeben und Sophie war Journalistin. Auf der anderen Seite wollte der Staatsanwalt dasselbe. Er sollte sich die Frau mal ansehen. Sophie war der Meinung, irgendetwas stimme da nicht und sie war keine hysterische Kuh. Neugierig geworden machte Lutz sich auf den Weg zur Kühlkammer. Er las die Angaben auf der Tafel durch. Da war sie. Unbekannt, weiblich, Fehmarn. Sie lag in der Fünf. »Also gut, Baby.« Lutz öffnete die Schublade. »Dann wollen wir mal einen Blick riskieren.« Der Reißverschluss des Leichensacks knarrte. Er sah in das Gesicht der blonden Frau. »Na, was war denn los?« Lutz schnalzte mit der Zunge. »Du warst richtig hübsch, was?« Sie hatte keine offensichtlichen Verletzungen, nur ein paar leichte blaue Flecke. Nichts Ungewöhnliches bei einer Wassersportlerin. Aber was hatte sie da unter den Fingernägeln?



Tina ging zurück auf die Terrasse. Keine Spur von ihrem Mann oder Sophie. Sie ging ums Haus, um nach den Autos zu sehen. Der Audi war weg. Stefan war wohl schon nach Lübeck aufgebrochen. Ohne sich zu verabschieden! Das hatte er noch nie gemacht. Sophies BMW war noch da. Abgereist war sie nicht. Was war das vorhin nur für ein furchtbarer Streit gewesen? Tina räumte die Schälchen mit den Antipasti und das inzwischen trockene Brot auf ein Tablett und brachte es in die Küche. Als das Telefon klingelte, griff sie schnell nach dem Hörer. »Sperber.«



»Ich bins. Schatz, tut mir leid, die Sache vorhin«, entschuldigte sich ihr Mann. »Ich weiß, ich hatte dir versprochen, mich nicht mehr mit ihr zu streiten, aber … Herrgott noch mal! Sophie tut so, als würden wir aus lauter Spaß Verbrechen vertuschen.«



»Weißt du, wo sie ist?«



»Ist sie denn nicht da?«



»Bevor du Hoffnung schöpfst, ihr Wagen steht noch hier.«



»Ich hab jedenfalls keine Ahnung! Ich bin auf dem Weg nach Lübeck, nur für den Fall, dass du dich auch um mein Verschwinden sorgst.«



»Ach! Willst du jetzt die beleidigte Leberwurst spielen? Du hast es ja nicht mal für nötig gehalten, dich zu verabschieden!«



»Liebling, lass uns bitte nicht streiten! Ich war stinksauer und ich wollte nicht reinplatzen, wenn du den Kleinen beruhigst. Außerdem habe ich einen Haufen Arbeit zu erledigen.«



»Kommst du heute noch zurück?«, fragte Tina versöhnlich.



»Ich versuche es. Ich ruf dich an und ich liebe dich.«



Er hatte aufgelegt. Armer Stefan! Er zerri

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