Reiseziel Utopia

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Und so begann für unsere Vorfahren etwas, mit dem sie nie gerechnet hätten und das der Grund wurde, weshalb wir uns heute alle hier befinden: der Bau der Baumschiffe und zuvor das Roden des Feldes der Bäume.

Unsere Vorfahren und auch wir bauen so gute, seetüchtige und zugleich erlesene Schiffe, dass sie allerorten beliebt sind und die gesamte Kolonie beinahe nichts anderes macht, als diese Schiffe zu bauen und sie zu den Käufern zu bringen. Wir alle leben in irgendeiner Art vom Bau der Fahrzeuge, sind auf die eine oder andere Weise mit der Fertigung verbunden. Und unsere Scheidenden sind mit die Besten der Handwerker, die unsere Schiffe an andere Gestade bringen und die auch in der Ferne unsere Schiffsbaukunst betreiben und den Ruhm und den Reichtum der Kolonie auf dieser zweiten Erde mehren.«

Cebou und seine Begleiter machten erneut halt und der Alte schenkte dem Baumstumpf vor sich einen prüfenden Blick.

Schließlich wandte er sich an seine Begleiter:

»Seht hier den Überrest des Ersten Baumes. Dieser Baum wurde als erster zu Fall gebracht und aus ihm wurde der Mast des ersten hölzernen Schiffes gefertigt. Der erste Mast, der die wunderbar gefertigten ersten Segel hielt, die das erste Schiff zu neuen Ufern trugen. Der Erste Baum, der unseren Ruhm begründete. Das erste Holzschiff, wie alle anderen nach ihm, wurde nur zu friedlichen Zwecken eingesetzt, um Handel zu treiben und neue Lande zu finden. Nie ist es jemandem gelungen auch nur eine Kanone oder sonstige Waffe auf eines der Schiffe zu bringen. Niemand weiß, warum das so ist, viele halten es für eine Legende, ein Märchen. Doch ich sage euch, der Erste Baum war ein wundersamer Baum, ein Baum, der wundervoll gewachsen war und der dazu ausersehen war, Teil eines Schiffes zu werden. Eines Schiffes, das dem glich, das unseren Vorfahren fast Verderben und Tod gebracht hätte. Ein Schiff aus einem Baum oder Raum, der uns allen schließlich wunderbares und friedliches Leben schenkte.

So betrachtet ihr Scheidenden und auch ihr Jünglinge, die ihr meine Nachfolge antreten könntet, den Stumpf des Ersten Baumes. Ihr Scheidenden prägt euch sein Bild ein, möge es euch an die erste Erde erinnern und gemahnen auch in der fernsten Fremde Gutes zu vollbringen. Und auch ihr drei, die ihr ebenfalls Scheidende werden könntet oder meine Nachfolge antreten werdet, seid euch des Ersten Baumes gewiss. Der Baum, aus dem nur Gutes gefertigt werden konnte und der auch das Beste in euch zum Vorschein bringen soll. Möget ihr bleiben oder scheiden oder nachfolgen. Tragt alle von nun an das Bild des ersten Baumes stets in eurem Gedächtnis und euren Herzen.«

Mit diesen Worten beendete Cebou seine Erzählung und ließ sich erschöpft auf den Wurzelstock neben dem ersten Baumstumpf sinken.

Cebou breitete erneut seine Arme aus, alle Scheidenden verbeugten sich in Dankbarkeit vor dem Verkünder, wandten sich

um und traten hinter den Alten und den Ersten Baum. Sie würden dort warten, bis Cebou den Heimweg zur Kolonie antreten würde. Die drei Jünglinge traten vor den Alten, zollten ihm ebenso Dankbarkeit und sollten nach der Tradition vor dem Verkünder und den Scheidenden den Heimweg antreten als Symbol einer glücklichen jungen Zukunft.

Cilander und Cilou gingen nach der Dankbarkeitsbezeugung auch los, Chelar dagegen blieb vor Cebou stehen und sagte:

»Die Wanderung langweilte mich, doch der Gang über das Feld und deine Erzählung haben mich tief bewegt, Verkünder Cebou. Es wäre mir eine Ehre und Freude, wenn die Wahl des Rates als dein Nachfolger auf mich fallen würde, und wenn ich als Verkünder Chelar bis in ein so ehrwürdiges Alter wie du den Weg zum Ersten Baum beschreiten dürfte.«

Damit wandte sich auch der dritte Jüngling ab und folgte den beiden anderen.

Wer hätte das vermutet, dachte Cebou bei sich. Er drehte sich zu den Scheidenden um und teilte ihnen lächelnd mit:

»Gestattet einem alten Mann etwas Ruhe. Es wird uns niemand übelnehmen, wenn ihr bereits den Heimweg antretet und ich hier Kraft sammle für den Rückweg.«

Cebou lächelte noch immer, als die drei Jünglinge und die Gruppe der Scheidenden schon ein gutes Stück von ihm und dem Ersten Baum entfernt waren.

Schließlich erhob sich der Verkünder, weiterhin lächelnd, und musterte ein weiteres Mal den Baumstumpf.

Alles hat sich zum Guten gewendet, wir leben in einer harmonischen und doch aufstrebenden neuen Gesellschaft. Und eines Tages werden wir statt hölzerner auch wieder Schiffe aus Metall bauen. Und möglicherweise zur ersten Erde zurückkehren. Manche von uns; ich werde es sicher nicht mehr erleben.

Dann machte er sich auf, den Jünglingen und den Scheidenden nachzufolgen und ließ dabei den Blick über das Feld der Bäume schweifen.

Unbemerkt von den anderen kicherte Cebou auf einmal wie ein kleiner Junge, der gerade einen Streich ausgeheckt hatte.

Und es wird nichts ändern, wenn ich mein Geheimnis mit ins Grab nehme. Nicht besser, nicht schlechter. Nicht Metall, nicht Holz.

Leise murmelte er noch: »Das Feld der Bäume. So viele Baumstümpfe und nur ein Erster Baum. Und du alter Narr hast schon vor so vielen Jahren vergessen, welcher von all den Stümpfen es ist!«

ENDE


Gerhard huber

Gerhard Huber, geboren 1971 in Straubing, entdeckte dank der schier unerschöpflichen Bücherkiste seiner Großmutter früh die Leidenschaft zur Literatur und zum Schreiben.

Der gelernte Versicherungskaufmann und studierte Religionswissenschaftler und Germanist lebt seit 2007 in Worms.

Gerhard Huber veröffentlichte als Autor Geschichten in Anthologien und im Rahmen der PERRY RHODAN-Serie und ist im journalistischen Bereich als Online-Redakteur und Rezensent für das Internetportal »People Abroad« tätig, vorwiegend zu den Themen Reiseliteratur und »literarische Reise«.

http://www.perrypedia.proc.org/wiki/Gerhard_Huber

Kane, der Krieger

Victor Boden

Kane riss den Steuerknüppel herum, doch der Scoutsegler war bereits mitten in die Saatwolke eingetaucht und die Rotoren gerieten sofort ins Stocken. Obwohl er die Gleitsegel auf das Maximum ausfuhr, war der Sturzflug nicht mehr aufzuhalten. Rasend und flirrend kam der Wald näher. Selbst für die Sensoren des 3D-Projektors war es zu dunkel, um eine rettende Lichtung zu erkennen. Kurz vor den ersten Nebelbäumen zog Kane das Ruder nach oben. Rechts hörte er ein Stück eines Segels wegbrechen, vor ihm bäumte sich eine Wolkensäule auf. Kane erwischte gerade noch den Schalter, um die Segel wieder einzufahren und wollte nach links ausweichen, als er den Nebelbaum durchbrach und sein Kopf gegen das Armaturenbrett geschleudert wurde. Das Fahrzeug wurde herumgerissen, ein weiterer Schlag ließ ihn an die Tür knallen. Dann kam der Scoutsegler zur Ruhe, die letzten Zuckungen des Rotors verstummten.

Natürlich hatte er sich nicht angeschnallt. Anschnallen war etwas für Weicheier. Mit seinen siebzehn Jahren war er schließlich ein Mann. Benommen tastete er nach dem Blut, das über seine Lippen lief. Die Nase pochte und fühlte sich nicht gut an.

Kane wischte sich die Hand an der Hose ab und blickte auf eine schwarze Frontscheibe. Der 3D-Projektor hatte sich abgeschaltet

und die Scheinwerfer waren ausgefallen, draußen war nichts zu erkennen.

Kane schnaubte vor Wut. Voller Tatendrang war er aufgebrochen und jetzt das! Die Saatwolke hatte die Rotoren verklebt, vor morgen Früh würde er hier nicht mehr wegkommen. Abermals befühlte er seine Nase, sie war definitiv gebrochen. Aus dem Verbandskasten holte er Wundbinden und mit Hilfe des Innenspiegels verarztete er sich, so gut es ging. Währenddessen überlegte er, wo er die Nacht verbringen sollte. Hier in dem engen Gefährt würde es schnell ungemütlich werden. Er schaltete den 3D-Projektor wieder ein, der die Umgebung abtastete und grob rekonstruierte. Die Reichweite war nicht groß, er erkannte eine Menge Nebelbäume, in deren Mitte er gelandet war. Vielleicht 300 Meter entfernt konnte Kane einen Hügel mit einem höhlenartigen Eingang ausmachen, doch er scheute sich, das Fahrzeug zu verlassen. Er befand sich hier mitten im Dämonenwald.

Und es war Nacht.

Er überlegte noch eine halbe Stunde, dann zog er sich die Stirnlampe über den Kopf, packte seinen Rucksack und kletterte nach draußen. Genau deshalb war er doch hier: um es sich und allen anderen zu beweisen.

Kane landete auf dem moosbedeckten Boden, der federnd nachgab. Gleich neben sich hörte er Wasser plätschern. Bäche durchkreuzten den Wald in einem chaotischen Netz und bildeten mitunter tiefe Gräben. Es war dumm von ihm gewesen, in die Nacht hineinzufliegen, doch er hatte die Warnungen der Erwachsenen immer als übertriebene Vorsicht abgetan. Tatsächlich waren diese verdammten Saatwolken in der Finsternis nicht zu erkennen, aber wie hätte er das wissen sollen? Er war ja noch nie wirklich geflogen.

Sein Scheinwerfer kämpfte sich durch den Nebel und huschte über wallende Baumstämme. Die Schwaden verdichteten sich zu greifbaren Formen, doch der Anblick täuschte. Selbst der innere Kern eines Stammes veränderte sich ständig. Es brauchte nicht

viel Fantasie, um in den Bäumen Dämonen und andere Fabelwesen zu erkennen.

Doch nicht daher hatte der Wald seinen Namen.

Wolken verdunkelten das Licht der zwei Monde und kündigten baldigen Regen an. Er musste nicht lange laufen, um den Hügel mit der Höhle zu erreichen. Kane stockte der Atem, als er den Überrest eines Spiegelträumers erkannte. Vor ihm lag ein riesiger Schädel, halb im Boden begraben. Die vermeintliche Höhle war die Augenhöhle des einzigen Auges, das diese riesigen Tiere besaßen. Ob es sich überhaupt um ein Auge oder ein Tor in andere Dimensionen handelte, darüber gab es verschiedene Ansichten. Aber wie alles Organische war es schon lange verwest und bildete nun den Eingang in einen schützenden Unterschlupf.

 

Kane zögerte und überlegte, doch lieber im Scoutsegler zu übernachten. Die Spiegelwesen waren das Geheimnisvollste und Fremdartigste, was es auf dieser Welt gab. Selbst dieser tote Knochen flößte ihm Respekt und Furcht ein. Kaum jemand hatte einen lebendig zu Gesicht bekommen. Es hieß, die Wesen seien die Grundlage ihrer friedlichen Zivilisation. Doch Kane konnte das friedliche Getue schon lange nicht mehr ertragen. Er vermisste den Kampfgeist und den Willen, große Dinge zu vollbringen. Der Feind stand vor der Tür und es mussten Entscheidungen gefällt werden. Man musste sich auf einen Kampf vorbereiten, doch niemand tat etwas!

Licht flackerte im Innern des Schädels auf, Kane warf sich re- flexartig auf den Boden und schaltete seine Helmlampe aus. Da war jemand! Kane blieb solange liegen, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, viel war allerdings nicht zu erkennen. Das Licht tauchte nicht wieder auf. Er tastete um sich, bis er einen ausgehärteten Baumsplitter fand. Der Umgang mit Waffen war problematisch auf Sonhador Mundo, doch es war dieser uralte menschliche Instinkt, der ihm eine gewisse Wehrhaftigkeit vorgaukelte.

Zu allem Überfluss begann es zu tröpfeln. Er nahm die Lampe vom Kopf, hielt sie einsatzbereit in der Hand und schlich langsam auf den Schädel zu. Er erreichte die Wand neben dem Eingang und

lauschte. Nichts war zu hören. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vorsichtig spähte er ins Innere. Er erschrak sich zu Tode, als er keinen halben Meter vor sich einen Schatten wahrnahm. Kane zuckte zurück, presste sich wieder an die Außenwand und hörte sein eigenes Herz pochen. Der andere hatte ihn sicher gesehen, er musste blitzschnell handeln. Kane umklammerte Lampe und Splitter, sprang mit einem Satz und einem gellenden Schrei vor den Eingang und schaltete gleichzeitig die Lampe ein. Es traf ihn wie ein Schlag, als er in das wohlbekannteste Gesicht seines Lebens blickte. Vor ihm stand er selbst.

»Du Idiot!«, stammelte er, vom Schreck gebeutelt, zu sich und seinem Gegenüber gleichermaßen. Auch der andere hatte eine Lampe eingeschaltet und betrachtete den Ankömmling ebenso fassungslos und ängstlich. Er stand da wie vor einem Spiegel, dieselben selbstgenähten Kleider, dieselbe schief verbundene Nase, dieselbe Neugier, die sich allmählich aus seinem verschreckten Blick herausschälte. Auf diese Begegnung war er nicht vorbereitet, doch irgendwann konnte es jeden treffen.

Sie mochten sich mehrere Minuten gegenübergestanden haben, bis sich Kane aus seiner Starre löste, einen Bogen um seinen Doppelgänger machte und den Innenraum des Schädels ausleuchtete. Draußen nieselte es und es wurde kühler. Kane überlegte, ein Feuer hier drin zu machen, dann würde er die Nacht in diesem Ding sicher besser überstehen.

»Wir sollten Baumsplitter suchen«, sagte sein Doppelgänger im selben Moment, als er es selbst vorschlagen wollte.


Der Eingang des Schädelknochens war groß genug, um den Rauch des Feuers abziehen zu lassen. Draußen hatte sich der Regen zu einem Schauer verstärkt und Kane sowie sein Doppelgänger breiteten ihre Jacken nahe der Flammen zum Trocknen aus.

Das Feuer warf flackerndes Licht auf das Gesicht seines Gegenübers und ließ seinen Schatten geisterhaft an der Wand dahinter

tanzen. Kein Wort hatten sie während des Sammelns gesprochen. Auch jetzt schwiegen sie. Es war unheimlich, seinem eigenen Ich gegenüber zu sitzen. Verrückt, dachte sich Kane, dabei bin ich doch derjenige, der sich selbst am besten kennt.

Die sogenannten Lookaliken wurden von den Spiegelträumern erzeugt, oder aus einer Parallelwelt geholt, wie es die Alten behaupteten. Sie waren nicht nur aus Fleisch und Blut, sondern in allem, was man tat und sagte, vollkommen identisch. Normalerweise trieben sie sich in den Dämonenwäldern herum, nur selten verirrte sich einer von ihnen ins Dorf. Kane hatte einmal einen gesehen, es war das Spiegelbild seiner Mutter gewesen. Von Weitem hatte er beobachtet, wie sich Mutter und Ebenbild erst umkreist, dann geredet, sogar gestritten und schließlich gemeinsam geweint hatten. Anschließend war die Doppelgängerin zurück in den Wald gegangen.

Nun saß Kane seinem Ebenbild gegenüber und wusste nichts zu sagen. Was soll ich mit mir selber reden, dachte er sich, wenn der dort ich bin und sowieso weiß, was ich denke?

Kane hatte den Scoutsegler gestohlen. Ein Fahrzeug zu stehlen war kaum zu entschuldigen, noch dazu eines der Fluggeräte. Sie stammten aus jenem Schiff, mit dem ihre Urahnen hierhergekommen waren. Das war vor mehr als sechs Generationen gewesen. Die alten Transportmittel wurden gehegt und gepflegt und durften lediglich nach einstimmiger Übereinkunft und zu besonderen Anlässen benutzt werden. Kane hatte den Gleiter nicht nur entwendet, sondern zum Absturz gebracht und beschädigt.

Schuld an allem war Jelira. Nur ihretwegen hatte er sich auf dieses Abenteuer eingelassen. Er wollte ihr zeigen, wozu er imstande war. Nicht nur ihr, auch allen anderen im Dorf.

Sein Ziel war dieses unbekannte Ding. Nomaden hatten berichtet, dass sie ein großes Metallgebilde gesehen hatten, das sich durch die Faltensteppe fräste. Tagelange Diskussionen, was es sein mochte, waren die Folge gewesen. Nach der Besiedlung von Sonhador Mundo hatte man den Kontakt zur Erde bewusst abgebrochen, um

sich unabhängig entwickeln zu können. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis hier ein Raumschiff auftauchen würde. Sicher, es konnte sich bei dem Gebilde auch um eine Maschine einer außerirdischen Spezies handeln, doch den Beschreibungen der Nomaden zufolge sah die Architektur sehr nach dem aus, was man auch im Museum der Finsternis begutachten konnte.

Das Museum gedachte der schrecklichen Vergangenheit ihres Volkes, ein Vermächtnis der Ermahnung und Erinnerung. Es war voll von Gräueltaten und Kriegen. Dinge, die Menschen einander angetan hatten und es vermutlich immer noch taten. Fern auf der Erde und möglicherweise an anderen Orten.

Wenn sich die Menschen nicht geändert hatten, dann gab es nur einen Grund für ihr Auftauchen: Sie würden ihr Besitzrecht einfordern. Sie würden ihre Dörfer und die Nomaden unter das Banner eines irdischen Regierungsvertreters stellen. Es wäre das Ende ihres friedlichen und freien Lebens.

Bei dem Schiff, das sich durch die Steppe arbeitete, konnte es sich natürlich nur um einen Lookaliken handeln, verursacht von einem Spiegelträumer. Das Echte befand sich im Weltraum, sicher nicht mehr weit entfernt oder vielleicht bereits im Orbit. Niemand hatte geahnt, dass die Träumer offenbar eine so große Reichweite besaßen.

Kane hatte darauf gedrängt, als männlicher Sprecher der Jugend im Rat aufgenommen zu werden, um seine Idee eines Erkundungs- trupps durchzusetzen. Doch seine Altersgenossen hatten sich für Servan entschieden, der nichts von dieser Idee hielt. Ausgerechnet für diesen Milchjungen, mit dem sich Jelira herumtrieb.

»Verdammter Bastard!«, spuckte sein Doppelgänger aus. Kane pflichtete ihm bei: »Genau! Ein verdammter, feiger Bastard!«

Erstaunt blickte er zu seinem Gegenüber und sah denselben Zorn in dessen Augen funkeln, der in ihm hochgekommen war.

Jelira traf sich nicht nur mit Servan, manchmal schlief sie bei den Mergans und dann wohnte sie tagelang bei den Fortungas. In beiden Familien gab es hübsche Söhne, bei den Fortungas sogar

zwei. Kane musste sich eingestehen, dass er eifersüchtig war. Eifersucht war nicht gut. Man muss loslassen und den Vogel fliegen lassen. Wenn er dann freiwillig zu dir kommt, wird es Liebe sein. Kane kannte die Sprüche der Alten, doch es war ihm unmöglich, dieses Mädchen zu teilen, so wie es all die anderen taten.

»Warum kann sie nicht einfach bei mir sein?«, schrie er sein Gegenüber an.

»Was haben diese Waschlappen an sich, was ich nicht habe?«, antwortete sein Gegenüber.

Kane sprang auf und begann, um das Feuer herumzugehen. Sein Doppelgänger tat es ihm gleich.

»Ich werde es ihr zeigen!«, rief er und kickte mit dem Fuß herumliegende Steine in die Dunkelheit.

»Ich werde es allen zeigen!«, sagte der Andere, hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen die Wand.

»Auch diesem lahmarschigen Rat! Er wird sich noch wundern!«

»Sie werden es bereuen, mich nicht aufgenommen zu haben!«

»Sitzen nur rum und reden!«

»Reden, reden und reden!«

»Alles Feiglinge!«

»Die werden schon sehen, wohin sie mit ihrer Friedfertigkeit kommen!«

»Aber ich, ich werde ihnen beweisen, dass man etwas tun kann!«

»Und dann werden sie mich respektieren!«

»Und in den Rat lassen!«

»Dann wird Schluss sein mit diesem endlosen Gequatsche!«

»Genau! Unser Volk braucht endlich jemanden, der ihm zeigt, wo es langgeht!«

»Jemanden wie mich!«

Für einen Moment blitzten Bilder aus dem Museum der Finsternis auf. Herrscher, die ähnliches gesagt hatten. Despoten und Präsidenten, die Leid und Elend verbreitet hatten.

»Aber ich werde es besser machen!«, wischte er die Bilder weg.

»Ich werde ein guter Herrscher sein!«

»Und Jelira wird an meiner Seite sitzen!«

»An meiner, nicht deiner, Idiot!«

Kane stockte und blieb stehen.

»Du bist doch nur ein Double!«, sagte er verwirrt.

»Du bist das Double!«

»Was redest du eigentlich rum? Kümmere dich um deinen Mist! Das hier ist meine Sache!«

Kane schnappte sich einen brennenden Splitter und schleuderte ihn dem anderen entgegen. Er traf ihn am Arm und im selben Moment spürte er die sengende Glut an seiner eigenen Seite.


Keiner der beiden tat während der Nacht ein Auge zu. Sie setzten sich wieder an das Feuer, sprachen aber kein Wort mehr miteinander.

In den frühen Morgenstunden hörte es auf zu regnen, so dass Kane zurück zum Scoutgleiter gehen konnte. Wortlos folgte ihm sein Doppelgänger durch das vollgesogene Moos und half ihm, mit alten Tüchern die klebrigen Saatfussel aus den Rotoren zu entfernen. Es war weniger Arbeit als gedacht, der Regen hatte bereits einen guten Teil abgewaschen. Das Fahrzeug war sichtbar beschädigt. Eines der Segel hing zerfetzt herab, Schrammen zogen sich über die rechte Seite, eine ordentliche Beule verunstaltete den Bug und die Scheinwerfer waren zerbrochen. Das würde mächtig Ärger geben.

Als die Rotoren frei waren und Kane sich ins Cockpit begeben wollte, stand sein Double bereits an der Fahrertür.

»Ich fliege!«

»Das glaube ich jetzt nicht!«

Er schubste ihn weg, doch die Bewegung drückte sie beide gleichermaßen nach hinten.

»Warum willst du überhaupt mit? Dein Zuhause ist hier!«

»Bleib du doch hier!«

Kane stand nun an der Tür und versperrte sie.

»Na schön, du Schlaumeier, komm von mir aus mit, aber es kann nur einer fliegen, und ich bin mit dem Ding hergekommen!«

»Erzähl keinen Quatsch!«

Sein Gegenüber wollte ihn wegzerren und Kane schlug ihm ins Gesicht. Der Schlag war nicht fest, doch er stach wie ein glühender Nagel in seine eigene gebrochene Nase und ließ ihn taumeln. Das war dumm gewesen, er hätte es wissen müssen. Während er sich an die schmerzende Stelle fasste, schwang sich sein Double mit einem Satz auf den Fahrersitz, schlug die Tür zu und machte Anstalten, ohne Kane zu starten. Doch dann überlegte der Lookalik es sich anders und öffnete ihm einladend die Copilotentür. Kane kochte, beließ es aber bei dieser einen Auseinandersetzung und stieg wütend ein.

»Bete, dass du niemals in Schwierigkeiten kommst!«, murmelte er und ließ sich in die Rückenlehne fallen.


Sein Lookalik gab ordentlich Gas, er hatte die drei noch funktionierenden Segel halb eingezogen und brachte den Scout so an seine Leistungsgrenze. Zahllose Saatwolken kreuzten ihren Weg, denen er scharf auswich. Das zerrissene vierte Segel sorgte zudem für ein unberechenbares Flugverhalten.

 

»Musst du so rasen?«

»Schiss?«

Kane fingerte nach dem Gurt und schnallte sich an. Er schwor sich, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder selber am Steuer zu sitzen, egal um welchen Preis.

Bald erreichten sie den Rand des Dämonenwaldes und die Faltensteppe breitete sich vor ihnen aus. Der Name entsprach der Geländeart: unregelmäßige und weich abfallende Hügel, die hin und wieder von einem Steil- oder Überhang durchzogen wurden. Vereinzelt bildeten sich kleine Nebelbäume.

Bei anbrechender Dunkelheit wurde sein Begleiter endlich müde, doch auch Kane hatte Probleme, die Augen weiterhin offen zu halten.

Sie landeten neben einem Überhang und stärkten sich unter freiem Himmel. Teilen war überflüssig, Kanes Doppelgänger hatte dieselben Vorräte wie er selbst bei sich.

Am nächsten Morgen stieg das Double ohne ein Wort zu verlieren auf der Beifahrerseite ein. Na also, sagte sich Kane, ich kann doch auch ganz vernünftig sein.

Mit großer Befriedigung registrierte Kane, dass nun sein Doppelgänger angeschnallt und blass im Sitz versank. Doch im Prinzip wussten beide, dass sie sich beeilen mussten. Das fremde Schiff machte keine Pause, der Treibstoff würde nicht ewig reichen und Kane wollte auch wieder zurückkehren können.

Bald entdeckten sie die Furche, die das fremde Ding hinterlassen hatte. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte es sich in gerader Linie durch die Hügel gefräst und eine breite und tiefe Spur verursacht, die man noch in hundert Jahren sehen würde.

Stunden später sahen sie die Staubwolke am Horizont.


Es war tatsächlich ein Raumschiff, das war an den Triebwerken eindeutig zu erkennen. Sie kamen Kane an dem riesigen Gebilde etwas klein vor, dafür fielen ihm an den Längsseiten vier überdimensionale und torpedoförmige Anbauten auf, die vielleicht ein fortschrittlicheres Antriebssystem darstellten.

Kane flog seit einer halben Stunde mit ausgefahrenen Segeln über dem Ding, das gute zwei Kilometer lang sein mochte, und suchte einen Landeplatz zwischen den Antennen, Modulen, Kuppeln und rohrartigen Gebilden, die möglicherweise Waffen waren.

»Da!«

Sein Doppelgänger deutete auf eine größere Fläche, die lediglich mit dünnen Leitungen überzogen war.

»Sieht gut aus!«, gab ihm Kane Recht. Er setzte zur Landung an. Durch das zerrissene Segel war das Manövrieren schwierig und eine plötzliche Böe drückte die Maschine gegen einen danebenliegenden Turm.

»Pass doch auf!«, rief sein Nachbar. Gleichzeitig krachte es bereits.

»Das war das zweite Segel!«

»Ich weiß!«

Unsanft setzte der Scoutgleiter auf.

»Na prima!«, meinte Kanes Double, als er aus dem Fenster blickte.

»Halt bloß deine Klappe!«

Ihm wäre das ebenso passiert, das war doch klar. Sie würden wieder starten können, aber mit nur zwei verbliebenen Segeln würde der Sprit nicht mehr für den Rückflug reichen.

Draußen blies ihnen ein leichter Fahrtwind entgegen, der Boden unter ihren Füßen vibrierte und brummende Geräusche verrieten, dass in dem Raumschiff mächtige Maschinen arbeiteten.

Das Schiff war ein Lookalik, eine Realisation der Spiegelträumer. Wie die Doppelgänger tauchten auch andere Objekte an den unmöglichsten Stellen auf, die nichts mit ihrem wahren Standort zu tun hatten. Niemand wusste, ob sie die Nachbildung eines Originals darstellten oder reale Dinge aus einer anderen Dimension oder Parallelwelt waren.

Kane und sein zweites Ich wanderten den Rest des Tages zwischen den Aufbauten umher, bis sie endlich eine Schleuse gefunden hatten, die sich nach einigen Experimenten manuell öffnen ließ.


Kane erschrak, als er beim Betreten des Schiffes schwerelos wurde.

»Wie geht das denn jetzt plötzlich?«, fragte er sich.

»In Wirklichkeit befinden wir uns im Weltraum«, beantwortete er sich selbst die Frage.

Praktischerweise gab es hier genügend Griffe und Kanten, an denen er sich festhalten konnte. Der Korridor war hell erleuchtet, nicht sehr lang und mündete in einer T-Kreuzung. Im nächsten Moment huschte am Ende eine Figur vorüber. Kane hielt die Luft an und presste sich an die Wand. Zwei weitere Gestalten folgten der ersten, das Schiff war hochgradig belebt. Kane fingerte nach einer Taste, die sich bei einer Tür neben ihm befand. Zischend öffnete sich der Durchgang und rasch drückte er sich in einen dunklen Raum hinein. Licht flammte auf. Vermutlich ein Sensor, beruhigte sich Kane. Sein Double war ihm gefolgt und schloss hinter sich die Tür. Der Raum mochte eine moderne Küche darstellen oder auch eine gepflegte Werkstatt. Jedenfalls hatten sie Glück, dass er leer war.

Das eben waren Menschen gewesen, allerdings sehr junge, wenn sich Kane nicht getäuscht hatte.

»Zum Glück haben die uns nicht gesehen!«, flüsterte sein Begleiter. Kane betrachtete die verschiedenen Geräte und drückte probeweise auf einigen der Tasten herum, doch nichts tat sich.

Sein Double drehte sich um und formulierte die Frage, die ihm selber durch den Kopf ging: »Was suchen wir eigentlich?«

»Keine Ahnung. Die Zentrale vielleicht?«

»Du meinst die Brücke. Und dann? Das Ding ist riesig!«

Kane ließ sich wieder zur Tür treiben und presste sein Ohr an das Metall. Draußen war alles ruhig, aber in der Schwerelosigkeit waren natürlich keine Schritte zu hören. Er betätigte den Türsensor und blickte in mehrere Waffenmündungen.

Entsetzt packte Kane seinen Doppelgänger, um sich hinter ihm zu verstecken, doch dieser schob ihn seinerseits nach vorne. Die Waffen gehörten zu drei Maschinen, jeweils nur einen Meter groß, jedoch unzweifelhaft tödlich. Eine durchdringende Stimme in einer fremden Sprache ertönte und ließ ihm das Herz in die Hose rutschen.


Man hatte sie in einem nüchtern eingerichteten Raum gesperrt, mit zwei in der Wand eingelassenen Schlafnischen, einer WC- und Waschvorrichtung und einem Tisch mit Sitzgelegenheiten und Gurten. Vor der Tür hielten mindestens zwei Kampfroboter Wache. Es dauerte nicht lange, bis Besuch kam. Ein Mann in Begleitung eines Mädchens. Das lange, hagere Gesicht des Erwachsenen sah verbittert aus, die Glatze ließ ihn alt aussehen, eine seltsame Brille versteckte seine Augen. Er steckte in einem schwarz glänzenden Anzug, der Kane beeindruckte. Das Mädchen trug einen einfachen, grauen Overall, an ihrem kahlen Kopf waren Knöpfe und Steckplätze befestigt.

Der Mann sprach ein paar Worte zu dem Mädchen, die Kane nicht verstand, dann verschwand er wieder. Das Mädchen schnallte sich am Tisch fest und deutete den beiden Jungen an, es ihr gleichzutun. Sie überreichte ihnen Beutel mit dickflüssiger Nahrung. Ihre eigenen Rucksäcke mit den Vorräten hatte man ihnen weggenommen. Der undefinierbare Brei schmeckte fürchterlich, Kane verstaute den Beutel für später.

Das Mädchen war höchstens zehn Jahre alt. Ihr rundes Gesicht wäre mit Haaren sicher ganz hübsch gewesen. Der breite Mund lächelte verlegen und ihre Augen wanderten unsicher von einem zum anderen. Dann begann sie zu sprechen und obwohl Kane manchmal ein Wort zu erahnen glaubte, war ihm die Sprache fremd. Aus der Geschichte wusste er, dass die Gründerväter eine eigene Sprache für die Siedler entwickelt hatten, um keine Altlasten, die sich selbst in Wörtern niederschlagen konnten, in ihr neues Dasein mitzunehmen. Das Mädchen verstummte und legte ein halbrundes, kleines Gerät in die Tischmitte, wo es haften blieb. Es deutete auf sich und sagte: »Ada.« Dann zeigte es fragend auf ihr Gegenüber.

»Kane«, sagte Kane, der zu verstehen glaubte und sein Doppelgänger nannte den gleichen Namen.

Das Mädchen hob die Augenbrauen und schaltete das Gerät ein. Die beiden Kanes blickten auf eine Miniaturdarstellung ihrer selbst.

»Das bin ich und mein Double!«, erklärte der Doppelgänger.

»Wer ist hier das Double?«, fuhr ihm Kane dazwischen.

»Na ich bestimmt nicht, du Pfeife!«

Ada wischte das Bild hinweg. Die Frage war zu schwierig gewesen. Sie projizierte ihr Raumschiff über dem Tisch und ließ daneben einen Planeten entstehen. Sie deutete auf sich und das Schiff und sagte: »Ada, Paron Dura.«

Paron Dura war offenbar der Name des Schiffes. Kane deutete auf sich und den Planeten, den er als seine Heimatwelt erkannte.

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