60 Days in a Row

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Andy Rieth

60 Days in a Row

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60 Days in a Row

Andy Rieth

Copyright: © 2016 Andy Rieth

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Titelbild: Designed by Freestockcenter - Freepik.com

Lektorat: Erik Kinting | www.buchlektorat.net E-Book Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

Es heißt doch: Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied, was so viel bedeutet wie: Für dein Glück im Leben bist nur du alleine verantwortlich. So dachte ich auch mal!

5. Tag – England, London, Samstag
Sometimes in »The George«

Vier Tagen waren bereits vergangen, seit ich Deutschland verlassen hatte. Besondere Erfolge waren natürlich noch nicht zu verzeichnen, die ersten Tage nach meiner Ankunft im Vereinigten Königreich verbrachte ich ja mit Sightseeing in Canterbury und London sowie der Erkundung der näheren Umgebung um meine Wohnstätte herum. Neben einigen Supermärkten und kleineren, recht interessanten Geschäften, die es zu entdecken gab, machte ich mich ebenfalls mit den Bus- und U-Bahn-Fahrplänen so weit vertraut, dass es mir ein Leichtes war, binnen kurzer Zeit überall in London aufzutauchen.

Zu Anfang hatte ich mir eingebildet, mit dem Auto einfach von A nach B kommen zu können, doch in einer völlig überfüllten Weltmetropole wie London, so kam es mir zumindest vor, war es nahezu unmöglich, sinnvoll von einem Ort zum anderen mit dem eigenen Auto zu fahren.

In den ersten paar Tagen kam ich damit überhaupt nicht zurecht. Riesige Menschenmassen drängelten sich in den U-Bahnhöfen und an Bushaltestellen, um noch einen Platz in den völlig überladenen Transportmitteln zu ergattern. Wie gigantische metallene Schlangen bahnten sich die vollgepackten Wagen ihren Weg durch die dunklen Höhlen unterhalb von London und über die asphaltierten Wege der Stadt an der Oberfläche – und ich mittendrin; ich, vom Grundsatz her der absolute Anti-Großstädter. Einmal, Ihr würdet es kaum glauben, quetschte ich mich zusammen mit gefühlt tausend anderen Menschen in eine U-Bahn in der Nähe des Trafalgar Square, als ich einen Mann neben mir entdecken musste, bei dessen Gelassenheit es mir beinahe die Sprache verschlug. Stellt Euch vor, jemand würde sein Gesicht ganz fest an eine Fensterscheibe pressen, was ebenso ulkig aussieht wie es unangenehm ist. Habt Ihr das Bild vor Augen? Nun … jetzt stellt Euch vor, dieser Mann würde sich ein Buch nur knapp 20 Zentimeter entfernt vor sein Gesicht halten, um darin zu lesen, in aller Seelenruhe, während er durch die Masse an Personen immer mehr gegen die Fensterscheibe gedrückt wird. – Er regte sich nicht und wurde nicht wütend – und in diesem Moment erkannte ich, dass man sich in einer Stadt wie London einfach mit der Masse treiben lassen musste, hinnehmen musste, dass die gesamte Bevölkerung in einem geordneten Chaos vor sich hinlebte, in Akzeptanz mit all den Unannehmlichkeiten, die die Ansammlung von Leben in diesem Ausmaß mit sich brachte. Fürwahr könnte man hier schon den Schlussstrich ziehen und guten Gewissens behaupten, an Weisheit gewonnen zu haben. Doch wen interessiert es schon weise zu sein, nicht wahr?

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ich in meiner kleinen, beschaulichen Ferienwohnung in der Nähe des Trafalgar Square aufwachte. Obwohl das Wetter in England als eher regnerisch, dauerhaft bewölkt und trüb verschrien war, konnte ich diesen Umstand, in der kurzen Zeit, die ich nun hier war, nicht bestätigen. Für Mitte April erschien mir das Wetter im Gegensatz zum heimischen Deutschland als eher sonnig und warm.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mich aufraffen konnte aufzustehen. Nachdem ich mich nach allen Seiten gereckt und gestreckt hatte, um meine noch müden Glieder langsam an ihre Funktion zu erinnern, warf ich mit Schwung erst meine Decke und dann mich selbst aus dem Bett. So schnell ich mich aus der Waagerechten heraus befördert hatte, so schnell sackte ich auch wieder unter Schmerzen in mich zusammen: auch nach fünf Nächten hatte ich mich noch immer nicht an die steinharte Matratze meines Bettes gewöhnen können und war geplagt von fürchterlichen Rückenschmerzen. Vielleicht trug auch die klimatische Veränderung dazu bei, wobei ich rein äußerlich keinen Unterschied zu Deutschland erkennen konnte.

Weitere Minuten vergingen, bis ich gewillt war, mich unter nachlassenden Schmerzen ins Bad zu schleppen. Eine heiße Dusche würde mir gut tun, dachte ich, und war einmal mehr froh darüber, die 150 Euro mehr im Monat für ein eigenes Bad und eine kleine Küchenzeile investiert zu haben. Es war befreiend zu wissen, jederzeit Anspruch auf die sanitären Anlagen geltend machen zu können, ganz im Gegensatz zu den Gemeinschaftswaschräumen in günstigeren Unterkünften.

Heute nahm ich mir besonders viel Zeit. Mehr als 15 Minuten ließ ich mir das heiße Wasser auf den geschundenen Rücken prasseln, um mich zu entspannen. Zum Glück waren Wasser und Strom, wenn nicht übermäßig verbraucht, im Preis inbegriffen.

Nach Beendigung meiner morgendlichen Rituale zog ich mich an – ich lebte noch aus dem Koffer – und machte mir dann ein echtes deutsches Frühstück: Toastbrot mit Nutella. Gesund und reichhaltig, meine Mutter hätte sich eher nicht gefreut. Einziger Vorteil einer derartigen Mahlzeit war das Abräumen: Messer unters Wasser, Serviette in den Müll, Krümel ins Waschbecken – fertig!

Für den heutigen Tag hatte ich mir einiges vorgenommen. Zunächst musste ich den Kühlschrank in meiner kleinen Küche mit weiteren Lebensmitteln füllen, die nicht aus Toast und Nutella bestanden. Von meinem Apartmenthaus in beinahe Sichtweite zum Kingʼs College – dazwischen standen leider etwas zu große Häuserkomplexe – war es sozusagen ein Katzensprung zu Sainsburyʼs in der High Holborn, einer englischen Supermarktkette, ähnlich wie Globus oder Real in Deutschland.

Für die Strecke, kaum mehr als Kilometer, traute ich mich sogar, mein Auto zu verwenden. Obwohl es durchaus übertrieben war, einen Fußmarsch von kaum mehr als zehn Minuten motorisiert zu überrücken, überwogen die Vorteile eines Kofferraumes doch deutlich. Getränkekisten zu schleppen war einfach nicht mein Ding und die paar Meter würde ich auch im Mittagstrubel linksseitig überstehen.

Auch eine Sache, an die ich mich nur sehr schwer gewöhnen konnte. Auf der linken Seite der Fahrbahn zu fahren war eine der vielen Umstellungen, die mir wirklich schwerfielen. Obwohl ich mich als guten Autofahrer bezeichnen würde, passierte mir es immer wieder, dass ich an einer Kreuzung für mehrere Sekunden anhalten musste, um mich zu orientieren.

Obwohl ich mir darüber im Klaren war, dass es an Parkmöglichkeiten sicherlich mangeln würde, wagte ich die Fahrt und entschloss mich kurzerhand, in einer Seitenstraße zu halten. Mit meinem Realschulenglisch konnte ich mich auch im Supermarkt ausreichend orientieren und meine Einkäufe zügig abschließen, sodass ich nicht einmal einen Strafzettel bekommen hatte, als ich nur 20 Minuten später zum Wagen zurückkam.

Die eingekauften Lebensmittel unterschieden sich kaum von den in Deutschland zu findenden Produkten: Wurst und Käse sowie Brot, ein wenig Obst, Wasser, Saft und Bier waren mir in beiden Sprachen geläufig. Umgerechnet 50 Euro ärmer, war ich für die kommenden Tage versorgt.

Das Wichtigste jedoch war, eine Bar für den heutigen Abend auszumachen, in der ich einen gemütlichen englischen Abend verleben konnte, mit Ale und typisch englischer Gesellschaft. Ich kannte noch niemand in London und es wurde Zeit, sich auf den einen oder anderen Menschen einzulassen, um nicht zu vereinsamen. Mit dem Auto jedoch durch die Straßen und Gassen von London zu kurven, wäre absoluter Blödsinn gewesen, zumal ich verderbliche Lebensmittel im Auto transportierte und diesbezüglich wirklich sehr empfindlich war. Außerdem hatte ich in meinem Apartment einen High-Speed-Zugang zum Internet.

Zu meinem Glück war es mir möglich gewesen, mich im Vorfeld um den Internetzugang zu kümmern. Mein Vermieter konnte über seinen Provider einen separaten Anschluss bestellen, der monatlich kündbar war und über eine ausreichend Bandbreite verfügte.

Nachdem ich mein Auto auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Apartmenthaus abgestellt und ausgeladen hatte – ich musste zweimal laufen –, wollte ich es mir auf meinem Bett mit dem Laptop gemütlich machen. Zuvor jedoch zog ich mich wie üblich bis auf die Unterhose aus, legte mir die Bettdecke um die Schultern und setzte mich im Schneidersitz ans untere Ende des Bettgestells. Ich weiß, Ihr werdet jetzt denken: Warum in aller Welt hat sich der Kerl jetzt halb nackig gemacht? Nun, das ist eigentlich recht simpel: Im Haus kann ich es, sofern kein Besuch da ist, absolut nicht leiden, Kleidung anzuhaben. Man fühlt sich ohne einfach freier und beweglicher und die herannahende Kälte konnte man einfach mit einer Decke von einem fernhalten. Ihr glaubt, das wäre schon seltsam genug? Na dann werdet Ihr davon sicherlich mehr als überrascht sein: Wenn es wirklich kalt im Raum ist und die Heizung nicht ausreichend Wärme spenden kann, schnappe ich mir einen Haartrockner und blase heiße Luft unter meine Decke, die mir wie ein Wigwam um den Körper liegt, mit einer Öffnung nach vorn heraus für die Hände und natürlich den Föhn. – Jeder hat so seine Marotten, doch sind es nicht gerade diese kleinen Seltsamkeiten, die einen sympathisch machen?

Mein Gamer-Laptop, seines Zeichen mit 16 GB RAM, i7 Quadcoreprozessor, 2 GB GTX-R-Nvidia-Grafikkarte und einer superschnellen SSD-Festplatte ausgestattet, startete Windows binnen weniger Sekunden. Mein Gebläse hatte es bis dahin noch nicht geschafft ausreichend Wärme zu produzieren, was es mir schwer machte, die Tastatur und die Maus gleichzeitig zu bedienen, da eine Hand den Föhn halten musste.

 

Bevor ich mit der Suche begann, informierte ich mich erst einmal ausgiebig über die Geschehnisse in Deutschland, checkte meine E-Mails, las Artikel auf Fokus und Spiegel und zuletzt auch auf BILD. Ich weiß, die Zeitung ist als schmieriges, sensationsgeiles Schundblatt berüchtigt, doch zu meiner Verteidigung interessierte mich hier nur der Sportteil.

Kaum mit dem WLAN verbunden, meldete sich auch mein Handy: Die Whatsapp-Nachrichten ließen meinen Bildschirm blitzen und leuchten, wie ein übertrieben geschmückter Weihnachtsbaum auf LSD. Meine Eltern fragten jeden Tag nach meinem Befinden und wir hatten uns vorgenommen, alle drei Tage miteinander zu telefonieren. Über das Internet war das alles entspannt und kostenlos, außerdem pflegte ich ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Familie und es war mir absolut wichtig mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Von meinem Bruder hörte ich auch fast jeden Tag etwas und meine Freunde waren in zwei Gruppen in Whatsapp versammelt, sodass ich kaum ein Ereignis in Deutschland verpassen konnte.

Doch plötzlich fiel mir etwas auf. Einer der Chats, die blickend aufpoppten, war mir allerdings neu, die hinterlegte Nummer dazu völlig unbekannt. Ich öffnete ihn mit einem Klick auf den Bildschirm und las den mehrzeiligen Text, der mit einem grinsenden Smiley und LG Nina endete: Hallo Luca. Wie geht es dir? Hab gehört du bist in England. Werde kommende Woche meine Schwester in London besuchen. Vielleicht einen Kaffee? Nina, liebe Freunde, war meine Exexexfreundin. Genau genommen war es bereits fast sechs Jahre her, seit wir uns das letzte Mal zu Gesicht bekamen. Wir hatten uns damals im beiderseitigen Einvernehmen getrennt, ohne jeglichen Streit und ohne hinterhältigen Anlass wie Fremdgehen oder Ähnliches. Wir hatten uns einfach in verschieden Richtungen entwickelt und rechtzeitig die Reißleine gezogen. In den letzten Jahren hatten wir zwar immer mal wieder, aber meist nur sehr sporadisch Kontakt, kaum mehr als eine SMS oder eine Nachricht über Facebook. Sie war damals nach München gezogen, um dort zu arbeiten, lernte dort jemanden kennen und blieb.

Für einen Moment hielt ich inne. Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, zu erfahren, was aus ihr geworden war und vor allem, hier im fremden London für einige Tage mit jemandem zusammen sein zu können, den ich schon kannte, ließ mein Herz höher schlagen. Doch zuerst beantwortete ich die Anfrage meiner Eltern und meines Bruders. Es war nie viel, doch ein Wie gehtʼs euch, Hab euch lieb und Alles okay, Einzelheiten am Telefon waren mir doch wichtiger als der bevorstehende Besuch. Endlich konnte ich meinen Föhn zur Seite legen und abstellen. Unter der Decke und im ganzen Raum war es nun angenehm warm, sodass ich endlich beide Hände zur freien Verfügung hatte. Nun widmete ich mich Nina. Es stellte sich heraus, dass ihre Schwester nur einige Hundert Meter entfernt in der Macklin Street in einem kleinen Apartment wohnte. Diese hatte eine Hotelfachschule in Deutschland absolviert und arbeitete im Kingsway Hall Hotel unweit von der Houghton Street entfernt, in der ich lebte. Zufälle gibt es manchmal, die sind unfassbar. Wir verabredeten uns schon für den kommenden Dienstag – heute war Samstag – in einer Bar mit dem Namen Waterfront Bar welche auf dem Campus des Kingʼs College lag, ihre Schwester würde sie dorthin bringen und ich würde sie dann auf dem Nachhauseweg begleiten. Ich verbuchte diese Entwicklung meiner Reise nach London als durchaus positiv, konnte jedoch noch immer nicht mein Problem für den Abend lösen.

Den IT-Nerds sei Dank, gibt es Google. Binnen weniger Minuten hatte ich Infos zu allen möglichen Bars, Cafés, und Restaurants in der gesamten näheren Umgebung. Bevorzugt würde ich meinen Abend gerne in einer Bar verbringen, am besten eine, die ihren englischen Charme ausspielen konnte: dunkles Holz, dämmriges Licht, kleine Fenster. Meine Wahl fiel auf das The George nur einige Straßen weiter. Ich dachte mir, bei diesem Namen würden meine Erwartungen sicherlich zu genüge erfüllt werden. Nachdem ich mir einige Bilder angeschaut hatte war ich davon sogar überzeugt. Mir war nur noch nicht klar, wie teuer mich dieser Abend kommen würde. Anscheinend wurde im The George moderne Küche mit filigranen Gerichten und einem hellen Büffet mit dem düsteren Charme Londons vergangener Jahrhunderte vermischt. Obwohl mir das Ambiente durchaus zusagte, wurde mir mit Lesen der Speisekarte von Zeile zu Zeile deutlicher, dass der Abend teuer werden konnte. Doch ich hatte mich entschieden. Außerdem war es sozusagen meine erste Runde im Londoner Nachtleben und dies wollte ich gebühren beginnen. Deshalb war es an der Zeit mich auszuruhen. Für die kommenden zwei Stunden würde ich mich um absolut nichts mehr scheren. Ich zog die Vorhänge zusammen, schaltete meinen Laptop aus und kuschelte mich in Decke und Kissen auf der steinernen Matratze.

Doch an Schlaf war natürlich nicht zu denken. Nicht dass ich aufgeregt gewesen wäre, ganz im Gegenteil, ich freute mich richtig auf die kommenden Stunden. Doch mir war es noch fast nie vergönnt gewesen, mittags schlafen zu können. Soweit ich mich zurückerinnere, ist es mir nur zwei Mal in den vergangenen 15 Jahren gelungen. Das eine Mal hatten ich und einige Freunde eine LAN-Session angesetzt, die fast 36 Stunden andauerte. Nach fast 48 Stunden ohne Schlaf, dauerhaftem Computerspielen und tonnenweise Fast Food und Alkohol, schlief ich gegen Mittag für fast 30 Stunden ohne aufzuwachen ein. Beim zweiten Mal war der Grund weit weniger ungewöhnlich: Durch technische Probleme bei der Arbeit war es mir vergönnt, nach einer 60-Stunden-Woche auch noch den Samstag und Sonntag jeweils mit 17 Stunden durchzuackern. Sonntagnacht, es muss schon nach Mitternacht gewesen sein, fiel ich völlig entkräftet und am Rande der Erschöpfung ins Bett und schlief, mit kurzen hygienisch bedingten Unterbrechungen, beinahe zwei Tage. Erst am Mittwoch konnte ich wieder zu Arbeit erscheinen. Böse war mit deshalb aber niemand, 100 Stunden in einer Woche reißt schließlich kaum jemand runter. Kurz und gut: Nur wenn ich meinen Körper bis zum Exzess malträtierte, war es mir möglich nachmittags zu schlafen. Auch Krankheiten machten da keine Ausnahme. Dösen jedoch war mir vergönnt, also schloss ich meine Augen und versuchte an nichts zu denken.

Zwei Stunden später klingelte der eingestellte Alarm an meinem Handy und zerrte mich zurück in die Realität. Tatsächlich konnte ich mich beinahe über die gesamte Zeit gedankenlos entspannen und ausruhen. Die vergangenen Nächte waren ohnehin nicht wirklich erholsam gewesen und so war es eine willkommene Kleinigkeit, welche mir einfach gut tat.

Es war bereits 16:00 Uhr und ich musste noch einige Dinge erledigen, bevor es heute Abend auf die Pirsch gehen konnte. Aus Deutschland hatte ich mir abgepackte Spaghetti und einige Fertigsoßen nebst Parmesan und getrocknetem Basilikum mitgebracht. Meine italienischen Wurzeln – meine Mutter ist in Rom geboren – und meine Liebe zur Pasta würde ich auch in England nicht vergessen. Dass ich für mein kleines Apartment 150 Euro mehr im Monat investierte, machte sich auch in der Küchenausstattung bemerkbar: Auf dem Induktionsherd konnte ich mein gesalzenes Nudelwasser binnen weniger Minuten zum Kochen bringen. Vorsicht war immer bei Dickflüssigerem wie meiner Tomatensoße geboten. Schon auf einer mittleren Stufe erhitzte die magnetfeldbetriebene Kochplatte den roten Brei derart, dass die aufsteigenden Blasen platzten und kleine Spritzer auf der Küchenwand und mir verteilten.

Mit einer Hand die Soße rührend, versuchte ich mit der anderen Hand eine der Spaghetti zu angeln, um sie auf ihre Konsistenz zu prüfen. Zehn Minuten Garzeit wurden auf der Verpackung veranschlagt, doch ich bin der Al-dente-Typ. Nach etwas weniger als neun Minuten schob ich den Topf vom Herd und goss die Nudeln über einem Sieb ab. Auf keinen Fall darf man die Nudeln mit kaltem Wasser abschrecken. Das verdirbt nicht nur den Geschmack, sondern lässt alles wesentlich schneller miteinander verkleben.

Das Essen schmeckte fantastisch. Spaghetti mit Tomatensoße, Basilikum und Parmesan, dazu ein Glas italienischen Rotwein – kaum zu übertreffen. Ich will den Koch ja nicht loben, doch auf ein Schulterklopfen wollte ich nicht verzichten auch wenn es nun wirklich keine Meisterleistung gewesen war.

Nun noch schnell waschen und fertigmachen, anziehen und los gingʼs. Aufräumen würde ich morgen. Ich hatte nicht vor, etwaigen Besuch mit in mein Apartment zu nehmen, und ehrlich gesagt traute ich mir so etwas ohnehin nicht wirklich zu. Nicht nur die Sprachbarriere würde mich zurückhalten, sondern auch die gängigen Gepflogenheiten der Londoner Nachtschwärmer waren mir gänzlich unbekannt. Dennoch, um London meine beste Seite zu zeigen, war das Outfit bereits ausgewählt: eine beigebraune G-Star-Hose samt dunkelbraunem Gürtel und hellgrauen Bugatti-Schuhen, kombiniert mit einem blau-weiß-karierten Hemd von Ralph Lauren. Ich war frisch rasiert und hatte versucht, meine Haare mit etwas Gel zu bändigen. »Heute gehen wir steil«, sagte ich mir laut, wobei ich noch nicht genau wusste, was das für mich bedeuten würde.

Punkt 19:00 Uhr war ich bereit, London zu erobern. Mein zuverlässiger Begleiter Samsung Galaxy S5, ich liebe Samsung, würde mir den Weg zum ehemaligen König von England weisen. Die Sonne hatte sich mittlerweile aus dem Staub gemacht und hinterließ eine frische aber trockene Kälte zwischen den Straßen und Gassen der Millionenstadt.

Es waren bemerkenswert viele Menschen auf der Straße– in Deutschland füllten sich die Straßen, Bars und Klubs frühestens gegen 21:00 Uhr. Mein Weg führte mich am Kingʼs College vorbei. Genauer: am Strand Campus, welcher unmittelbar an der Themse lag und unter anderem die Fakultäten der Naturwissenschaften, Mathematik und Rechtswissenschaften beherbergte. Weiter auf der Strand in Richtung Osten, vorbei an St. Clement Danes, einer kleinen Kirche, erreichte ich die Devereux Ct. wo gleich auf der rechten Seite der ehemalige König George sozusagen thronte.

Die Fassade hatte etwas Einzigartiges, das man in meinem Heimatland nur selten zu sehen bekam; ein Fachwerkhaus, erbaut aus dicken Streben und Balken aus fast schwarzem Holz, die Hohlräume und Wände gefüllt und gezogen mit in Weiß gestrichenem Sandstein. Offensichtlich renoviert verlor es jedoch nicht ein Bisschen seines Charmes. In goldenen Lettern, von Strahlern beleuchtet, prangte der Name The George über den karierten Buntglasfenstern des zweiten Stockwerkes, genau in der Mitte des Gebäudes. Überall an der Fassade, an den Türen und Fenstern hatte man Verzierungen in Gold angebracht. Mit ein wenig Fantasie erinnerte einen die äußere Erscheinung des Pubs an die Rückseite einer Galeone des 16. und 17. Jahrhundert. Eines dieser prunkvollen Dreimaster im Dienste der englischen Marine, welche in der Vergangenheit die Weltmeere entdeckten, erkämpften und eroberten. Ich füllte meine Lungen noch einmal mit der kühlen und einigermaßen sauberen Luft der Abenddämmerung, den Smog mal außer Acht gelassen, bekräftigte mich noch einmal selbst, betätigte den goldfarbenen angelaufenen Türknauf der hölzernen Schwingtür und betrat das The George.

Im Inneren sah es genauso aus, wie es einem auf den Bildern versprochen wurde. Kurioserweise wurde auf den Fotografien nicht versucht, den Pub angenehmer, besser oder komfortabler darzustellen, als er in Wirklichkeit war. Respekt dafür. Dunkle Eichenpanele, scheinbar endlos lang, formten den Boden, der wie frisch abgeschliffen und poliert glänzte. Obwohl es den Schein von einem frisch verlegten Boden zu vermitteln versuchte, wurden die Gebrauchsspuren, welche sich über die Jahre auf dem edlen Holz abzeichneten, bestehen gelassen. Stühle und Bänke waren überzogen mit rissigem schwarzem, braunem und dunkelrotem Leder. Auf der Bar drängten sich mehrere goldene Zapfhähne, auf denen jeweils das Emblem einer Biermarke angebracht war. Keine der genannten Sorten war mir bekannt, doch ich hatte mir fest vorgenommen, jede einzelne zu probieren. Dass in England grundsätzlich aus Pints getrunken wurde, wir würden » n Halwe« sagen, ließ die Aufgabe allerdings deutlich schwerer werden, als ich gedacht hatte.

Der Pub war schon gut gefüllt. Überall saßen und standen Männer und Frauen zusammen, miteinander und nebeneinander, unterhielten sich und tranken munter und in rauen Mengen. Zu meinem Glück war in der hinteren Ecke ein kleiner Tisch frei, an den zwei thronartige Sessel gestellt waren. Sie sahen nicht nur bequem aus, sondern gaben mir das Gefühl, ein echter Engländer zu sein. Es war mir durchaus bewusst, dass die englische Kultur nicht daraus bestand, sich auf einem alten Sessel in einem Pub niederzulassen und ein Bier zu bestellen, doch für mich war es zumindest ein Anfang. Außerdem hing über dem kleinen Tisch in Augenhöhe ein Ölgemälde eines Königs, welcher auf einem Thron saß, der dem Stuhl, auf dem ich mich nun gleich niederlassen würde, nicht unähnlich war.

 

Kaum jemand beachtete mich, während meines Weges in die hintere Ecke des Pubs. Vorbei an der Bar – der Barkeeper nickte mir skeptisch zu, als würde er wissen, dass er mich hier noch nie gesehen hatte –, schritt ich auf meinen zukünftigen Sitzplatz zu. Auf der rechten Seite war ein wunderschöner, mit Holz und goldenem Metall verzierter Kamin in die Wand eingelassen. Natürlich nur zur Deko, er konnte ganz offensichtlich nicht auf herkömmliche Weise verwendet werden. Endlich angekommen wandte ich mich um, schaute noch einmal in die Menge und setzte mich hin. Kaum hatte der Stoff meiner Hose den thronartigen Sessel berührt, schwenkten an die 30 Köpfe zu mir herum, die Musik verstummte augenblicklich – mir war sie zuvor im Lärm und Trubel der Unterhaltungen überhaupt nicht aufgefallen – und der Barkeeper, der mich zuvor auf seltsame Art und Weise gemustert hatte, sprang hinter der Bar hervor, eilte zu mir, nahm mich in den Arm und rief erfreut: »Long live the King!« Worauf der gesamte Pub mit einem lauten »King George!« antwortete.

Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie peinlich mir das war. Mein Kopf lief knallrot an, mir wurde heiß. Am liebsten wäre ich im dunklen Eichenboden versunken. Doch nichts da: Mit der Dreistigkeit, sich auf des Königs Thron zu setzten, hatte man sich offenbar bereit erklärt, dem gemeinen Volk eine Runde zu spendieren. Zumindest war es in etwa das, was ich aus den zügigen Sätzen des Barkeepers herauskristallisieren konnte. Ich war so perplex, dass ich nur verlegen nicken konnte. Sofort wurde an der Bar freigeräumt, zahlreiche Schnapsgläser wurden hintereinander aufgereiht und die Massen strömten an den Tresen. 25 Leute waren bereit meine Unachtsamkeit mit mir zu begießen. In den Gläsern schimmerte eine durchsichtige Flüssigkeit. Ich wollte mir schon selbst eines dieser Shots schnappen, da winkte der Barkeeper energisch ab. Verärgert funkelte ich ihn für einen Moment an. Die Runde bezahlen durfte ich, aber nicht mittrinken, das ließ mich innerlich brodeln. Doch nur Augenblicke später reichte mir Frank, so hieß der Barkeeper, einen goldenen Pokal, reich verziert mit glitzernden roten und blauen Steinen, führte mich zurück zu meinem Sessel und flüsterte mir etwas ins Ohr. Für einen Moment entglitten mir die Gesichtszüge. Frank schmunzelte frech und wandte sich an die Menge. »Silence, the King is speaking to you.«

»My … name … is … Luca«, stotterte ich und erhob meinen Pokal. Die gesamte Besucherschaft des Pubs war zu mir gerichtet und lächelte mich an. »This is for London.« Ich prostete der Menge zu und trank einen Schluck. Mich schüttelte es für einen Moment, als die transparente Flüssigkeit meine Kehle hinab lief: Es war Gin. Pur. »This is for England«, rief ich weiter und prostete erneut in die Menge, nahm einen weiteren Schluck und schloss mit den Worten: »And this is for the Queen.« Erneut prostete ich der Menge zu, doch diesmal donnerte mir ein einheitliches »And this is for our King Luca« entgegen.

Nicht nur ich, sondern auch alle anderen durften nun trinken. Beifall folgte und einige kamen sogar zu mir und bedankten sich. Ich war immer noch nicht wirklich angekommen. Mein Kopf war mit der derzeitigen Situation völlig überfordert. Außer ein gelegentliches »Your welcome« interagierte ich nur noch mit sanftem Nicken. Einerseits weil ich nicht wusste, wie ich angemessen auf die Danksagungen reagieren sollte, andererseits hielt ich meinen Mund deshalb, weil der Gin sich bereits am oberen Ende meiner Kehle versammelt hatte und dringend wieder raus wollte. Das musste ich natürlich verhindern.

Der letzte Mann, der zu mir kam und mir dankte – er reichte mir die Hand zum Gruß, welchen ich erwiderte –, kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich war derart beschäftigt damit, nicht brechen zu müssen, dass ich den Gedanken ignorierte. »Gib Frank 50, dann ist er zufrieden. Glaub mir, sonst wirdʼs teurer« flüsterte er mir auf Englisch zu.

Bis meine alkoholisierten Synapsen die Bedeutung der Worte begreifen und erfassen konnten, war der Kerl schon davongeschlichen. Zu allen Seiten ließ ich meinen Blick schweifen, doch er war wie vom Erdboden verschluckt.

Sofort zückte ich mein Portemonnaie, griff nach 100 Pfund, begab mich schwungvoll zurück an die Theke und beglich bei Frank meine Schulden. Als er mir tatsächlich 50 Pfund zurückgeben wollte, winkte ich lächelnd ab: »Save it fort he Queen.« Er verstand sofort, klopfte mir anerkennend auf die Schulter und antwortete nur: »Ur a good guy. Nice things will happen to ya.« Er wandte sich um, griff nach einem Pint Bier, stellte ihn mir vor die Nase machte eine Handbewegung. als würde er es trinken, was mir wohl andeuten sollte, dass ich es trinken durfte, und eilte davon. Von diesem Augenblick an hatte ich bei ihm einen Stein im Brett und er bei mir.

Die Gesellschaft im Pub widmete sich nun wieder sich selbst und ich konnte mich endlich auf meinem Thron niederlassen, welchen ich mir an diesem Abend redlich verdient hatte. Ich versuchte dem Treiben und den Unterhaltungen der Menschen zu folgen, schnappte immer mal wieder einige Unterredungen auf und versuchte deren Sinn zu entschlüsseln. Mein Englisch war, was das Verständnis anbelangt, recht ausgereift und wenn mein Gegenüber nicht irgendeinen dialektischen Kauderwelsch von sich gab und nicht zu schnell sprach, gelang es mir in der Regel immer, zumindest den Sinn der Aussagen zu entschlüsseln. Sprechen jedoch fiel mir deutlich schwerer. Da ich kaum Übung hatte – wo in Deutschland war es auch notwendig Englisch zu sprechen –, rang ich normalerweise immer mit Aussprache, Grammatik und Vokabeln. Diesen Umstand galt es zu ändern wenn ich noch länger hier in London bleiben und mit den Gegebenheiten besser zurechtkommen wollte. Leider waren mir außer Frank alle Anwesenden völlig fremd und niemand stand alleine da. Um nicht völlig sinnlos herumzusitzen, begab ich mich erneut an den Tresen und bestellte nun ein anderes Bier. Damit wären dann schon zwei Sorten abgedeckt und es war noch nicht einmal 20:00 Uhr durch.

Als ich mich wieder meinen königlichen Pflichten widmen wollte, fiel mir plötzlich der Kerl ins Auge, der mir zuvor den Tipp mit den 50 Pfund gegeben hatte. Erst beim zweiten Blick wollte ich es glauben, doch nun wurde mir nur allzu deutlich bewusst, woher der Mann mir bekannt vorkam. Ich muss hierzu gestehen, dass ich ein absoluter Fan der Harry-Potter-Reihe war. Neben allen Filmen besaß ich auch alle Bücher. Keinen der Filme hatte ich weniger als 30 Mal gesehen. Und da stand, mit der bekannteste Protagonist der von Rowling erschaffenen Welt. Mister Harry Potter himself: Daniel Radcliffe. Wie ein normaler Mensch stand er da, kurioserweise alleine, auch ohne Personenschutz, und nippte ungeachtet der Umgebung an seinem Bier. Natürlich war ich kein Fan im Sinne eines stalkerhaften Teenies, der sich beim Anblick eines Hollywoodstars vor Freunde in die Hose macht, doch wie oft kommt es vor, dass man eine solche Berühmtheit direkt vor Augen hat? Da ich schon einen Pokal Gin und fast einen Liter Bier intus hatte, war meine Hemmschwelle, fremde Menschen anzusprechen, erheblich gesunken. Für einen kurzen Moment spielte ich in meinem Kopf die eventuell aufkommen Situation durch und kam letztlich zu dem Schluss, dass es nicht verwerflich sei einen berühmten Fremden anzusprechen, da mir alle anderen Anwesenden ja ebenfalls fremd waren.