Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Ab dem 29.01.19 war Reiswitz dann als ordentlicher Student in Berlin eingeschrieben und studierte acht Semester – zum Teil handelte es sich um „Zwischensemester“ – lang vornehmlich Philosophie, aber auch Literatur, Kunstgeschichte, Psychologie und Medizin sowie Biologie. In seinem Nachruf auf Reiswitz hält dazu der Historiker und spätere Kollege von Reiswitz, Georg Stadtmüller (1909–1985), fest: „Seine Studien waren nicht von praktischen Berufszielen, sondern ausschließlich von inneren Neigungen bestimmt.“119 Demgemäß reichten Reiswitz’ „Neigungen“ von der Tierphysiologie, über welche er im Wintersemester 1921/22 ein Praktikum bei Wolfgang von Buddebrock-Hettersdorf (1884–1964) absolvierte bis hin zu Veranstaltungen bei Hugo Karl Liepmann (1863–1925) über Sexualpsychologie und die Psychologie der Frau, die er ein Jahr zuvor belegt hatte.120 Sicherlich stellte das Studium für Reiswitz die Fortsetzung seiner vor dem Krieg so herausgestrichenen Beschäftigung mit der „göttlichen Kunst“ dar.

Schon am 06.03.22 reichte er seine Dissertation unter dem Titel „Das A-Historische, das Historische und das Anti-Historische in der Philosophie Arthur Schopenhauers“121 ein. Das A-Historische in der Philosophie Schopenhauers liege darin, dass er die „Welt kritisch transzendental als nur Erscheinung betrachtete“122, „historisch“ sei Schopenhauer „von jenem Blickpunkte aus, der dieselbe Welt als Objektivation eines metaphysischen An sich auch empirisch real wertete.“123

Das „Anti-Historische“ bei Schopenhauer schließlich versuchte Reiswitz dadurch nachzuweisen, dass er darlegte, dass Schopenhauer ein großer Gegner des „Historismus“ gewesen sei. Unter Historismus ist die Konzeption zu verstehen, nach der jedes geschichtliche Ereignis, jede Epoche für sich stehe. Sowohl eine moralische Beurteilung der Vergangenheit aus gegenwärtiger Perspektive sei abzulehnen, als auch die teleologische Extrapolation der Zukunft aus geschichtlichen Befunden. Auf der anderen Seite aber sei das menschliche Bewusstsein historisch determiniert. Jede Epoche sei das Produkt der vorangehenden oder dabei aber einem festen Plan oder Muster zu folgen. Ex-post der Vergangenheit übergestülpte Kategorien wie „Fortschritt“ seien folglich inadäquat. Der Historiker müsse sich mit dem objektiv Greifbaren, das heißt den Quellen befassen, und sich diesen unvoreingenommen aber kritisch nähern. Einer der bekanntesten Vertreter der historistischen Schule war niemand anderes als der Historiker Leopold von Ranke. Reiswitz aber hatte zumindest zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Doktorarbeit noch wenig übrig für den Historismus, obwohl er später selbst zu einem großen Bewunderer Leopold von Rankes werden sollte. In seiner Doktorarbeit selbst mokierte er sich: „Vom kommandierenden General bis in die höhere Töchterschule hinein schwimmt alles in flachem, wurzellosen Bildungshistorismus.“124 Nach Reiswitz fanden sowohl Konservative und Liberale, als auch naturwissenschaftliche Materialisten und die „Feinde der bestehenden Staatsformen“125 – also Marxisten –, ihre jeweiligen beliebigen Anknüpfungspunkte in der historistischen Denkweise.

Schopenhauer hingegen sprach der Geschichte überhaupt den Rang einer Wissenschaft ab: „Traum ist die Geschichte!“126 Schopenhauer hatte sogar Skrupel, überhaupt eine „Geschichte der Philosophie“ zu verfassen, da er es vorzog, dass sich potentielle Leser mit den „selbsteigenen Werken“ der Philosophen befassten. Eine „Geschichte der Philosophie“ zu lesen sei, so Schopenhauer, „wie wenn man sich sein Essen von einem Andern kauen lassen wollte.“127

Reiswitz’ Doktorvater Troeltsch teilte diese Kritik Schopenhauers an historisierenden Sichtweisen, insbesondere bezogen auf ein rein kognitives Prinzip beim Weltverständnis. In einem im Juni 1922 erschienenen Aufsatz unter dem Titel „Die Krisis des Historismus“ geißelte er das Alleinstellungsmerkmal des Geschichtlichen: „Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werden aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich“128 Die Betonung liegt sicherlich auf dem „nur“. Denn, wenn alles menschliche Wirken, so Troeltsch, lediglich als rational fassbarer Teil einer historischen Kette eingestuft werde, festige dies auch in unangemessener Form die „Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, überindividuellen Zusammenhängen“.129

Doch Reiswitz’ Gesamturteil über Schopenhauers Interpretation der Historie war keinesfalls positiv: „Schopenhauer war seiner Zeit gegenüber ein Gift, ein erst langsam, dann immer rascher sich ausbreitendes Gift“.130 Es wird nicht klar, worin dieses „Gift“, welches Reiswitz schon in seiner „Vorbemerkung“131 erwähnte, bestanden haben soll, zumal er auf jegliches Hinzuziehen von Sekundärliteratur vezichtete und lediglich aus den Werken Schopenhauers zitierte, was er damit – wenig überzeugend – rechtfertigte, dass „diese Untersuchung unter den erschwerendsten physischen Hemmungen aufgenommen und zum Ende geführt wurde, welche ich dadurch positiv zu werten suchte, dass grundsätzlich alle Auslegungen und Darstellungen der Philosophie Schopenhauers unberücksichtigt blieben, um ein vollkommen unbefangenes Ergebnis zu ermöglichen.“132 Vielleicht befand sich Reiswitz ja doch schon gedanklich auf dem Weg in die Schule Rankes.

In ihren jeweiligen Gutachten trugen sowohl Troeltsch (30.04.22) als auch der Gestaltpsychologe Wolfgang Koehler (1887–1967) (20.05.22)133 den „physischen Hemmungen“ Rechnung. Troeltsch erwähnte expressis verbis den „Kopfschuss“ und Koehler wies auf die „schwere Schädigung“ hin, die der Verfasser „zu bekämpfen“ habe. Er schloss sich dem „Laudabile“-Urteil von Troeltsch an.134

Während sich nun Reiswitz in Charlottenburg auf die mündliche Prüfung vorbereitete, wurde am 24.06.22, rund 5 km von der Carmerstraße entfernt, der Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867–1922) in Berlin-Grunewald ermordet. Reiswitz war entsetzt: „Himmel! Diese Irrsinnigen! Rathenau und [Hugo] Stinnes, das sind die beiden bedeutendsten Köpfe, die das heutige Deutschland besitzt. Und da schießen so ein paar törichte deutsch-völkische Lümmels Rathenau ab, anstatt auf den Knien dafür zu danken, dass es solche Menschen gibt in Deutschland.“135 Seine Empörung über den Mord an Rathenau, der in rechten politischen Kreisen als Sinnbild des „Erfüllungspolitikers“ galt, zudem als Jude den Hass antisemitischer Kreise auf sich zog, zeigt, dass Reiswitz’ jungkonservative Ausrichtung nicht die oft anzutreffende Komponente des Antisemitismus umfasste.

Reiswitz’ mündliche Prüfung fand einen Monat später, am 20.07.22 statt. Bei Koehler und Troeltsch im Hauptfach Philosophie schloss er mit „gut“ ab, im Nebenfach Botanik erhielt er von Gottlieb Haberlandt (1854–1945) ein „im ganzen genügend“, und der Zoologe Karl Heider (1856–1935) zensierte ihn mit „befriedigend“. Mit dem Datum vom 14.08.22 erhielt Reiswitz seine Promotionsurkunde ausgehändigt. Doch welchen Beruf sollte er nun ergreifen?

1.2. Die erste Jugoslawienreise 1924 und ihre Folgen

Zunächst ging Reiswitz auf Reisen. Von August bis Dezember 1922 hielt er sich in Süddeutschland und Österreich auf. Viel Zeit verbrachte er mit seiner Freundin Auguste Sabine Lepsius (1899–?) und deren Schwester Sibylle (1902–?), den Töchtern des Malerehepaars Reinhold (1856–1922) und Sabine Lepsius (1864–1942). Im Salon der Lepsius’ verkehrten unter anderem der Soziologe Georg Simmel (1858–1918)136 und der Schriftsteller Stefan George (1868–1933). Die Erstausgaben seiner Werke durfte Reiswitz unter den „Bücherschätzen“ der Lepsius’ bewundern.137

Auf weitere Bücher traf er in der Bibliothek von Schloss Zdechovice in Böhmen, wo Reiswitz im August 1923 Hannah von Mettal (1884–1966), Freundin der Familie und Übersetzerin der Werke des irischen Autors James Joyce (1882–1941), einen mehrtätigen Besuch abstattete.138 Für die Reise in die Tschechoslowakei, die ihn auch nach Prag führte, hatte er sich eigens am 28.07.23 einen Reisepass ausstellen lassen. Auf Seite 11 des gegen eine Gebühr von 300 Mark ausgehändigten Dokuments befindet sich ein mit dem Datum des 25.08.1924 versehener Stempeleindruck des Kommissars der Eisenbahnpolizei von Maribor, welcher die erste Einreise von Reiswitz in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bezeugt. Sein am 06.08.1924 von der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin ausgestelltes Visum war bis zum 19.10.1924 gültig. Anders als die Tschechoslowakeireise im Jahr zuvor sollte die Jugoslawienfahrt einen Wendepunkt in seinem bis dahin eher unsteten Bohèmeleben bedeuten.

Reiswitz’ Sommerreise begann am 10.08.24 von Berlin aus. Einen Tag vorher hatte er eine zweihundert Seiten starke „hinreißende“ Reisebeschreibung über Dalmatien gekauft, die er mit großem Interesse zu lesen begann.139 Ebenso traf er sich an jenem Tag noch mit seinem Freund Kurt Sternberg (1899–?)140. In seinem Tagebuch schrieb er unter dem 10.08.24 über eine Reise, in die er „hineinwalle mit ganz erfüllter Seele.“

Von Berlin aus ging es zunächst mit dem D-Zug durch das Saaletal und den Thüringer Wald nach Nürnberg. Dort blieb er zwei Tage im Hotel „Roter Hahn“ in der Königstraße. Nürnberg verließ er dann mit einem Personenzug und fuhr acht Stunden durch die Fränkische Schweiz und über Regensburg an der Donau entlang nach Passau, wo er eine weitere Nacht verbrachte. Von Passau aus ging es nach Linz. Dort schiffte er sich flussabwärts ein und machte den nächsten Halt in Spitz an der Donau, nun bereits in Österreich angelangt. Hier nutzte er die Gelegenheit für eine 20km-Wanderung donauabwärts nach Krems. Danach reiste er weiter nach Wien. Er residierte im Zimmer 406 des Hotel Bristol in der Kärntner Straße und war von der Stadt sehr angetan. Er schätzte die großzügige Anlage der Stadt, die im Vergleich mit Berlin mindestens ein Stockwerk höheren Gebäude, und es fiel ihm auch auf, dass viel mehr Autoverkehr herrschte. Mehrere Tage verlebte er in Wien (20.08–26.08.24), während derer er u.a die Schlösser Belvedere und Schönbrunn besichtigte, aber auch einen Heurigenwirt auf dem Kahlenberg aufsuchte. Auch die Hofburg, den Stephansdom – gegen den die Münchener Frauenkirche seiner Ansicht nach in wenig günstigem Licht erschien – und den Prater besichtigte er mit Begeisterung. Dort mißfiel ihm aber – vielleicht in Erinnerung an die Tage des Spartakusaufstandes in Berlin – die verstärkte Anwesenheit von Angehörigen der Unterschicht: „Vielleicht, dass es vor der Revolution anders war, … jedenfalls waren genau dieselben Proletarier wie bei uns etwa ‚Unter den Zelten‘141 zu sehen u. wenig Wiener“. Er schob aber dann ironisch im selben Brief nach, dass dieser negative Eindruck vielleicht aber auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass ihm seine zu engen Schuhe Schmerzen bereiteten.

 

Seine Abreise aus Wien verzögerte sich etwas, weil ihm das Portemonnaie mit „sechs Pfennigen“ und die Kofferschlüssel gestohlen worden waren. Weiter ging es am 26.08. um 8 Uhr morgens mit dem Zug nach Agram, welches er lediglich „sehr interessant“ fand, obwohl die Fahrt dorthin mit der Eisenbahn „herrlich“ war, während derer er die Bekanntschaft eines „Schankwirtes“ aus Esseg machte, eine „Mischung von Jude, Ungar, Serbe“,142 welcher ihm das Hotel „Imperial“ empfahl, anstelle des bereits gebuchten „Palace“. Von Agram aus reiste er am nächsten Tag über Slawonski Brod, wo eine weitere Übernachtung im Hotel „Central“ anstand, in deren Vorfeld er „bei guter Musik und bei gutem Bier“ sein Abendessen einnahm.143 Von Brod aus brach er am 28.08. um früh morgens auf, löste ein Billet II. Klasse und kam nach zwölf Stunden Eisenbahnfahrt in Sarajevo an.

Aus der bosnischen Landeshauptstadt schickte Reiswitz dann mit Poststempel vom 06.09. einen mehrseitigen, mit Bleistift handgeschriebenen Brief, dem er noch zwei Postkarten mit Ansichten aus Sarajevo beilegte, an das „Fräulein Fresenius“, die er mit „Mein geliebtes Herze Kindel“ anredete, wohnhaft in der Burgstr. 9 in Auerbach (Bensheim, Hessen). Darin schilderte er ausführlich seine Eindrücke der ersten vier Tage in Sarajevo.

Vom 02. bis 05.09. war er jeweils für mehrere Stunden allein in der Stadt unterwegs, besuchte das Landesmuseum [Zemaljski Muzej], eine „türkische Kawana“ [Kafana; Kaffeehaus, Gastwirtschaft] und hatte am 05.09. schon Sprachunterricht: seine erste „kroatisch-serbisch-slawische Stunde“. Er war beeindruckt von der geographischen Lage Sarajevos, umrahmt von „1000–1700 m hohen Bergen“, die Stadt „terassenförmig an ihren Abhängen heraufkletternd“. Er erwähnte die „weißglühende“ Hitze und beschrieb die ethnische Vielfalt: „Bosniaken-Serben; Kroaten; Serben; Montenegriner; Herzegowiner; Kurfürstendammfiguren, Spaniolen, Derwische, Türkenfrauen, Slawenfrauen, Türkenmädchen, Slawenmädchen, Kurfürstendammfrauen, Kurfürstendammmädchen. Alle anders gekleidet, nie geschmacklos.“ Mit dem Kurfürstendammepithet meinte Reiswitz vermutlich, dass die so bezeichneten Frauen der von ihm nicht besonders geschätzten Mittel- oder Oberschicht nach westlich-hauptstädtischem Vorbild gekleidet waren.

Als begeistertem Gartenfreund144, der selbst ein Grundstück besaß in Bornim bei Potsdam, wo seit 1912 der ihm gut persönlich bekannte Gärtner und Staudenzüchter Karl Foerster (1874–1970) wirkte, stach ihm besonders die Geomorphologie und Vegetation ins Auge. Detailgetreu zeichnete er in dem Brief die Beschaffenheit des Kalksteins nach, „eine Masse, die sich rasch zersetzt, weiß glüht, braune Flecken bekommt, braun wird und zerfällt. Eine Masse, welche die groteskesten Formen annimmt. Eine Masse, die Schlupfwinkel bietet für alle Möglichkeiten der Vegetation (siehe Försters Steingarten, der aus nichts anderem besteht wie aus Kalkstein).“

Dann wandte er sich den in dieser Landschaft um Sarajevo herum wirtschaftenden Menschen und Tieren zu: „Auf dieser eingekrallten [sic] Kalk-Vegetation weiden unzählige Schafherden mit Hirten, die weite monotone Melodien auf seltsamen Holzflöten spielen. Vollkommene Urvölker in Sitten u. in ihrem Verhältnis zu ihrer Kulturmöglichkeit, die mich um Cigaretten anbetteln u. mit dem weithin schallenden Ruf danken ‚Heil Dir, Du großmütiger Spender‘, in ihrer Sprache“.

In seiner folgenden Beschreibung verließ er dann weiter die eigentliche Stadt: „Wenn Du auf einer Höhe stehst, so sieht das Land ringsum mit seinen Zwerghölzern aus wie eine Relief-Karte aus Gips, so übersichtlich. Die Flußläufe glänzen richtig ‚silbern‘ u. strahlend weiße Linien durchschneiden das Land als Wege.“

Schließlich aber kehrte er imaginär nach Sarajevo zurück. Er erwähnte die an den Berghängen anzutreffenden zahlreichen „Kawanen“, mit „überwältigender Aussicht“, wo „Citronenwasser“ und Kaffee in „in ganz kleinen Tassen“ ausgeschenkt werde, welcher zuvor in „kleinen offenen kupfernen Kannen zubereitet wurde.“ Zur besseren Veranschaulichung für Fräulein Fresenius fügte Reiswitz an dieser Stelle die Skizze eines typisch bosnischen Kaffeekännchens bei, einer „džezva“, mit dem Zusatz „so !“. Gereicht werde der Kaffee ohne Milch und mit viel Zucker, dazu „raucht man zahllose Cigaretten“. Er kam zu dem Schluss, dass „Nikotin und Koffein so stark sind, dass sie sich gegenseitig in Ihrer Wirkung aufheben“.

Es folgte dann eine vergleichende Übersicht über die wichtigsten für Besucher relevanten Preise, welche Kaffee, Melonen, Eier, Butter, Wein, eine Straßenbahnfahrkarte, sowie Enten und Gänse umfassten.

Als nächstes ging Reiswitz auf die Straßen und Häuser in Sarajevo ein. Besonders die Straßen an den Berghängen zeichneten sich durch „Romantik aber auch Schönheit“ aus, vermutlich wegen ihrer abenteuerlichen Führung. Ansonsten aber verglich er seinen Spaziergang mit dem Gang durch eine „einzige große Festung“, da alle Fenster zur Straße hin vergittert seien und zudem keine baulichen Zwischenräume bestünden, sodass man an „Festungsmauern mit stets verschlossenen Türen“ vorbeigehe. Der Straßenbelag bestehe lediglich aus „brauner Erde“, mit Kalksteinen angereichert, „so daß es zum Anfang eine Marter“ sei, sich zu Fuß fortzubewegen.

Die Häuser würden alljährlich weiß gekalkt, nur gelegentlich in „zartem rosa, blau, braun, gelb od. grün“. Reiswitz fertigte dann für seine Freundin Fresenius zwei weitere Skizzen an, um die unterschiedliche Dachform der türkischen und slawischen Häuser zu veranschaulichen. Aus den Skizzen ging hervor, dass die türkischen Dächer flacher und die slawischen deutlich steiler waren.

Steil seien auch die Straßen, deren Anstieg er mit einer weiteren Skizze dokumentierte, auf welchen aber in Ritzen und Fugen überall üppige Vegetation gedeihe.

Nun folgten Bemerkungen über die verschleierten „Türkenfrauen“ und die lange Kopftücher tragenden slawischen Mädchen, „die wir aus den Büchern kennen“. Die Länge der Kopftücher wurde durch eine weitere Bleistiftzeichnung im Brief veranschaulicht. Zahllose Kinder und mit Holz beladene Maultiere komplettierten das „Kommen und Gehen“ auf den Straßen der Stadt.

Gelinge es einem, einen Blick hinter eine geöffnete Tür zu werfen, so sähe man „durch den sekundenlang geöffneten Spalt „stille verwunschene Höfe mit Blumen u. Brunnen u. Frauen, die ängstlich die Schleier fallen lassen.“

Reiswitz beendete dann die Beschreibung seiner Eindrücke der ersten Tage in Sarajevo mit dem Versprechen, dass er im nächsten Brief mehr über die „Türken und Serben“ berichten würde. Ein wenig besorgt fügte er hinzu: „Hoffentlich ist dir das détail [sic] nicht langweilig“.

In den letzen Zeilen des Briefes ging Reiswitz auf seine Gastgeberin in Sarajevo ein. Er wohnte in einem Zimmer des Gebäudes, in welchem unweit vom Fluss Miljacka das deutsche Konsulat untergebracht war. Dies wurde ihm ermöglicht durch seine zehn Jahre ältere Verwandte, Mathilda „Tilla“ Bethusy-Huc, geb. von Zastrow, die Ehefrau des deutschen Konsuls Eugen Graf von Bethusy-Huc.145 Die Konsulsfamilie lebte mit ihren beiden Söhnen Karl-August (1909–?), Heinrich (1911–?) und der Tochter Maria-Elisabeth (1917–?) in einer benachbarten Villa.

Am 30.08.23 hatte Tilla Reiswitz bereits ausdrücklich eingeladen. Doch im Moment hätten sie nur eine kleine Wohnung in Sarajevo, und das Fremdenzimmer des Konsulats sei durch den neuen Kanzler belegt. Reiswitz könne aber ab Oktober kommen, alles hinge nur von seinem „persönlichen Mut“ ab. Man solle sich in Sarajevo nicht von den „hiesigen Spießern“ der deutschen Gemeinde verleiten lassen, die glaubten, man müsse in der bosnischen Landeshauptstadt ein Großstadtleben wie in Berlin führen. Sie versuchte Reiswitz den Besuch schmackhaft zu machen und schrieb in einem undatierten Brief aus dem Frühsommer 1924: „Das Land hat schon Charm [sic], aber er erschliesst sich schwer, wenigstens ging es mir so“. Jetzt habe sie aber nach einer dreitägigen Landtour, als „Zigeuner“, durch „wunderbare Gegenden“, angefangen das Land zu lieben. Es gebe dennoch „sehr viele Extreme“. Sie erwähnte auch den „Gleichmut der Orientalen“. Ihr Urteil über die örtliche Bevölkerung fiel aber insgesamt positiv aus: „An Menschen finde ich hier doch recht viel nettes, einen Katholiken, der Muhamedaner wurde, einen Muhamedaner, der Katholik wurde, die Kustoden des Museums, die das Land in und auswendig kennen“. Endlich, so lässt sie ihren jüngeren Verwandten wissen, habe die Familie auch ein adäquates Haus gefunden, sodass Reiswitz sofort aufbrechen könne.

In einem Brief vom 29.06.24 offerierte Tilla Reiswitz weitere politische und volkskundliche Anreize, Jugoslawien zu besuchen. Er solle die Mentalität der Südslawen kennenzulernen, „auf die wir in Deutschland ob kurz oder lang doch angewiesen sind“. Die Südslawen seien die „unkultiviertesten [von allen Slawen], und darum kann man sie am besten kennen lernen, weil die Unterschiede am meisten ins Auge fallen und die ganzen Charakterzüge sich am klarsten zeigen.“ Sie selbst wiederum war nun stark an Trachten interessiert: „Man kann hier bei den vielen Trachten unendlich viel Anregung haben und lernt Farben, Stoffe und vieles, was eben nur der primitive Mensch sieht, sehen; durch die Art wie er die Natur in seine Dienste stellt, und umarbeitet und braucht zur Anwendung. An den einfachsten Gebrauchsgegenständen lernt man die … Kunst-Natur-Gesetze.“ Aufschlussreich sind ihre Ausführungen über die Begehung des serbischen Nationalfeiertags, des Vidovdan, am 28. Juni, in Erinnerung an die Amselfeldschlacht 1389. Hier, so Tilla, offenbare sich die „Wesenfremdheit der Menschen“, sie sprach sogar von einer „Wesensfeindschaft“, weil zwar „öffentliche Feiern des Mordes [am österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28.06.14]“ verboten seien, aber „ganz geschickt“ als Turnerfest organisiert werden, „von dem Verein, der vor dem Kriege hier die serbische Sache propagierte“. Die Konsulsfamilie hatte eine offizielle Einladung erhalten und auch angenommen, aber Tilla sträubte sich innerlich dagegen: „Wir haben mitfeiern müssen, da es ja nur ein Schauturnen war, und haben mit gelächelt. Lieber hätte ich geheult“.

Zwischen den Zeilen dieser Aussage verbirgt sich Tillas politische Einstellung Jugoslawien gegenüber. Wie die meisten ihrer deutschen Landsleute hatte auch sie die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg nicht verkraftet und sah in Jugoslawien vornehmlich weiterhin den ehemaligen Feindstaat Serbien. An einer anderen Stelle in diesem Brief führte sie aus, dass sie sich Deutschland vorstelle wie eine „ausgepresste Citrone, an der erst jeder drückt, und die dann langsam vertrocknet“.

Einen Monat später, am 24.07.24, schrieb sie erneut an Reiswitz. Er hatte am 19.07.24 sein Kommen in einem „begeisterten Ja-Brief“146 fest zugesagt und nun bat sie ihn, bis spätestens 15.09. anzugelangen, weil bis dahin Bergtouren noch möglich seien. Zudem fände am 20.09. ein Wallfahrtsfest statt, an dem „tausende und mehr Leute in Nationaltracht“ teilnehmen, eine Aussage, die Tillas Interesse an der Nationalkleidung unterstreicht. Dass die Familie Bethusy-Huc viel Freude an Unternehmungen an der frischen Luft hatte, geht auch daraus hervor, dass sie ihm dringend empfahl, sein Fahrrad mitzubringen: „Wir radeln hier alle, zum Entsetzen der Einheimischen“. Dann äußerte sie sich erneut zur religiösen Toleranz in Sarajevo: „Wir vertragen uns hier nämlich konfessionell sehr gut und alle Leute gehen zu allen Heiligen“.

 

Um Reiswitz’ den Aufbau eines Bekanntenkreises zu ermöglichen, solle er sich Empfehlungen eines Verlags oder einer Zeitung besorgen, „um intellektuelle Kreise leichter kennenzulernen“. Am vorteilhaftesten sei es anzugeben, dass er „hier etwas zu studieren“ habe, „um den Serben zu schmeicheln.“ Im Moment sei es, so Tilla, allerdings zu heiß: In Mostar „tropfen die Bleidächer“.

Auch in seinem Tagebuch beschrieb Reiswitz seine ersten Tage in Sarajevo. Am Tag nach seiner Ankunft erschien Reiswitz das Wetter zunächst „grau.“ Er war in einem Zimmer im deutschen Konsulatsgebäude untergebracht und erkundete direkt am Morgen des 29.08. auf eigene Faust die Stadt, gestand aber seinem Tagebuch, dass er sich ein wenig fürchtete, da er ja die Sprache nicht beherrschte. Tilla holte ihn mittags ab und beide streunten bergauf durch den muslimischen Teil der Stadt. Der orientalische Charakter wirkte auf ihn rätselhaft, aber faszinierend: „Ich sehe, wie meine große Reise vom schönen zum immer schöneren ging und nun ins seltene, zauberhafte übergeht.“ Auch am Folgetag, dem 30.08., war er gebannt von den Eindrücken des Orients. Er besichtigte mit Tilla die Baščaršija, das Geschäftsviertel im Zentrum der Stadt: „So etwas gibt es wirklich!“ Am 31.08. bestieg er zusammen mit den beiden Söhnen Tillas und deren Privatlehrer den 1.627 Meter hohen Berg Trebević südöstlich der Stadt. Einen Tag später besuchte er zum ersten Mal das Landesmuseum und begann dann über die nächsten Tage hinweg mit der von ihm so bezeichneten „Eroberung“ der einzelnen Stadtviertel, teilweise allein, manchmal in Begleitung von Tilla oder des Konsulatsdieners Purgstaller. Am 04.09. besichtigte er den jüdischen Friedhof. Tags darauf war er wieder im Landesmuseum und hatte seine erste Unterrichtsstunde in der Landessprache bei dem Konsulatsbeschäftigten Šober. Zwei Tage später ging es mit dem Hauslehrer und den Bethusy-Huc-Söhnen im Auto über Ilidža und die Bosnaquelle auf den Berg Igman mit anschließender Übernachtung in Veliko Polje.

Die Hitze machte dann auch tatsächlich Reiswitz zu schaffen. Am 12.09. meldete er an Frl. Fresenius, dass es um zehn Uhr morgens bereits 45 Grad habe. Zudem habe er „keine Ruhe zum Schreiben“, da sein Zimmer im Konsulat „zu laut“ sei. Es stinke nach „Zwiebeln, Knoblauch und Hammelfett“ und unmittelbar darunter wohne ein „Böttcher, der andauernd hämmert“. Auch im Hause Bethusy-Huc könne er nicht schreiben, da dort die Kinder „herrschen mit Geräusch“. Doch er trotzte diesen Widrigkeiten der Umstände. Am 08., 09. und 10.09. machte er zwar nur drei- bis vierstündige Exkursionen wegen der Hitze. Doch am 11.09. schwang er sich auf sein mitgebrachtes Rad und fuhr nach Pažarić, hin- und zurück, eine Strecke von insgesamt ca. 60 km.

Es war in ihm nun der Entschluss gereift, seine berufliche Zukunft, die ja nach Abschluss der Promotion 1922 noch völlig ungeklärt war, ebenfalls im auswärtigen Dienst zu finden: „Die Diplomatie ist für mich von der Absicht zum Willen geworden“. Er legte dar, dass „Gen“ – gemeint ist der Konsul Eugen Bethusy-Huc – eintausend Mark für seine Tätigkeit bekomme, und das in einer „relativ niedrigen Stellung“. Seine Dienstpflichten beanspruchten nicht mehr als drei Stunden täglich. Obwohl „Gen“ selber kein Vermögen habe, verfüge er in Sarajevo für seine Familie über einen Hauslehrer, eine Gouvernante und drei Dienstboten. Fräulein Fresenius möge diese vertraulichen Informationen aber für sich behalten, „vor allem nicht diesen“ – nicht weiter benannten – „Demokraten“ oder aber ihrer Mutter darüber berichten.

Aus den Tagebucheintragungen des Jahres 1924 von Reiswitz im Vorfeld der Reise erschließt sich dieser konkrete Berufsswunsch nicht eindeutig. Ein Paradigmenwechsel, was sein Forschungsinteresse anbelangt, ist allerdings erkennbar in einem Eintrag vom 02.04.24: „Ich befand mich in einem seltenen Rausch. Es gibt für mich nichts erschütternderes als das Schauen des Zusammenprallens der Kulturen. Heute wurde mir West-Asien klar! Die Assyrisch-Babylonische; die Medisch-Persische; die Arabische, die Osmanische u. die Indische Kultur. Wie wenig wissen wir doch! Jenes Spiel der Kultur-Giganten! Wie wichtig ist es. Wie unerhört packt mich das Schauspiel ihrer Thesis-Antithesis u. Synthesis. Heute mehr denn je wurde ich in die geistige Lage versetzt wieder das Auswärtige Amt zu besuchen. Ich war in einem Rausch, der fast unerträglich schön war. Stunden hindurch saß ich im Ledersessel u. rauchte u. sah die großen Kulturen u. ihre Zusammenhänge.“

Am 07.04. tat er kund, dass er „jetzt energisch mit … der Kultur beginnen will.“ Sein Lesepensum in der Folgezeit gibt einen gewissen Aufschluss über seine neu entfachten Interessen. So erwähnte er am 14. und 15.04. die Lektüre von „Die Kunst der alten Perser“, wobei es sich wahrscheinlich um das 1922 erschienene „Die Kunst des alten Persien“ des Orientkenners Friedrich Sarre (1865–1945) handelte. Zum anderen erwähnte er untern anderem am 12.06. und 21.06. „Spengler“ als Lesestoff, am 24.06. gab er sogar an, er habe „den ganzen Tag“ damit verbracht „Spengler“ zu lesen, womit er ohne Zweifel „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler meinte, dessen erster Band 1918 erschienen war. Doch waren die vom ihm im Vorfeld der ersten Jugoslawienreise rezipierten Werke, soweit dies dem Tagebuch entnehmbar ist, nicht nur kunst- und kulturwissenschaftliche Fachliteratur. Am 09. und 10.07. notierte er „Tiere, Menschen, Götter“, die in demselben Jahr frisch erschienenen, hinsichtlich ihrer Authentizität umstrittenen Erinnerungen des Schriftstellers und Forschungsreisenden Ferdynand Antoni Ossendowskis (1876–1945) über seine Zeit an der Seite des sogenannten „weißen Barons“, Roman von Ungern-Sternberg, der 1921 kurzzeitig über die Mongolei herrschte.

Reiswitz’ Hinwendung zum „Osten“ ist auch erkennbar im Tagebucheintrag vom 21.06.24. Dort schilderte er seinen Besuch einer Lehrveranstaltung von Otto Hoetzsch (1876–1946) an der Berliner Universität: „Es wimmelte von Politikern, Candidaten und auswärtigen Schmarotzern“. Er war von Hoetzsch positiv beeindruckt und versprach sich „viel von diesem Seminar“ des Osteuropahistorikers. Ominös fügte er hinzu: „Hoffentlich ist es keine Enttäuschung“. Am 17.07. vermerkte er einen weiteren Besuch im Osteuropäischen Seminar, was auf sein fortgesetztes Interesse schließen lässt.

Während seine Lektüre und die Besuche im Osteuropäischen Seminar noch keine Schlüsse hinsichtlich eines konkreten Berufswunsches zulassen, so verdichteten sich die Anzeichen am 31.07., als Reiswitz seinem Tagebuch anvertraute, dass er an diesem Tag im Auswärtigen Amt war, wo er mit den Legationsräten Dr. Herbert Freiherr von Richthofen (1879–1952) und Otto von Erdmannsdorff (1888–1978) sprach.147 Es schien sich um eine Art Vorstellungsgespräch gehandelt zu haben. Erdmansdorff sei „höflich“ gewesen, habe aber auch bemerkt, dass Reiswitz „sehr jung“ und ohne „dunklen Anzug“ sei und forderte ihn dazu auf, sich nach Abschluss der Jugoslawienreise wieder bei ihm zu melden – vermutlich im Zusammenhang mit dem Bestreben Reiswitz’, eine diplomatische Stelle zu übernehmen, um in die Fußstapfen seines Verwandten zu treten. Einem Brief seines Doktorvaters Ernst Troeltsch vom 29.12.25 ist die Information zu entnehmen, dass Reiswitz wohl eine Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte, da Troeltsch Erkundigungen im Auswärtigen Amt eingezogen hatte, ob Reiswitz einen zweiten Versuch starten könne. Dies sei wohl möglich, doch Reiswitz müsse ein gesondertes Gesuch stellen und eine Bescheinigung beibringen, dass sein „Versagen“ in der Englisch- und Französischprüfung auf eine kurzzeitige – wohl kriegsbedingte – „geistige Indisposition“ zurückzuführen sei.148