Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Methodik

Die vorliegende Untersuchung geht im Wesentlichen biographisch vor. Dieses Genre wird – so zumindest urteilt Ernst Peter Fischer – in Deutschland vernachlässigt: „Wissenschaftshistoriker lassen hierzulande lieber ihre Finger von Würdigungen in Gestalt von Lebensbeschreibungen.“80 Sie versteht sich aber nicht als klassische Biographie eines „großen“ Wissenschaftlers. Reiswitz veröffentlichte zeit seines Lebens lediglich eine Monographie und eine sehr überschaubare Zahl kleinerer Schriften. Als Hochschulprofessor wirkte er in München nur vierzehn Jahre. Auch wird das Leben von Reiswitz weder in allen Einzelheiten noch stringent chronologisch rekonstruiert. So kommt es kapitelbezogen zu thematisch bedingten, zeitlichen Überlappungen.

Doch das biographische Genre bietet durchaus die Gelegenheit, „eklektizistisch“ zu arbeiten: Eine Biographie „vereint ein Sammelsurium von Ansätzen, Methoden, Erkenntnisinteressen, ohne ein einziges ausschließlich und durchgängig zu verfolgen.“81 Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist daraufhin ausgerichtet, anhand der Person Reiswitz die Eigenart des deutschen Kunstschutzes in Serbien im Zweiten Weltkrieg zu verdeutlichen. Dabei versucht, ähnlich wie Abel, auch diese Arbeit „ein Leben, bzw. repräsentative Abschnitte hieraus, innerhalb der Geschichte zu präsentieren“.82 Viele Aspekte der Vita von Reiswitz werden in diesem Zusammenhang ausgeklammert, wie beispielsweise sein Familienleben, beziehungsweise nur gestreift, wie seine Jugend- und Militärzeit oder die Jahre nach 1945. Es wird der Versuch unternommen, Reiswitz’ „äußeren Lebenslauf“, die auf ihn „einwirkenden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, Prozesse und Ereignisse“ in Verbindung zu seinem „inneren Lebenslauf“83 zu setzen. Reiswitz’ Übernahme des Kunstschutzes der Wehrmacht in Serbien im Jahre 1941 stellt in diesem Zusammenhang sicherlich den Zeitpunkt dar, den Pyta unter Hinweis auf Hähner als „Krise“ beschreibt, eine „Zuspitzung“, in der sich „Individuen neuartige Handlungsoperationen“ eröffnen, in denen „das personale Element in geradezu exemplarischer Weise zum Tragen“84 kommt. Für Reiswitz ergab sich bezogen auf den Kunstschutz ein „biographischer Möglichkeitsraum von bislang ungeahnter Weite“.85

Bei aller Fokussierung auf die Genese des Kunstschutzes ist die vorliegende Arbeit aber auch keine bloße Fallstudie über diesen, da sie versucht, sich seiner spezifischen Vorgeschichte und Praxis, soweit wie methodisch möglich, aus dem Blickwinkel des Protagonisten zu nähern, ohne dabei allerdings die unabdingbare „gewisse Distanz zur biographierten Person“86 zu verlieren.

Ein Ansatz, der für die vorliegende Arbeit in Erwägung gezogen wurde, ist die Netzwerktheorie.87 Allerdings reicht die Quellenlage für eine Analyse nach Düring quantitativ nicht aus.

Aufbau der Arbeit

Der Kunstschutz nimmt entsprechend der Schwerpunktsetzung den relativ breitesten Raum der Darstellung ein. Vier von insgesamt 63 Jahren des Lebens von Reiswitz beanspruchen darstellerisch rund zwei Fünftel des Textes. Doch Reiswitz legte schon im Anschluss an seine erste Jugoslawienreise 1924 konzeptionell den Grundstein für seine spätere Arbeit als Kunstschutzbeauftragter und arbeitete in gewisser Weise seither gezielt auf diese Beschäftigung hin.

Von daher wird die Zeit bis 1924 nur knapp referiert, unter besonderer Berücksichtigung von Reiswitz’ Sozialisation als Soldat und junger Intellektueller ohne parteipolitische Bindungen (Kapitel 1.1.). Die folgenden Kapitel (1.2.–2.1.) befassen sich mit der Ausformung seiner besonderen Zuneigung zu Südslawien, einer Leidenschaft, die, von einer persönlichen Liebesbeziehung ausgehend, zu einem wissenschaftlichen Programm wurde. Dieses Programm, das Reiswitz als seine drei „Einbruchstellen“ bezeichnete, wird in Kapitel 2.2. ausgefächert. Die beiden Folgekapitel (2.3.–3.1.) beinhalten eine vertiefte Untersuchung von Reiswitz’ Jugoslawienreisen in den Jahren 1928 und 1929, die seiner Suche nach wissenschaftlichen und politischen Ansprechpartnern dienten. Zudem widmete er sich ersten praktischen Umsetzungsversuchen seines an den drei „Einbruchstellen“ orientierten Programms einer deutsch-jugoslawischen Annäherung vermittels bilateralen Kulturaustausches. In Kapitel 3.2. wird am Beispiel der von Reiswitz unterstützten serbischen Gesellschaft zum Schutz der Altertümer ein exemplarischer Einblick gegeben in die potentielle Tragweite einer Implementierung seines Programms. Kapitel 3.3. und 3.4. dokumentieren im Kontext der multilateralen Kulturbeziehungen die von Reiswitz initiierten deutsch-jugoslawischen archäologischen Ausgrabungen am Ohridsee, die einerseits Ausfluss seiner persönlichen Forschungsinteressen waren, andererseits aber auch einen Schritt hin zum von Reiswitz erstrebten rapprochement der ehemaligen Kriegsgegner darstellten.

Die Kapitel 4.1–4.3. richten das Augenmerk auf Reiswitz’ akademischen Werdegang im nationalsozialistischen Deutschland und die damit verbundenen wissenschaftlichen, politischen und finanziellen Kalamitäten. Kapitel 4.4. widmet sich einem exemplarischen Exkurs, um am Beispiel seiner Beziehung zu dem Historiker Wilhelm Treue deutlich zu machen, mit welchen Strategien Reiswitz seiner politischen und akademischen Isolierung begegnete, aus der er durch seine Habilitationsschrift, deren Rezeption in Kapitel 4.5. thematisiert wird, auszubrechen versuchte. Nachdem Reiswitz durch die Publikation seiner Habilitationsschrift auf sich aufmerksam gemacht hatte, versuchte er dieses akademische Kapital in politisches umzumünzen, stets mit Blick auf die deutsch-jugoslawische Annäherung. Diesem Unterfangen ist Kapitel 5. gewidmet.

Insgesamt sind die ersten fünf Hauptkapitel dieser Arbeit von ihrer Grundstruktur her vornehmlich chronologisch ausgerichtet, obgleich die jeweilige thematische Schwerpunktsetzung es auch gelegentich erfordert, dass Rückblenden und zeitliche Vorgriffe erfolgen.

Kapitel 6.1.1. beschäftigt sich mit Reiswitz’ schwieriger Lage zu Beginn des Jahres 1941, als der Kriegsausbruch mit Jugoslawien zunächst sein bisheriges wissenschaftliches Lebenswerk zum Einsturz zu bringen drohte, ihm dann aber in nahezu paradoxer Weise gerade durch die Zerstörung Jugoslawiens die Möglichkeit eröffnet wurde, seine jahrelangen Planungen in die Tat umzusetzen.

Die Kunstschutzarbeit in Serbien selbst wird auf zwei Ebenen analysiert. Zunächst geht es in Kapitel 6.1.2. um die Hinüberrettung seiner persönlichen Netzwerkbildung in Jugoslawien aus dem Vorkriegsjahren in die bittere Realität eines militärischen Kunstschutzes in Restserbien unter deutscher Besatzung. In Kapitel 6.1.3. tritt das Programmatische anstelle des Persönlichen in den Vordergrund, indem Reiswitz’ Versuch der Umsetzung seines idiosynkratischen Denkmalschutzplanes dargestellt wird.

Das Kapitel 6.2. ist dem wissenschaftlich innovativsten, aber gleichzeitig auch politisch fragwürdigsten Teil der Arbeit von Reiswitz in Serbien gewidmet, der von ihm in die Wege geleiteten Zusammenarbeit mit der SS-Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe“. Das Zustandekommen dieser Allianz wird in Kapitel 6.2.1. beschrieben, in Kapitel 6.2.2. der politische Kontext erhellt und schließlich in Kapitel 6.2.3. die Spur des Ahnenerbe-Geldes verfolgt.

In Kapitel 6.3.1. geht es um das „Routinegeschäft“ des Kunstschutzes unter Reiswitz’ Führung, und in Kapitel 6.3.2. wird der über den reinen Kunstschutz sukzessive erweiterte Aufgabenbereich von Reiswitz eingeführt. Schließlich wird in Kapitel 6.3.3. die Abwicklung des Kunstschutzes erhellt und kurz auf die Nachkriegskarriere von Reiswitz eingegangen.

1. Werdegang zum Wissenschaftler
1.1. Frühe akademische und politische Prägungen

Am 18. Januar 1912, einem Donnerstag, als die Berliner bei klirrender Kälte den anstehenden Stichwahlen zum 13. Reichstag entgegensahen, saßen drei Jugendliche in einer geräumigen Wohnung der Carmerstraße 10 in Charlottenburg.88 Der achtzehnjährige Rudolf, genannt Rolf, und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Johann Albrecht, genannt Hans oder Alli/Ally, sowie die schon neunzehnjährige Schwester, Elisabeth. Die Mutter der drei, die vierzigjährige Maria Theresia Baronin von Reiswitz, geborene Kracker von Schwarzenfeld, befand sich zu Besuch bei ihrer erkrankten Schwester in Wetzlar und hatte Berlin tags zuvor verlassen. Ihr Ehemann, der 1863 auf dem Stammsitz der Familie im schlesischen Wendrin geborene Rittmeister a.D. des preußischen Leibkürassierregiments, Albrecht von Reiswitz, war daheim geblieben. Doch ohne die Mutter lief es nicht so richtig. Am Morgen hatten die Kinder bereits verschlafen und wachten erst um 7 Uhr auf, da der Wecker nicht richtig klingelte, sodass die beiden Jungen zu spät zum Unterricht in das 1895 gegründete, altsprachliche Wilmersdorfer Bismarck-Gymnasium kamen. Rolf stand ein Jahr vor dem Abitur. Er beschloss, eine weitere Verspätung zu vermeiden und stellte den Wecker übereifrig auf 5 Uhr. Alli versicherte seiner verreisten Mutter, dass es „schöhn“ [sic] gewesen sei in der Schule und fügte seinem handgeschriebenen Brief, versehen mit dem eingeprägten Familienwappen, stolz Folgendes hinzu: „Rolf treibt mit mir sehr liebevoll ‚La petite chèvre de M. Seguin‘ und wir ochsen brüderlich miteinander.“ Währenddessen besorgte der Vater bei „Sarotti“ süße Geburtstagsgeschenke.89

 

Die Ziege des Monsieur Seguin spielt die Hauptrolle in einer 1869 erstveröffentlichten Geschichte von Alphonse Daudet (1840–1897) und wird im weiteren Verlauf der Arbeit als Tropus verwendet werden. Blanquette flüchtet aus ihrem sicheren Stall und begibt sich auf Abenteuersuche in die Berge. Dort trifft sie auf eine Herde Gemsen, mit denen sie sich anfreundet, mit einem Böcklein sogar romantisch anbändelt. Als es Abend wird, ruft der besorgte Monsieur Seguin Blanquette, sie solle doch in den Stall zurückkommen. Doch Blanquette hört nicht auf ihn. Sie glaubt, den Gefahren der Nacht gewachsen zu sein und sich alleine gegen den bösen Wolf wehren zu könnnen. Doch da irrt sie. Sie hält ihn zwar lange hin mit ihren kleinen Hörnern, aber am Ende, kurz vor Tagesanbruch, vermag sie sich nicht mehr zu widersetzen: „Le loup se jeta sur la petite chèvre et la mangea.“90 Ob der kleine Alli in späteren Jahren die Moral der Geschichte, sich nicht ohne Not mit den überlegenen Kräften des Bösen auseinanderzusetzen, beherzigen würde?

Zweieinhalb Jahre nach der gemeinsamen Französischlektion trennten sich die Wege der Brüder Reiswitz. Fünf Jahre lang hatten Alli und Rolf, der am 30.11.1893 in Breslau geboren worden war, mit den Eltern in der Schweiz, am Luganer See, gewohnt. Dort war Alli am 08.07.1899 geboren worden. Im Jahre 1904 zog die Familie nach Berlin um. Ab dem Herbst 1909 besuchte Alli dort das Bismarck-Gymnasium. Für das Winterhalbjahr 1913/1914 schickten seine Eltern ihn auf das Alumnat im schlesischen Niesky. Kurz vor Kriegsbeginn 1914 nahm Johann Albrecht vom 04.–09.07. in Dänemark an einem Sommerlager des der Wehrerziehung verpflichteten Jungdeutschland-Bundes teil.91 Nach dem Kriegsausbruch wurde der frischgebackene Abiturient Rolf Soldat und fiel als Leutnant des 1. Garde-Ulanenregiments am 02.05.15 an der Ostfront, nahe dem Dorf Staszkowka, am ersten Tag der Schlacht bei Gorlice-Tarnów. Unter dem Kommando des späteren Generalfeldmarschalls August von Mackensen (1849–1945), welcher viele Jahre später zu Reiswitz als Kunstschützer in Belgrad Kontakt aufnehmen sollte, unternahm hier in Galizien die neuaufgestellte 11. Armee einen erfolgreichen Vorstoß gegen russische Kräfte, der an sich nur geringe deutsche Verluste mit sich brachte: „In großer Zahl warfen die Russen ihre Waffen fort und ergaben sich.“92 Zwei Jahre später starb Allis Vater in der Charlottenburger Wohnung, am 09.04.17, zwei Tage, nachdem er zum dritten Mal einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch weder der Tod des Bruders noch der des Vaters, durch welchen seine Mutter und Schwester ohne erwachsenen männlichen Schutz zurückblieben, ließen Alli daran zweifen, dass auch er nun seinen Dienst am Vaterland zu verrichten hatte. Am 02.05.17 kommentierte er den Tod von Rolf mit den Worten: „Heute vor 2 Jahren fiel Rolf in Galizien! … Der glückliche!“

Alli selbst rückte am 30.07.17, drei Wochen nach seinem 18. Geburtstag, als Fahnenjunker in das 1. Garde-Feld-Artillerie-Regiment ein, kaserniert zunächst in Berlin. Am ersten Tag machte er sehr positive Erfahrungen. Er bekam eine nagelneue Ausstattung, das Exerzieren sei „ganz nett“, das Essen „schmeckte herrlich“ und die Unterhaltung auf der Stube drehte sich „unmoralisch über Weiber und Prostituierte“. Die Wanzen im Bett allerdings trübten den Eindruck.93 Zeit seines Lebens sollte Alli großes Interesse am weiblichen Geschlecht haben.94

Doch schnell verblasste das malerische Bild vom Soldatensein, und schon am 02.09.17 stellte der junge Reiswitz fest: „Gott, ich verdumme ja vollkommen! Es ist zum verrückt werden, jeder Tag an dem ich nichts lese, ist ein verlorener Tag.“95 Auch am Sinn des Krieges an sich begann er zu zweifeln: „Was wird das denn für ein Sieg, für den wir kämpfen? Wahnsinn! Verfluchter Wahnsinn einiger überspannter Köpfe ist der Krieg.“ Er stellte fest, dass Deutschland schuldlos, geleitet aber von „Idiotendiplomaten … gegen eine Welt von Feinden seinen Verzweiflungskampf führt“, und sah voraus, dass Deutschland „nie aufhören wird zu siegen“ – aber schließlich „dennoch verlieren wird“.

Nach Beendigung seiner Schießausbildung in der Artillerieschule Jüterbog südlich von Berlin ging es für ihn am 22.01.18 an die Westfront. Nahezu hymnisch beschwingt blickte er seiner Feuertaufe entgegen: „Jetzt fahre ich hinaus, die Frucht zu ernten, trenne mich von der Stätte, wo ich die Kunst suchte und fand. Mit Hilfe der göttlichen Kunst wurden mir meine Inlandssoldatenzeit, meine Lehrjahre leicht.“ Er schien die Absicht gehabt zu haben, den Krieg als Möglichkeit zu nutzen, „das Wesen [m]eines Volkes noch tiefer [zu] ergründen.“ Sein – bis dahin in lateinischer, danach in deutscher Schrift geführtes – „Tagebuch eines Fahnenjunkers“ beendete er mit den Worten: „Sonnenschein liegt über Berlin, ich öffne das Fenster – etwas wie Frühling liegt in der Luft!!!“96

Nach zwei Monaten in der Etappe an der Westfront nahm er ab dem 21.03.18 an der letzten deutschen Großoffensive teil, dem „Unternehmen Michael“. Am 01.04. äußerte er sich noch zuversichtlich. Die Versorgungslage sei wegen der vielen Hals über Kopf von der Zivilbevölkerung verlassenen Dörfer gut und „der Hauptstoß im Westen wird ja auch wohl noch glücken“.97 Einen Tag später fiel seiner Einheit ein englisches Proviantdepot in die Hände: „Wir … trinken den ganzen Tag köstlichen Burgunder … und Bordeaux“.98 Am 05.04. dann aber wurde er bei Hargicourt in der Nähe von St. Quentin schwer durch einen Kopfschuss verwundet. Mit einem Munitionszug erfolgte der Rücktransport in Richtung Heimat. Am 08.04. wurde er in Valenciennes operiert und blieb dort bis zum 19.04. Seit dem 13.04. bekam er bereits keine Schmerzmittel mehr, „es muss und wird auch so gehen“.99 Zwei Tage später beruhigte er seine Mutter, die innerhalb von drei Jahren mit Rolf erst den ältesten Sohn und dann den Ehemann verloren hatte, mit dem Hinweis darauf, dass er „genügend verpflegt“ werde, sogar „Kakao, Keks und andere Herrlichkeiten … in Hülle und Fülle“ bekomme. 100 Dann ging es weiter ins St.-Joseph-Hospital nach Köln-Kalk, wo er bis zu seiner Verlegung ins Berliner Elisabeth-Krankenhaus bis zum 07.05.18 rekonvaleszierte.

Zwar sollte Reiswitz den Rest seines Lebens unter verminderter Sehfähigkeit und häufigen Kopfschmerzen leiden, doch lässt sich der nun fast Neunzehnjährige nicht beirren und erhält schon im Oktober 1918 sein Reifezeugnis im Rahmen der Notabiturregelungen. Dem Tagebuch zufolge entließ ihn die Prüfungskommission mit den Worten: „Denken Sie nicht etwa, dass deswegen, weil wir Ihnen die Reife geben, wir etwa glauben, Sie seien schon reif.“ Selbstkritisch bestätigte Reiswitz im Tagebuch diese Beurteilung: „Bon, man hat es mir geschenkt, ich weiß auch, dass es wahnsinnige Faulheit und großes Glück waren, die mir 1 Jahr vor normaler Zeit das Examen verschafften, aber ich weiß auch ich habe … 6 Wochen unter beschwerendsten Umständen gearbeitet.“101

Für ein Mitglied des deutschen Adels war sein Leben bis zum Ende des Krieges nicht untypisch verlaufen. Ohne besonders wohlhabend zu sein, führte Reiswitz bis zum Ableben seines Vaters ein materiell recht sorgenfreies Leben. Sein Fronteinsatz war kurz, aber dennoch mit lebenslangen gesundheitlichen Beeinträchtigungen verknüpft.

Bevor er sich aber an der Berliner Universität einschreiben konnte, hatte der politische Umsturz in Deutschland begonnen, gefolgt von der deutschen Kapitulation am 11.11.1918. Bereits einen Monat vor Kriegsende zeigte sich Reiswitz desillusioniert, sowohl angesichts der militärischen Lage, als auch mit Blick auf die politischen Zustände in Deutschland: „Endlich, mich völlig kaputt machend, mich zum Wahnsinn bringend, ist die politische Lage. Man bedenke: Nach Westen standen wir auf siegreichem Vormarsch im Feindesland, im Osten haben wir den Feind völlig besiegt und Serbien, Montenegro, Rumänien besetzt. Überall sind wir Sieger. Und da verdirbt uns die veraltete Form unseres Regimes, an dessen Spitze ein völlig unfähiger Kopf als I.M. [Ihre Majestät] steht, unfähige Personen erzeugend alle Siege. Durch den von Wahnsinn grüßenden Größenwahn unseres Kaisers und die völlige Unfähigkeit unserer maßgebenden Politiker fällt Bulgarien ab, rüstet Rumänien von Neuem zum Kriege, fällt in Folge dessen die mazedonische, fällt die Palästinafront, können nicht völlig in unsere Hand gegebene Gegner sich wieder gegen uns rüsten, und beginnt unsere Westfront zu wanken.“ Er stellte sich die Frage: „Wie konnte das kommen?“ und hat auch eine Antwort parat: „Sehr einfach, durch unser veraltetes Regime. Also, fort mit ihm. Über Nacht bekommt Deutschland die parlamentarische Verfassung. Gut, dreimal gut. Es war die einzige noch mögliche Rettung. Hoffen wir, dass es nicht zu spät sei.“102

Zwei Tage zuvor, am 03.10.18, hatte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) den liberalen Prinzen Max von Baden (1867–1929) zum Reichskanzler ernannt, und es waren Sozialdemokraten ins Kabinett eingetreten. Für Reiswitz war das kaiserliche Regime und das damit verbundene Demokratiedefizit maßgebend verantwortlich für den Kriegsverlauf: „Hätten wir diese Verfassung gehabt, 10 Jahre vor dem Kriege, oder wenigstens zu Beginn dieses Krieges, so würde Friede wieder herrschen und überall wären wir Sieger geblieben.“103

Doch lediglich eine Verfassungsänderung konnte die deutsche Niederlage nun nicht mehr verhindern, da die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) dem Kabinett Max von Badens unterbreitete, von Erich Ludendorff (1865–1937), dem stellvertretenden Chef der dritten Obersten Heeresleitung und wahrem Herrscher über Deutschland, nicht akzeptiert wurden. Und folglich kam es, den Ausführungen des gerade frischgebackenen Abiturienten Reiswitz zufolge, „wie es kommen musste. In kaum einer Woche hat sich unser Schicksal erfüllt. Die Türkei fiel nach Bulgarien ab. Heute ist der Waffenstillstand unterzeichnet und die Türkei nebst Dardanellen ausgeliefert der Entente. Bulgarien ist Republik. Die Alliierten haben es besetzt. Serbien ist wiedererobert. Die Alliierten nähern sich der Save und Drina. Österreich ist von uns durch den Verrat des Kaisers Karl abgefallen, auseinandergefallen. Ungarn ist selbständig und wird die Alliierten durchmarschieren lassen. … Die Balkanfrage ist für uns verloren … Wilson zieht den Frieden hin, auf den wir bedingungslos einzugehen scheinen … Im Deutschen Reichstag fordert Polen Danzig, will Elsass-Lothringen an Frankreich. Von innen heraus droht die Anarchie durch Polen und Bolschewikis.“

Neben dem von Reiswitz bereits im Oktober ausgemachten Hauptschuldigen an der deutschen Niederlange, dem Kaiser und der dahinter stehenden monarchischen Verfassung, drohte Deutschland also nun auch Ungemach durch die Bestrebungen des polnischen Nationalismus einerseits und durch kommunistische Umsturzversuche andererseits. Doch auch Anfang November war für Reiswitz weiterhin klar, dass die Niederlage programmiert war: „Da nutzt keine Regierung etwas, und sei sie noch so tüchtig, hier rächt sich das ancien régime deren, deren Folge alle diese diplomatischen débacles waren und sind, die unsere Siege verdarben und verderben.“ Doch war er zu diesem Zeitpunkt keinesfalls Befürworter einer bedingungslosen Kapitulation: „[Der SPD-Politiker und Staatsminister ohne Portefeuille unter Max von Baden, Philipp] Scheidemann beantragt Abdankung des Kaisers. S.M. [Seine Majestät] … bei Nacht und Nebel ins Große Hauptquartier, nachdem er vorher dumm genug war, [am 26.10.18] Ludendorff zu entlassen“, welcher die Kriegshandlungen nun doch fortsetzen wollte.

 

Als die Novemberrevolution Berlin erreichte, verrichtete Reiswitz Dienst in der Kaserne seines Regiments in der Kruppstraße in Moabit, rund vier Kilometer zu Fuß von der Familienwohnung entfernt. Er war von den neuen politischen Gegebenheiten nicht angetan: „Tatsache aber ist seit Donnerstag, dass die Flotte die rote Fahne gehisst hat, dass Offiziere erschossen, erhängt und gefangen gesetzt wurden, dass Hamburg, Bremen, Hannover, Kiel, Swinemünde von Arbeiter- und Soldatenräten regiert werden, kurz an der Küste völlige Anarchie herrscht.“ Am 09.11.18 war er im Begriff, nachmittags nach Dienstschluss die Kaserne zu verlassen und sah sich folgender Situation gegenüber: „Da kamen sie schon jenseits der Straße in die Südkaserne. ‚Brüder, kein Blutvergießen‘ stand auf einem Plakat, das sie voraus trugen, und ich sah, wie die Südkasernenmannschaften die Kokarden abrissen, die Waffen ablieferten, usw. Sah’s von meinem Fenster aus. Jetzt schienen sie auch die Kruppstraße entlang zu kommen. Ich setzte meine freche blaue Offiziersmütze auf, zog mir meinen extra Mantel an, und kenntlich vor allen als preußischer Fähnrich im ersten Garde Feldartillerie Regiment, Albrecht Freiherr von Reiswitz und Kaderžin ging ich, den Revolver in der Tasche hinaus“. Doch alleine konnte der Fahnenjunker nichts gegen die Revolutionäre bewirken. Die Artillerieabteilung des Regiments weigerte sich, auf die Demonstranten zu schießen: „Die Tore wurden geöffnet. 14- und 16-jährigen Bengels in Zivil, Fahnenflüchtigen … mit roter Fahne übergaben die alten Krieger die bis … 4 Jahre im Feuer gestanden hatten, die sich das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse erworben hatten, die schwere Wunden, unmenschliche Strapazen ertragen hatten, man höre: 14- und 16-jährigen Bengels übergaben sie ihre Waffen!!! Ich sah Offiziere, sah Mannschaften, sah vor allem manchen gebräunten und weißbärtigen Wachtmeister Tränen, heiße Tränen vergießen, und ich selbst: ich habe geheult vor Wut!!“104

In dieser unübersichtlichen Situation hatte Reiswitz zwar kein Verständnis für die Revolution der Straße, jedoch durchaus Respekt vor den neuen Machthabern der Mehrheitssozialdemokratie, die es seines Dafürhaltens nach zumindest schafften, die kommunistische Bedrohung in Schach zu halten. Einen Tag später, am 10.11.18, kam er auf der Tauentzienstraße mit Offizierskameraden zusammen, von denen einer ihn galgenhumorig mit „Genosse Reiswitz“ ansprach. Für Reiswitz war in diesem Moment klar, dass „die Vernunft der Mehrheitssozialdemokratie, gestützt auf den sehr rechts stehenden Soldatenrat siegte und die völlige Anarchie“ bzw. der „Spartakus Wahnsinn“ verhindert wurde. Die Ebertregierung [Friedrich Ebert (1871–1925) stand seit dem 10.11.18 der Interimsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, vor] habe zwar den „schmählichsten Waffenstillstand“ unterzeichnet und auch die Bildung der Arbeiterund Soldatenräte, eine laut Reiswitz „bolschewistische Institution“, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Doch andererseits bescheinigte er Ebert und Scheidemann (1865–1939), den „Ursozialdemokraten“, dass sie für Deutschland „das beste“ wollten. Sein Verständnis für die SPD-Führer mündete aber keinesfalls darin, dass er sich selber als einen Sozialdemokraten sah. Nicht ohne Humor bekundete er: „Ich stehe auf Seiten der deutsch demokratischen Volkspartei. Ein Egoist auf Seiten der reinen Egoisten gegen die größten Egoisten.“ 105

Seine Antipathie gegenüber den linksradikalen Kräften zeigte sich dann besonders während des Spartakusaufstandes im Januar 1919 in Berlin. Am 12.01.19 schrieb er an seine Mutter: „[Karl] Liebknecht ist nach der Schweiz durchgebrannt. Radek, Ledebour106, Rosa Luxemburg sind verhaftet. Schade, dass sie die Kerle nicht gleich an die Wand stellen, sondern verhaften. 400 Tote sind bereits überschritten und über 1000 Verwundete gezählt, und das alles so nahe von einem.“107 Bei der angeblichen Flucht von Liebknecht (1871–1919) in die Schweiz handelte es sich um ein in der Presse kolportiertes Gerücht, ebenso wie bei der Verhaftung von Rosa Luxemburg (1871–1919). Liebknecht und Luxemburg wurden dann allerdings tatsächlich drei Tage später, keine halbe Stunde zu Fuß von Reiswitz’ Wohnung entfernt, in der Mannheimer Str. 43, von Angehörigen einer Wilmersdorfer Bürgerwehr aufgegriffen.

Doch Reiswitz’ deutliche Ablehnung der Spartakisten führte nicht zu seiner Hinwendung zum anderen politischen Extrem.108 Im selben Brief machte er sich lustig über den „deutsch nationalen Sturm“, dem er sich durch gewisse Bekannte nun ausgesetzt sah, weil er das Verteilen von Flugblättern für die „Deutsch Nationale Partei … diplomatisch abgelehnt“ hatte.109 Vor allem war er nicht bereit, sein Leben für das besitzende Bürgertum zu opfern. In einem rückblickenden Tagebucheintrag vom 28.01.19 meinte er sarkastisch: „Es schien, als sollte Spartakus siegen, aber noch einmal gelang es, die Sache ins Reine zu bringen. Bürgerjugend und Offiziere retteten den Kurfürstendamm und in zweiter Linie sich selbst.“ Er erwähnte, dass den „Kämpfern gegen Spartakus“ pro Kopf 18 Mark geboten wurden, woraufhin „die Jugend des Mittelstandes als ‚Gediente‘ kämpfte für die Bourgeoisie des Kurfürstendamm“. Diese „Jugend“ – darunter laut Reiswitz auch viele Juden – identifizierte er als „die guten Elemente, die wieder einmal dumm genug gewesen waren sich für die feiste Bourgeoisie aufzuopfern.“ Er, als jemand, der sich keineswegs als Verfechter der alten, den verlorenen Krieg zu verantwortenden, monarchischen Ordnung ansah, sondern Verständnis für die gemäßigte neue sozialdemokratische Staatsführung aufbrachte, begrüßte zwar die rigorose Niederwerfung der Spartakisten, wollte sich aber andererseits nicht der entstehenden Freikorpsbewegung anschließen, die er als Büttel des Besitzbürgertums betrachtete: „Ich wurde auch oft gefragt, warum ich nicht mitkämpfte. Ich habe geschwiegen.“ Und dies, obwohl Reiswitz eigentlich der Prototyp eines Freikorpsangehörigen war, „who had come of age in a bellicose atmosphere saturated with tales of heroic bloodshed“, der aber wegen seines nur kurzen Frontaufenthaltes „missed out on first-hand experience of the ‚storms of steel‘“.110 Reiswitz erging es nicht wie der Hauptfigur in Joseph Roths Roman „Das Spinnennetz“ aus dem Jahre 1923, Theodor Lohse, dem es seine weiblichen Familienangehörigen übelnahmen, dass er nicht den Heldentod gestorben war und nun als demobilisierter junger Leutnant, als wehrloses Opfer der Revolution seiner Mutter und Schwester zur Last fiel.

Damit ist in mancher Hinsicht sein Weg zum Jungkonservatismus111 vorgezeichnet: „Es wird noch eine furchtbare Auseinandersetzung geben zwischen feister Bourgeoisie und Proletariat, zwischen dem Gelde und der Dummheit. Wir werden wie stets unschuldig mitleiden.“112 Reiswitz’ Distanz gegenüber der ökonomisch dominanten oberen Mittelklasse und seine Offenheit für politisches Gedankengut, welches das Schwergewicht auf die Gemeinschaft – sei es im völkischen oder sozialdemokratischen Sinne – legt, fand ihren Ausdruck im Gedankengut vieler Jungkonservativer. So war auch der später von den Nationalsozialisten ermordete Edgar Jung (1894–1934), streng „antikapitalistisch“113 ausgerichtet.114 Auf den jungen Reiswitz traf ironischerweise genau das zu, was Armin Mohler als gängige Definition eines Jungkonservativen aus marxistischer Sicht anführt: Der Jungkonservative habe „die ehrliche Absicht die bürgerliche Herrschaft zu stürzen.“ Da es sich aber bei den Jungkonservativen, „größtenteils um befehlsgewohnte Frontoffiziere“ – oder Unteroffiziere, wie Reiswitz – handele, vermochten diese es nicht „sich dienend der proletarischen Bewegung einzuordnen“ und ihr „revolutionärer Anstoß mit seinen romantischen Rückständen“ artete schlussendlich in eine „Hilfestellung an den Kapitalismus“ aus.115 Vielleicht noch passender auf Reiswitz ist die Selbstreflexion des jungkonservativen Publizisten Max Hildebert Boehm (1891–1968), der in einem Privatbrief aus dem Jahr 1919 sich folgendermaßen beschrieb: „Ich gehöre zu dem Teil der rechtsstehenden Jugend, die nicht eine Liberalisierung des Konservatismus will, … sondern eine organische Verschmelzung konservativ-aristokratischer und sozialistischer Tendenzen.“116

Nach Beendigung der revolutionären Wirren in Berlin kehrte „Genosse Reiswitz“ schon bald dem Militär den Rücken. Noch vor seiner offiziellen Entlassung am 01.03.19 hatte er bereits am 02.11.18, also nur einen Tag nach der bestandenen Abiturprüfung, einen Gasthörerschein der Universität Berlin ausgestellt bekommen. Von November 1918 bis Februar 1919 konnte er als Externer nun Vorlesungen hören, unter anderem bei den jüdischen Professoren Ludwig Geiger (1848–1919) und Max Dessauer (1867–1947). Geiger, der sich 1873 bei Leopold von Ranke (1775–1886) – derjenige unter den deutschen Historikern, welcher auf Reiswitz selbst den nachhaltigsten Einfluss haben sollte117 – habilitiert hatte, lehrte Reiswitz über den „Deutschen Roman im 19. und 20. Jahrhundert“ und „Deutsche Kriege und Deutsche Dichtung“, Dessauer las eine „Einleitung in die Philosophie“. Ferner hörte Resiwitz bei Alois Riehl (1844–1924) „Nietzsche und seine Umwertung aller Werte“, bei Adolph Goldschmidt (1863–1944) eine Vorlesung über Architekturstile und bei einem gewissen „Dr. Hermann“ über den jungen Goethe.118