Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Krešeljaković gab gegenüber Manojlović an, dass der einzige, dem er über Babingers vermeintliche Machenschaften erzählt hatte, niemand anderes war als die Person, der er auch über Babingers angebliches Plagiat339 berichtete: Reiswitz.

Allerdings, so Krešeljaković, habe er Reiswitz gegenüber lediglich gesagt, dass Babinger die Schriften „billig erhalten“ habe, da der Anbieter sich „in sehr schwierigen materiellen Verhältnissen“ befinde. Er habe keineswegs Reiswitz gesagt, dass Babinger die Ware mit Profit weiterverkaufe: „Ein Universitätsprofessor ist darauf nicht angewiesen.“

Von wem aber hatte Babinger die Handschriften ursprünglich erworben? Es überrascht zunächst, dass es sich dabei laut Krešeljaković um den hochangesehenen und bibliophilen Orientalisten Safvet-beg Bašagić (1870–1934) handelte, welcher bis zu seiner Pensionierung 1927 als Kustos im Landesmuseum in Sarajevo gearbeitet hatte. Doch bereits 1926 verließ er – so zumindest schrieb Krešeljaković selbst in einem Nachruf auf den 1934 verstorbenen Bašagić340 – sein Bett nicht mehr, was wiederum eine Erklärung für dessen materielle Notlage sein könnte. Seine persönliche Bibliothek, welche sein Vater begonnen hatte, hatte er bereits an die Universität in Pressburg verkauft, wobei allein die Zahl der wertvollen Handschriften 266 betrug.341

Doch sei der Verkauf an Babinger – den „Handschriften-Acquisiteuer“342 – laut Krešeljaković nur ein Einzelfall gewesen, ohne dass System dahinterstecke, bosnisches Kulturerbe nach Deutschland zu schmuggeln. Dies könnten neben Bašagić selbst zwei weitere bekannte Intellektuelle aus Sarajevo bezeugen, der Büchersammler und Direktor der Zemaljska Banka, Aleksandar Poljanić (?–1948) und Vejsil Ćurčić, der bis 1924 auch als Kustos im Landesmuseum angestellt war, zehn Jahre später die Museumsleitung übernahm und bis 1945 ausübte.

Die Reiswitz gegenüber privatissime gemachten Anschuldigungen Krešeljakovićs an die Adresse Babingers, die letzterer, nachdem Reiswitz ihm davon unbedacht berichtet hatte, an Manojlović herangetragen hatte, führten bei Manojlović dazu, ein Exempel an Krešeljaković zu statuieren. 1929 wurde Krešeljaković an die bulgarische Grenze versetzt und ging 1932 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand. Der Schlusssatz seines Briefes an Manojlović vom 02.12.28 hatte Krešeljaković also nicht retten können: „Die südslawische Akademie und die Agramer Universität sind für mich als Kroaten Heiligtum, denen gegenüber ich … mich nicht versündigt habe.“343

Reiswitz, auf der anderen Seite, war zunächst äußerst verstimmt wegen Babingers Indiskretion. Am 19.12.28 teilte er ihm brieflich mit, „dass Sie die Sache Kr. nun doch vor Manojlović brachten war nicht schön von Ihnen. Ich sagte Ihnen schon in Sarajevo, dass Sie mir damit riesig schaden würden“. Doch aus dem bereits erwähnten Brief Reiswitz’ an den Konsul von Druffel aus dem Jahre 1930 geht hervor, dass Babinger und Reiswitz sich schlussendlich versöhnten: „Babinger und ich haben uns in diesem Jahr seit Sarajevo oft gesehen, eigentlich sind wir sogar jetzt befreundet und jetzt, wo ich ihn besser kenne, weiss ich auch, dass er nicht der grobe Egoist ist, für den ich ihn früher gehalten habe“.

Ebenso wenig wie es die Quellenlage zulässt, die Verdachtsmomente in Bezug auf Babinger abschließend aufzuhellen, ebenso wenig Klarheit gibt es hinsichtlich einer möglichen Nebenerwerbsquelle für Reiswitz selbst im Zusammenhang mit dem Transfer von Kulturgut. In einem Briefentwurf an seinen Vetter Hans Kurd Freiherr von Reiswitz und Kaderžin (1878–1949)344 vom 10.12.28 erläuterte Reiswitz sein Vorhaben. So habe er einen Tag vor seiner Abreise nach Deutschland mit dem Kustos Miodrag Grbić die Vereinbarung getroffen, dass dieser dem Vetter Hans „alle Antiquitäten, die das Museum selbst nicht kaufen kann, da es nicht viel Geld hat“ zum „Einkaufpreise“ anbieten werde. Monatlich habe Grbić ursprünglich sogar zehn Kleinplastiken offeriert, doch Reiswitz hielt drei für realistischer. Was die „Gewinnbeteiligung“ anbelangt, so möge Hans Kurd darüber befinden. Im weiteren Verlauf des Briefes betonte Reiswitz, dass er darauf bestanden habe, dass der zweite Kustos des Museums, Jozo Petrović, dieser Vereinbarung zustimmen müsse. Inwieweit diese angedachte Geschäftsidee in die Tat umgesetzt wurde, ist fraglich, ebenso wie die Legalität des Vorhabens. Es ist jedoch mehr als unwahrscheinlich, dass Reiswitz etwas Derartiges eruiert hätte, wenn es, in welcher Form auch immer, juristisch fragwürdig gewesen wäre.

Neben Krešeljaković lernte Reiswitz auch Derviš M. Korkut (1888–1969) in Sarajevo kennen. Korkut sollte im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielen im Zusammenhang mit der Rettung der mehr als 700 Jahre alten Haggadah von Sarajevo, einer ursprünglich aus Spanien stammenden jüdischen Handschrift, die Korkut 1942 dem deutschen Zugriff entzog, in dem er sie buchstäblich in letzter Minute aus dem Landesmuseum schmuggelte und bei einem Imam bis zum Kriegsende versteckte. Doch der muslimische Korkut rettete nicht nur ein jüdisches Buch, sondern auch ein jüdisches Mädchen, die Tochter eines verstorbenen Kollegen, Donkica Papo, die er in seinem eigenen Haus versteckte und als muslimisches Dienstmädchen ausgab.345 Für diese Tat wurde er 1994 zusammen mit seiner Ehefrau Servet von der Gedenkstätte Yad Vashem als einer der „Righteous Among the Nations“ anerkannt.346

Korkut übernahm 1921 die Funktion des Sektionschefs im jugoslawischen Kultusministerium, kündigte aber 1923, um in die Politik zu gehen als Generalsekretär der Muslimischen Partei (Jugoslovenska Muslimanska Narodna Organizacija). Doch am 05.03.1927 wechselte er wieder in den Staatsdienst als Bibliothekar am Landesmuseum.347

Reiswitz konsultierte Korkut offensichtlich im Kontext seiner Bogumilenrecherche. In einem Brief an Babinger vom 15.11.28 findet sich eine äußerst kryptische Passage: „Das Hasen-fell-Buch der Herren Korkut Vukovic Petronic348 stellte sich als eine der beliebten Wichtigkeitsblähungen heraus und hätte uns überdies beinahe einen noch einen Schwanz von Unannehmlichkeiten gebracht. Mit den Bogomilen hat es überhaupt nichts zu tun. Näheres mündlich.“ Einen Monat später erwähnte auch Babinger dieses mysteriöse Hasenfellbuch in seinem Brief an Reiswitz vom 11.12.28: „Ich bin mächtig gespannt, was Sie alles erzählen werden über das Hasenfell“.

Die zweite Erwähnung Korkuts erfolgte in Reiswitz’ Brief an Babinger vom 19.12.28. Augenscheinlich hatten Reiswitz und Korkut einen kameradschaftlichen Disput über die Erfindung des Luftschiffes: „Korkut behauptete mir gegenüber einmal, Graf Zeppelin hätte seine Erfindung von einem Kroaten namens Schwarz349. Ich erwiderte daraufhin, dass ich um Beweise bäte und ehe ich diese nicht hätte, nicht daran glauben würde.“

Schließlich erwähnte Reiswitz Korkut beiläufig noch einmal in einem Brief an Böckschen vom 25.07.29. Korkuts Visitenkarte hat sich im Nachlass erhalten, auf welcher sein Titel „Sektionschef “ durchgestrichen ist und handschriftlich „Kustos des bosn.-herz. Landesmuseums Sarajewo“ hinzugefügt wurde.

Während das Hasenfellbuch Reiswitz nicht weiterbrachte bei der Erforschung der Bogumilen, so lernte er 1928 zumindest eine weitere bedeutsame Person kennen, die ihm helfen konnte: Vladimir Ćorović (1885–1941). Der Historiker und „the last polyhistor“350 Ćorović stammte aus Mostar und hatte vor dem Ersten Weltkrieg im Landesmuseum von Sarajevo gearbeitet. Als Reiswitz seine Bekanntschaft machte, war er bereits Lehrstuhlinhaber in Belgrad. In seinem Brief an Babinger vom 15.11.28 urteilte Reiswitz wie folgt: „Was die Bogomilen betrifft, so habe ich in Corovic wirklich den Mann gefunden, den Sie schilderten und den ich brauche. Strotzend vor Lust an seiner Arbeit und in allem positiv … kommt er gleich in medias res und wird – überzeugt von der Wichtigkeit einer … Bogomilenbibliographie… alles tun, um mir Umwege zu ersparen.“ Ćorović ging in der Tat – allerdings erst in seinem opus magnum zwölf Jahre später – auf die Bogumilen in Bosnien ein.351

Wie sich die Bekanntschaft mit Ćorović entwickelte, ist nur bruchstückhaft überliefert. Am 29.03.36 schrieb Reiswitz an Böckschen, dass der Oldenbourg-Verlag seinen gerade veröffentlichten „Fahrplan“ – so der familieninterne Terminus für Reiswitz’ als Buch erschienene Habilitationsschrift – zur Rezension in Politika an Ćorović geschickt habe, obwohl Reiswitz als Politikarezensenten eigentlich seinen Freund, den Journalisten Predrag Milojević (1901–1999)352 vorgesehen hatte. Kurz darauf, am 30.04.36, meldete sich Ćorović in einem persönlichen, handgeschriebenen Brief bei Reiswitz: „Ich habe Ihr schönes Buch mit Dankbarkeit bekommen und schon gelesen. Das Buch ist höchst interessant und sehr gut. … Es wird uns sehr freuen, wenn Sie die nützliche Arbeit fortsetzen möchten; für weitere Ausgestaltung der deutsch-jugoslawischen Beziehungen werden solche Beiträge eine überaus fördernde Wirkung haben.“ Ćorovićs eigene historiographische Arbeit wurde allerdings im Jahre 1936 als für die Förderung der deutsch-jugoslawischen Beziehungen nicht unbedingt vorteilhaft angesehen. Woran lag das?

Sechs Jahre später, am 30.12.42, schrieb Reiswitz aus Belgrad, im 5. Stock des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) sitzend, an seine Mutter. Direkt vor ihm an der Wand waren Regale mit dem Bibliotheksbeständen von Ćorović angebracht. Nach seiner Flucht aus Belgrad und seinem fatalen Flugzeugabsturz über dem Berg Athos am 12.04.41 war Ćorovićs Buchbesitz konfisziert und ins DWI verbracht worden.353 Ćorović hatte sich, so Reiswitz, „leider als hochgradiger Freimaurer“ entpuppt, der „ins Ausland floh und dessen schöne Bibliothek wir infolgedessen als Feind-Bibliothek sichergestellt haben“.354 Allerdings ging es den deutschen Besatzern nicht vornehmlich um Ćorovićs bibliophile Schätze, sondern um sein 1936 fertiggestelltes Buch über die serbisch-österreichischen Beziehungen im 20. Jahrhundert355 und die dazugehörige Quellen- und Materialsammlung. In diesem Buch, dessen Auslieferung kurzfristig durch den jugoslawischen Ministerpräsidenten und Außenminister Milan Stojadinović (1888–1961) unterbunden worden war, identifizierte Ćorović Österreich-Ungarn als die alleinig schuldige Macht am Ersten Weltkrieg. Obwohl es sich bei Ćorovićs Werk um eine Auftragsarbeit der jugoslawischen Regierung aus dem Jahre 1930 handelte, mit der ursprünglichen Absicht zu belegen, dass Serbien unschuldig am Kriegsausbruch war, vermutete Stojadinović, dass diese Hauptthese Hitler vor den Kopf stoßen könnte. Die gesamte bereits gedruckte Auflage wurde einbehalten – was den jugoslawischen Steuerzahler 226.000 Dinar kostete.356

 

Reiswitz’ Brief an Babinger vom 15.11.28 gibt neben der Bogumilenthematik noch Aufschluss über eine Idee Reiswitz’ hinsichtlich der Verstärkung der zukünftigen deutsch-jugoslawischen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. So schrieb er: „Endlich die Instituts Pläne. Hier habe ich gleichzeitig bei Slobodan Jovanović, Stanoje Stanojević und unserem Gesandten Köster357 die Fragen berührt; dasselbe will ich auch bei Šisić358 und Manojlović in Agram tun. Bisher waren alle sehr für den Gedanken eingenommen, hielten aber die Zeit noch nicht für reif. Näheres mündlich.“ In einem späteren Brief an Babinger vom 09.12.28 bezeichnete Reiswitz das für Berlin angeregte Institut als „Balkan-Institut“, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen.

Der gewählte Terminus „Balkan-Institut“ erinnnert an das 1919 gegründete interdisziplinär arbeitende „Oriental Institute“ der Universität von Chicago. Für dieses Institut führte seit 1926 der deutsche Archäologe Hans Henning von der Osten (1899–1960) eine archäologische Bestandsaufnahme Anatoliens durch, bestehend aus vier großen Forschungsreisen in die Türkei, insbesondere, um das Volk der Hethiter zu erforschen: „A thousand questions arose … one of the most important being that of the racial connections of the groups of peoples commonly called ‘Hittites’. The fact that at least one of their languages was Indo-European in character connects them with our own ancestry and invests them with a peculiar interest for us“.359 Konnten die Hethiter in einer ähnlichen Rolle als Kulturbringer von West nach Ost gesehen werden, wie Schuchhardt die indogermanischen Illyrer als Brücke zwischen Nordeuropa und dem Balkan ansah?

In Reiswitz’ Tagebucheintrag vom 08.05.1929 ist ein Treffen von Reiswitz mit von der Osten in Berlin belegt. Doch wird dies nicht die einzige Zusammenkunft der beiden gewesen sein, was jedoch nicht verifizierbar ist, da die Tagebuchaufzeichnungen von Reiswitz vom 01.04. bis 03.05. fehlen. Am 06.05. befasste sich Reiswitz laut Tagebuch mehrere Stunden lang mit den „Kulturzusammenhängen im alten Orient“ und schickte einen Brief an den amerikanischen Archäologen Carl Blegen (1887–1971), der zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren den Lehrstuhl für klasssische Archäologie an der Universität von Cincinnati innehatte. Dort heißt es in etwas holprigem Englisch – seine Oxfordstudien mit Jeanne Doe lagen immerhin schon vier Jahre zurück: „Dr. v. d. Osten … to whom I showed a plan for a systematic archeological [sic] survey of the Balkan-peninsula, told me that I should adress [you] on this behalf. I am already working several years on problem … The project which I have is similary [sic] to the survey of Anatolia now conducted by the Oriental Institute.“ Er bittet dann Blegen um ein persönliches Treffen, zumal Blegen ein „expert especially for the earlier pottery of the Balkan“ sei.360 Eine Antwort Blegens ist leider nicht überliefert. Der Brief und das Treffen mit von der Osten zeigen jedoch deutlich Reiswitz’ fortgeführtes Interesse nicht nur an den Bogumilen, sondern auch an der Vorgeschichte der Beziehungen des Balkans mit dem Rest Europas.

Woher aber stammte die Idee der Gründung eines „Instituts“ für Balkanstudien? Offenbar hatte Babinger in einem vorausgegangen Brief eine „Arbeits-Gemeinschaft“ als Vorläufer einer solchen Institutsgründung angeregt, eine Idee, die Reiswitz für „glänzend“ hielt. Involviert darin sollte Babingers Ansicht nach auch Konrad Schünemann (1900–1940) sein. Der in Berlin geborene Schünemann hatte dort 1922 – zur gleichen Zeit wie Reiswitz – seine Promotion über „Die Deutschen in Ungarn bis zum 12. Jahrhundert“ abgeschlossen. Während der Wirren 1918/1919 hatte er als Zeitfreiwilliger in der Berliner-Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Kampf gegen Spartakisten gedient.361 Anders als dem gleichaltrigen Reiswitz war es Schünemann aber schon frühzeitig gelungen, akademisch Fuß zu fassen. Seit 1927 war er in Berlin Privatdozent für Geschichte. Ein Jahr zuvor hatte Reiswitz zu Schünemann Kontakt aufgenommen, welcher ihm von dem Historiker Otto Hintze als jemand empfohlen worden war, der sich in Berlin mit Balkangeschichte befasste.362

Die Beteiligung von Schünemann hielt Reiswitz zumindest in der Gründungsphase der Arbeitsgemeinschaft bzw. des Instituts für keine gute Idee – Babinger habe ihn „mit Schünemann … einen kräftigen Schrecken eingejagt“, da Schünemann den Gedanken verfolge, ein „ungarisches Institut als Urzelle“ eines Balkan-Instituts zu wählen, was laut Reiswitz bei den Südslawen für „wenig Sympathien“ sorgen würde. In der Tat stand zu dieser Zeit Schünemann dem Deutsch-Ungarischen Institut in Berlin vor. Auf der anderen Seite begrüße Reiswitz aber durchaus einen friedlichen wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen Schünemann und ihm selbst, wozu ihm auch bereits im Februar 1928 Hoetzsch geraten habe. Bei einem solchen Wettbewerb, soviel scheint klar, war aus der Sicht des Jahres 1928 Schünemann allein aufgrund der Tatsache im Vorteil, dass er sich 1927 bereits habilitiert hatte.

Babinger hingegen dämpfte unmittelbar darauf Reiswitz’ Aktionismus. Am 11.12.28 erklärte er klipp und klar in einem Brief an den letzteren: „Von einer Gründung der Arbeitsgemeinschaft kann gar keine Rede sein in der nächsten Zeit. So wenigstens beurteile ich die Sachlage.“ Doch mit diesem Urteil lag Babinger falsch.

Etwas mehr als ein halbes Jahr später erwähnte Reiswitz Ende Juli 1929 in einem Brief an Böckschen363, dass er sich mit Schünemann im Romanischen Café in Berlin, einem von Reiswitz häufig frequentierten, beliebten Intellektuellentreffpunkt in unmitelbarer Nähe der Gedächtniskirche, zu einer langen Unterredung getroffen habe. Schünemann habe soeben ein Buch herausgebracht als erste Veröffentlichung einer „Arbeitsgemeinschaft für Südosteuropaforschung an der Universität Berlin“. Es handelte sich um seine Habilitationsschrift, „Die Entstehung des Städtewesens in Südosteuropa“. Dies werde für „großes Aufsehen“ sorgen, wenn nicht sogar einen „Krach“ und eine „Explosion“ hervorrufen, weil niemand über Schünemanns Vorhaben im Bilde war. Laut Reiswitz habe Schünemann die vom Ministerium noch gar nicht bestätigte Arbeitsgemeinschaft in Eigenregie in das offizielle Verzeichnis der Institute des Deutschen Reiches eintragen lassen. Schünemanns Monographie sollte die erste und einzige Veröffentlichung der omninösen „Arbeitsgemeinschaft für Südosteuropaforschung“ bleiben.364 Konrad Schünemann selbst fiel als Feldwebel am 10.06.40 in Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt war er als außerordentlicher Professor in Kiel tätig geworden. In einem kurzen Nachruf wurde er als „gründlicher Kenner der ungarischen Geschichte und der Geschichte des Deutschtums in Südosteuropa“365 bezeichnet.

Ob es die Unstimmigkeiten mit Babinger in Bezug auf die Krešeljaković-Affäre waren, oder Babingers Zurückhaltung in Bezug auf das von Reiswitz anvisierte Balkan-Institut, oder eventuelle weitere Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden: Reiswitz jedenfalls entwickelte eine immer stärkere Abneigung gegenüber Babinger.

„Nie hat ein Mensch mich derart vergiften können“, so schrieb er am 25.07.29 an Böckschen über Babinger. Nur wenig später, am 13.09.29 verglich Reiswitz Gerhard Gesemann, dem er am selben Tage in Prag zum ersten Mal persönlich begegnete, in einem weiteren Brief an seine Gattin mit Babinger: „Dieser Mann [Gesemann] ist tatsächlich der erste wirklich brauchbare Professor, Babinger ohne Egoismus.“366 Bei der Prager Zusammenkunft offenbarte Reiswitz Gesemann seine „Pläne“ und erhielt von Gesemann „manchen streng befolgten Rat“.367

Darüber hinaus befindet sich im Nachlass ein undatierter, unbeendeter handgeschriebener Briefentwurf Reiswitz’, welcher vom Kontext her, obgleich die Anrede nur „Sehr geehrter Herr Professor“ lautet, an Babinger gerichtet sein musste. Darin erwähnte Reiswitz die „schmerzlichen und bitteren“ Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre – sodass zu vermuten ist, dass die Zeilen aus dem Jahre 1930 stammen, welche darin bestanden, dass Babinger, so Reiswitz, „Verleumdung“ begangen habe und durch „unverantwortliches Geschwätz“ aufgefallen sei. Reiswitz teilte Babinger mit, dass er sich nun „definitiv“ von ihm zurückziehe.

Am 06.11.33 bemerkte Reiswitz dann nicht ohne Genugtuung gegenüber Böckschen, dass Babinger „wegen Arierparagraph und wegen seiner dauernden Stänkereien“ entlassen werden solle. Er sei sehr froh, dass Babinger „verduftet“ sei. Babingers Großmutter mütterlicherseits war eine geborene Jüdin. Babinger selbst versuchte seine Entpflichtung zu verhindern unter Hinweis auf seine Freikorpstätigkeit in München und seine persönliche Freundschaft mit dem SA-Chef Ernst Röhm (1884–1934).368

Mindestens einmal jedoch noch kreuzten sich Reiswitz’ und Babingers Pfade. Am 27.03.34 stand Reiswitz auf dem Weg zum Oedhof zufällig neben Babinger auf dem Bahnsteig in Berlin. Reiswitz teilt seiner Frau allerdings nur knapp mit, dass Babinger unterwegs nach Jugoslawien sei. Vermutlich war Babinger allerdings auf dem Weg ins Exil nach Rumänien. Am 12.12.34 informierte Reiswitz Böckschen über Schwierigkeiten im Zusammenhang mit seiner Zulassung zur Probevorlesung an der Berliner Universität, hatte aber diesmal nicht das Gefühl wie in „Babingersache vor vier Jahren“, dass ein Haus in ihm einstürze.

Doch sollen die Erfahrungen von Reiswitz mit Babinger in Sarajevo und danach nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Jugoslawienaufenthalt von Reiswitz 1928 insgesamt ein Erfolg war. Am 04.12.28 schrieb ihm der Germanist Dr. Momčilo Selesković (1890–1950), der bis 1939 als Lektor für die serbische Sprache an der Universität Berlin angestellt war und vorher in Dubrovnik deutsche Literatur gelehrt hatte.369 Er drückte seine Freude darüber aus, dass der „jugoslawische Aufenthalt“ von Reiswitz „positive Früchte“ getragen hatte, bedauerte allerdings ironisch Reiswitz’ „Frau Gemahlin“, da sie einen Mann habe, „der sich in den Kopf gesetzt hat, monatelang auf dem Balkan herumzukutschieren“. Im selben Brief fragte Selesković, ob Reiswitz bereits den Ethnologen und Historiker Professor Tihomir Đorđević (1868–1944) kennengelernt habe, der ihm bei seinem weiteren Netzwerkaufbau nützlich sein könne, da dieser „eine Masse Verbindungen“ habe. Bereits vor Antritt seiner Jugoslawienreise hatte Reiswitz den Lektor um Hilfe gebeten. Am 29.02.28 schickte Selesković ihm ein Empfehlungsschreiben für den Geographieprofessor Milojević in Belgrad, der „alles tun wird“, um Reiswitz „der Lösung näher zu bringen“. Offensichtlich war Milojević noch nicht dazu gekommen, Rat und Tat, wie am 12.09.27 gegenüber Reiswitz versprochen, zur Verfügung zu stellen, um die Veröffentlichung von Reiswitz’ Cvijić-Übersetzung zu begeben.

Reiswitz jedenfalls hielt den Kontakt mit Selesković aufrecht. Aus einem Brief an Böckschen vom 15.09.29, verfasst während seines dritten Jugoslawienaufenthaltes, geht hervor, dass er sich mit Selesković im Belgrader Nobelhotel Srpski Kralj zum Abendessen verabredet hatte. Auch sechs Jahre später noch tauchte Selesković auf, als am 15.12.35 Reiswitz Böckschen darüber ins Bild setzte, dass er gerade Selesković im Beliner „Jugoslawischen Klub“ getroffen habe, wo er „die Bescheinigung, dass ich bereits September 1929 fließend serbisch gesprochen habe“, von eben diesem „Lektor für Serbisch an der Berliner Universität“ erhalten habe.

Ein weiterer Dinergast im Srpski Kralj an jenem 15.09.29 war Vladimir Šifer, Generalsekretär der Apothekerkammer des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen. Bei Šifer, so zumindest schrieb ihm Reiswitz am 20.12.28, hatte die Jugoslawienreise 1928 begonnen und auch geendet: „Dass ich heute so ungetrübt und gern an diese 7 Monate SHS denken kann, danke ich an erster Stelle Ihnen“. In seiner Antwort vom 26.12.28 sprach Šifer darüber, dass er – als kroatischer Katholik – den Weihnachtsabend bei den „Gavrilovićs“ verbracht habe, die Reiswitz „herzlich“ für dessen „Grüße danken“. Auch Reiswitz erwähnte in seinem Brief an Böckschen vom 15.09.29 den Besuch bei der Familie Gavrilović im Belgrader Stadtteil Topčider. Bei diesem Ehepaar handelte es sich höchstwahrscheinlich um Milan (1882–1976) und Jelena (1895–1976) Gavrilović, die in der Straße Andre Nikolića Nr. 12 in besagtem Stadteil wohnten.370 Letzterer war von 1924 bis 1930 der Chefredakteur von „Politika“ und hatte noch 1922 als Erster Sekretär der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin gewirkt. Als Chefredakteur machte er „Politika“ zu einer qualitativ hochwertigen Tageszeitung, „poput londonskog Tajmsa, pariskog Figaroa I frankfurtskog Frankfurter cajtunga“ („wie die Londoner Times, der Pariser Figaro und die Frankfurter Zeitung aus Frankfurt“).371

 

Während Gavrilović nach dem deutschen Angriff auf Jugoslawien nicht von seinem Posten als jugoslawischer Gesandter in Moskau nach Belgrad zurückkehrte, sondern im Dezember 1941 nach London ging und als Justizminister in die Exilregierung von Slobodan Jovanović eintrat, blieb Šifer in Serbien. Mitte September 1941 traf Reiswitz ihn im Restaurant „Mali Pariz“ in der Dečanska-Straße Nr. 25. Reiswitz berichtete Böckschen darüber, dass Šifer nun in „seinem ehedem so beschimpften Serbien“ bleiben will, anstatt „in seinen ja nun unabhängigen Staat Kroatien“ zurückzukehren.372 In der Tat hatte Šifer früher kein Hehl daraus gemacht, was er von der offiziellen serbischen Politik hielt. Am 26.12.28 schrieb er an Reiswitz: „Die Serben haben für die Einigung aller Südslawen viel gemacht, aber sie sind wohl nicht mit reinen Gefühlen und Zielen in diese Einigung eingetreten. Wir [die Kroaten] haben schon vor 25 Jahren eine südslawische Ideologie vertig [sic] gehabt und die Serben können noch heute vom grosserbischen Standpunkte nicht einen Schritt weiter machen.“ Offensichtlich hatten sich die Vorzeichen der Zeitläufte gewandelt. Während Šifer 1928 mit den großserbischen Ambitionen unzufrieden war, so befürwortete er 1941 die großkroatischen ebensowenig, da er nicht im Unabhängigen Staat Kroatien leben wollte.

Nachdem es Reiswitz bei seinem zweiten Aufenthalt dank der vorbereitenden Mithilfe von Wendel und Horovic gelungen war, einerseits ein Netzwerk von Bekannten aus dem akademischen Bereich aufzubauen – die „Arbeiten“, von den zu Beginn des Kapitels die Rede war –, zu welchen vor allem Historiker und Publizisten zählten, galt es nun, konkret an die Arbeit zu gehen. Zunächst aber benötige er dazu finanzielle Mittel.