Musikeinsatz im Französischunterricht

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

I. 8 Französischlehrwerke und Grammatiken für weibliche Lernende

Die Kultur der exklusiv weiblichen Sprachzirkel erlebte einen Höhepunkt mit Französischlehrwerken für weibliche Lernende.1 Das französisch-flämische Gesprächsbuch La gvirlande des ievnes filles von Gabriel Meurier gilt als „frühestes Französischlehrwerk für Mädchen […] [und wurde] in bearbeiteter Form auch in Deutschland verwendet.“2 Seine für die im Pensionat lebenden jungen Damen höheren Standes in Dialogform geschriebene Gesprächssammlung kann als Beispiel für den (damals noch seltenen) Klassenunterricht in französischer Sprache verstanden werden.3 Mädchen und Frauen lernten im 16. Jahrhundert meist Französisch und Italienisch. Sie beherrschten kein Latein, während die jungen Männer in Latein als erster Fremdsprache unterrichtet wurden.4 Nach Franz-Rudolf Weller wurde der Antwerpener Sprachmeister Meurier von den „Reformern des 19. Jahrhunderts als der Reformer unter den Alten angesehen.“5 Meurier integriert auch „während der Mahlzeiten und nach Tisch […] ‚kommunikative‘ und durch Anschauung unterstützte französische Sprechübungen.“6 Kuhfuß zeigt, wie Sprichwörter und Redensarten den Unterrichtsdiskurs kommunikativ gestalteten. Diese (französischen) Redemittel sollten auswendig gelernt und dann im Unterricht ad hoc angewendet werden:7 „Approchez, et soyez attentives / Dites, je vous escoute / Allez à votre place / Parlez haut et distinctement, à ce qu’on vous puisse entendre.“8 Der Einsatz dieser charnières9 ermöglicht nicht nur eine Fokussierung auf eine einsprachig-französische Unterrichtssituation, sondern favorisiert zudem eine Schülerzentrierung avant la lettre. Günter Holtus fasst die didaktische Funktion dieses Lehrwerks folgendermaßen zusammen:

Insgesamt zeigt sich in Gabriel Meuriers Werk, daß als Methode für den Sprachunterricht für Mädchen ein assoziatives, situationsgebundenes Lernen bevorzugt wird; eine explizite Darstellung der Grammatik bleibt einem anderen Adressatenkreis vorbehalten, der des Lateinischen kundig ist und der mit diesem Lehrwerk nicht als Zielpublikum angesprochen werden soll.10

Das Zitat verweist auf zwei ausgebildete Hauptrichtungen des Fremdsprachenunterrichts, die von Marcus Reinfried11 klassifiziert werden in:

1 Eine hauptsächlich vom traditionellen Lateinunterricht inspirierte deduktive Richtung.12 Sie begann mit dem Auswendiglernen von (in Deutschland während des 17. Jhs. auch noch in vielen Grammatiken neuerer Sprachen lateinisch formulierten) Grammatikregeln und den dazu gehörigen zielsprachlichen Beispielsätzen. Zur Textlektüre kam es bei diesem Unterrichtsverfahren erst in einem fortgeschrittenen Stadium.

2 Eine eher imitative Richtung, die keine zuvor erworbenen Lateinkenntnisse voraussetzte und entweder mit verschriftlichten Dialogen oder einfacheren zielsprachlichen Texten begann. […]. Diese Richtung setzte die Grammatik nur sehr reduziert ein.

In dieser imitativen, praxisorientierten Perspektive wurde eine Vielzahl von Lehrwerken speziell für Lateinunkundige konzipiert. Mit den Grammaires des Dames13 entstand damit ein neuartiges Genre von Lehrmaterialien. Es handelt sich nach einer Untersuchung von Gabriele Beck-Busse um

des grammaires d’usages14 (c’est-à-dire qu’elles font ressortir le côté pratique): presque deux tiers […] présentent, outre la description grammaticale au sens strict du mot, […] 1. Des dialogues, 2. Un guide épistolaire, 3. Une collection de proverbes, 4. Des exemples de lecture (tels que: extraits de journaux, histoires et curiosités), 5. Des extraits ou des exemples d’auteurs modèles (comme, p. ex. Un choix de lettres de personnages connus), 6. Des extraits de poésie, 7. Une explication du langage poétique, 8. des chansons,15 9. des énigmes, 10. des synonymes expliqués pour trouver le mot juste, 11. une liste d’homophones, 12. un recueil de prononciations vicieuses, 13. un traité d’orthographe, 14. un vocabulaire, 15. une introduction aux règles de la bienséance.16

Beck-Busse stellte nach der Analyse von 37 französischen und italienischen Grammaires des Dames fest, dass „les Dames“ nicht Personen, sondern ein Konzept verkörpern, einen sprachlichen „Reflex einer Gesellschaft, die in ‚den Damen‘ den Prototyp eines Konstrukts von Leserschaft sieht, der folgende Erwartungen unterstellt werden […]:“17 Der Inhalt des Werks soll für Latein-Unkundige aufbereitet sein und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Der Stoff wird auf „angenehme Weise“, „ohne Dornen“18 , also „unakademisch“ vermittelt und eignet sich für das Selbststudium. Eine Damengrammatik ist

brève, concise, pertinente; qui préfère le pratique au théorique, le concret à l’abstrait, en mettant l’accent sur l’application et l’applicabilité (exercices, dialogues, vocabulaire, textes etc.) au lieu d’enseigner un système de règles stériles et arides, et, par conséquent, peu utiles; qui tienne compte de l’aspect „anti-érudit“, aussi par rapport à la forme extérieure: que format et grosseur des volumes s’accordent aux idées qu’évoquent l’honnêteté, la sociabilité et le bon goût.19

Die Eigenschaften der utilitaristischen Verwendung des Lernstoffs und der Fokussierung auf die praktische, konkrete Anwendung und Realisierbarkeit des Lernziels für das nicht gelehrte, also lateinunkundige Publikum zeigen die Linie zur späteren Entwicklung der Realienbildung und der (praxisorientierten) Realschule auf. Als erste Quelle einer Grammaire des Dames gilt das gleichnamige, 1688 in Venedig erschienene Werk von Louis de Pelenis.20

Die erste offiziell belegte Grammaire des Dames, die sich bereits im Titel ausschließlich21 an die „Dames“ wendet, geht auf Annibale Antonini zurück. Die Mehrzahl der Damengrammatiken wurde jedoch von Männern oder unter (männlichen) Pseudonymen verfasst. Eine Ausnahme bildet Madame La Roche und ihr Lehrwerk La Pierre de Touche ou le secret de délier la langue par le moyen de certains Entretiens courts, faciles & galans.22 Es handelt sich hierbei explizit um ein zweisprachiges Gesprächsbuch einer Frau für Frauen,23 die ihnen den Zugang zum Französischen als europäische lingua franca des 17. Jahrhunderts erleichtern soll, indem sie auf eine Affinität zwischen Geschlecht und französischer Sprache verweist:

Epître. Belles & charmantes Demoiselles.

L’application & l’attachement que vous avés jusques ici fait paroître pour une langue, qui fait dans ce siécle une partie des délices des plus galantes & des plus polies de l’Europe, & qui posséde des avantages si eminens sur toutes les autres langues vivantes, m’ont obligée de vous offrir ce petit ouvrage, qui dans la prémiére vûë semblera peu digne de se voir dans vos belles mains; J’ose néanmoins vous protester ici avec tout le respêt, que je vous dois, qu’il vous sera d’une utilité toute particulière, pour vous faciliter l’accès de la langue françoise. Comme elle a beaucoup de douceurs & d’agrémens accompagnés d’une noble fierté, elle ne sçauroit paroître avec plus d’éclat, que dans vos belles bouches: vous pouvés par son moyen donner quel tour il vous plaira aux choses, […], que lorsque vous vous servés de cette belle langue, qui a sû trouver le secret d’enchanter les plus belles âmes.24

Nach dem französischen Vorwort folgt die deutsche Übersetzung. Das Lehrwerk enthält Dialoge in der Interlinearversion. In der Préface wird die kommunikationsgelenkte Praxisorientierung ihrer Dialoge unterstrichen und parallel dazu der traditionelle, deduktive Unterricht kritisiert:25

Pour cela, elle a inséré dans ces Entretiens tout ce qui peut tomber à tous momens dans le discours, que pourroient tenir des gens, qui bronchent à chaque pas, ou pour parler plus clairement, qui ont de la peine à dire: bon jour, bon soir & comment vous portés vous, après avoir pris leçon (chose étonnante) sept ou huit mois de certaines gens qui se disent maîtres de Langues.26

Im Kapitel Kurtze und leichte Gespräche ihres Onziême Entretien / Das eilffte Gespraech27 nimmt La Roche am Beispiel der Interlinearversion dieses Argument wieder auf und vergleicht die praxisorientierte Vermittlung mit dem musischen Element des Tanzens, das man praktisch beherrschen sollte. Gleichzeitig kritisiert sie die mangelnde didaktisch-methodische und fachliche Ausbildung der Sprachmeister:


Il y a des gens ici, qui Es giebt Leute hier, welche
se disent Maîtres de Langue, & sich vor Sprachmeister ausgeben,
ils ne savent pas seulement und koennen nicht einmal
l’orthographe. orthographice schreiben.
Il y en a d’autres, qui Es giebt noch andere, die
n’ont apris que deux nur 2. Monath Franzoesisch
mois le françois, & gelernet, und sich dennoch
ne laissent pas d’enseigner, unterstehen zu informiren
& d’avoir des Ecoliers. und Scholaren anzunehmen.
Il en êt de même de Also ist es auch mit dem
la Danse, chacun se Tantzen beschaffen, jedermann
mêle de montrer à unterstehet sich im Tanzen
danser. zu informiren.
Et il y en a assés ici, Und es giebt ihrer hier so viel,
pour en fournir à toutes daß man koente alle Staedte in
les villes d’Allemagne. Teutschland darmit versorgen.411

28In den 1740er bis 1760er Jahren erschienen Damengrammatiken vor allem in Deutschland.29 Beck-Busse spricht von einer „première phase d’‚accumulation’“ ou de ‚condensation’“.30 Es handelt sich wieder um die imitative Richtung31 mit Dialogen und Interlinearversion. Gottfried Steinbrecher publiziert seine Grammaire32 in Dresden, David Étienne Choffin seine Nouvelle Grammaire A l’Usage des Dames33 in Berlin, Christian Gottfried Hase34 in Halle und Henrich Martin Gottfried Köster35 in Frankfurt.

 

In den 1770er und 1780er Jahren dominieren Grammaires des Dames, die in Frankreich bzw. im französischsprachigen Raum erschienen. Beck-Busse hat herausgeabeitet, dass

das für den französischsprachigen Raum wichtigste Assoziationsmuster auf der Beziehung ‚der Damen‘ zur Orthographie [beruht], […] was insofern kaum überrascht, als die am Latein orientierte, etymologisierende (Recht-) Schreibung des Französischen gemeinhin als die zentrale Schwierigkeit des weiblichen Geschlechts begriffen wird.“36

Die Orthographie wird somit zum „zentralen Referenzpunkt der Lateinunkundigkeit“.37 Häufig griffen die Autoren auf die Herausgeberfiktion zurück, wählten ein weibliches Pseudonym oder gaben keinen Namen an. Die Ausstrahlungskraft und, wie es Beck-Busse resümiert, die „Plakativität der Formel Grammaire des Dames38 führten dazu, dass 1776 eine Damengrammatik ohne Autor oder Nebentitel erschien. Als Verfasser wird im Sinne der Herausgeberfiktion nur der Anfangsbuchstabe P *** angegeben.39 Der vollständige Nachname wird nur in der Schlussformel der Widmung erwähnt und typographisch hebt sich die in Kleindruck verfasste Ergebenheitsformel von der in Majuskeln abgesetzten Dame ab: „Je suis, avec le plus profond respect, MADAME, de Votre Altesse Sérénissime, Le très-humble & très-obéissant Serviteur, Prunay.“40 An den eigentlichen Titel wird typographisch schon der Inhalt des Werks als Mini-Résumé beschrieben:

Où l’on trouvera des principes sûrs & faciles, pour apprendre à Orthographier correctement la Langue française, avec les moyens de connaître les expressions provinciales, de les éviter, & de prévenir, chez les jeunes Demoiselles, l’habitude d’une prononciation vicieuse, Dédiée à Son Altesse Sérénissime Madame la Princesse de Lambalen Surintendesse de la Maison de la Reine.41

Der Autor Prunay, „Chevalier de l’Ordre Royal et Militaire de Saint-Louis“,42 widmet seine Damengrammatik der Princesse de Lamballe. In der Préface stellt er die Schwerpunkte seiner Grammaire des Dames43 vor: „Il axe son ouvrage sur la bonne éducation, sur le bon ton, la correction, l’élégance de justesse auxquels doivent parvenir les ‚jeunes demoiselles’“44 Prunay zeigt, dass „Une Dame possède de façon innée l’art de la conversation“,45 unterstreicht aber auch die Rolle der Orthographie:

Une Dame, par exemple, fait tout le plaisir d’une conversacion, par son esprit, par les grâces qu’elle fait répandre sur tout ce qu’elle dit, par les expressions fines et délicates dont elle se sert; que cette même Dame s’exprime par écrit, il semble que ce ne soit plus la même personne […].46

Prunay nimmt die Rosen- und Dornenmetapher von Abbé Bencirechi auf und zeigt, dass seine Damengrammatik, die

moins chargée que les autres [grammaires conventionnelles, A. R.], débarassée de ses épines ordinaires; & ornée de quelques fleurs, ne pourra que plaire aux Dames, & que les jeunes Demoiselles y apprendront, promptement, en s’amusant & sans fatiguer leur mémoire, ce que notre Langue a de plus essenciel, tant pour l’expression que pour l’Ortographe.47

Es handelt sich hierbei um einen Aspekt der intrinsinschen Motivation. Durch das freudvolle Lernen („plaire“), „en s’amusant“ wird ein Lernfortschritt erzielt. Neben Kurzgeschichten wird unter der Rubrik Alphabet français auch ein Sonett verwendet:

Il serait à souhaiter que tous les pêcheurs eussent des sentiments de pénitence, pareils à ceux qu’on trouve décrits dans ce fameux Sonnet de Desbarreaux. Il est si beau pour l’expression & les sentimens, que je suis persuadé qu’on ne sera pas fâché de le retrouver ici.48

1785 erscheint in Genf eine äußerst erfolgreiche Damengrammatik, die danach sechsmal in Paris aufgelegt wird. Es handelt sich um die Grammaire des Dames ou Nouveau Traité d’orthographe Françoise des Abbé Louis Barthélémy.49 Das Werk ist Madame la Comtesse de Genlis gewidmet. Wie Prunay stellt auch Barthélémy in seiner Préface mit Enthusiasmus die Vermittlung der französischen Sprache für das weibliche Publikum dar als „celle qui a le plus de disposition à la perfection; son caractere consistant dans la clarté, la pureté, la finesse & la force.“50 Die Darstellungsweise der Damengrammatik soll so einfach und so präzise wie möglich sein: „Dans cet Ouvrage, destiné principalement aux Demoiselles, les élémens de notre Langue seront présentés de la maniere la plus simple & la plus précise.“51 Dabei verweist er mehrfach auf die clarté der französischen Sprache und bezieht sich damit auf die zwei Jahre zuvor von Rivarol52 gegebene berühmte Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie: „Si cet ouvrage n’a pas le mérite de la nouveauté dans le choix de la matière, […], j’ose dire qu’il aura celui de la clarté.“53 „L’Orthographe des Dames“ nimmt hierbei einen wichtigen Platz ein und illustriert gewissermaßen Barthélémys Aussagen. Seine Grammatik soll das (weibliche) Publikum unterhalten und nicht trocken-monoton, also weltfremd und deshalb abstoßend wirken wie der traditionelle, deduktive (Latein-) Unterricht:54 „l’orthographe [….] avait besoin d’être présenté sous des dehors moins arides & moins rebutans.“55 Deshalb folgt Barthélémy der imitativen Richtung56 und integriert Textsorten wie „verschriftlichte Dialoge oder einfache zielsprachliche Texte“,57 historische Anekdoten, Zitate und Gedichte, die eine semantische Nähe zur Gattung Lied haben. Jedes Grammatikphänomen wird durch eine kurze Definition eingeführt, kursiv hervorgehoben und dann anhand eines kurzen Gedichts zusammengefasst. Dabei soll der Reim auf spielerische Weise nicht nur die Damen unterhalten,58 sondern auch beim Memorisieren der Beispiele helfen:

DES DIPHTHONGUES.

Plusieurs voyelles sont-elles réunies dans une syllabe, pour se prononcer par une seule émission de voix? C’est ce qu’on appelle diphthongue. Ainsi ces vers:

Il n’est point de cœur sans desir,

Ni d’espérance sans plaisir;

Je jouis quand mon cœur s’amuse

A se repaître avec ma muse

Des chimeres de l’avenir.

Les voyelles des mots cœur, plaisir, jouis, repaître, font des diphthongues

Parce qu’elles se prononcent par une seule émission de voix.59


DIPHTHONGUES. PRONONCEZ
Caen sans e: cân
Faon
Laon sans o: fân, lân, pân
Paon442

Barthélémy widmet der Aussprache einen wichtigen Teil seines Orthographiekapitels. Damit kündigt sich schon die wachsende Bedeutung der Phonetik bei der neusprachlichen Reformbewegung und der direkten Methode an. Da es zu Barthélémys Zeit noch keine genormte Ausspracheschrift gab (das Alphabet Phonétique International wurde erst 1888, also ein Jahrhundert später, entwickelt), transkribiert Barthélémy mit einem accent circonflexe.

Drei Jahre später erweitert Barthélémy sein Textrepertoire mit einer weitgefächerten Liedersammlung, bei der die Musik eine tragende Rolle in der Grammatikvermittlung erhält: La Cantatrice grammairienne. Der Titel bereits ist ein methodisches Programm: das Epitheton charakterisiert die Rolle der Cantatrice, sie zeichnet sich durch die Grammatik aus. Auch typographisch wird die Bedeutung der Sängerin unterstrichen durch die Majuskel und den Großdruck des Nomens CANTATRICE. Sie allein steht im Mittelpunkt.

Es handelt sich also um eine Grammatik, die auf musische Weise (im Sinne der imitativen Richtung60) durch eigenständiges, autonomes Lernen „sans le secours d’un maître“61 vermittelt werden soll. Das breitgefächerte Repertoire der Lieder wird wie bei Prunay bereits im Titel ausführlich dargestellt und hat die Funktion eines Mini-Résumé:

La Cantatrice grammairienne, ou l’Art d’apprendre l’Orthographe Françoise seul, sans le secours d’un maître, par le moyen de Chansons érotiques, pastorales, villageoises, anacréontiques, & tc. Avec un portrait des Poëtes chansonniers les plus agréables de notre nation, & un modele de Lettres mélées de réflexions sur le style épistolaire. 62

Das Lied-Repertoire umfasst ein buntes Florilège an Gattungen, an deren Anfang die Chansons érotiques63 stehen – ein Beweis dafür, dass ein genre populaire für ein freudvolles,64 lebendiges, motivationsgeladenes und unterhaltsames Lernen65 sorgt. Das wird auch durch das Motto auf dem Titelblatt „En instruisant, cherchons à plaire“ unterstrichen. Die Damengrammatik ist Madame la Comtesse de Beauharnais66 gewidmet. Wie Prunay gibt Barthélémy seinen Namen auf der Titelseite nicht an: „OUVRAGE destiné aux Dames, & dédié à Madame la Comtesse DE BEAUHARNAIS. Par M. l’Abbé ***, de Grenoble.“67 Auch in der Zueignungsformel an Comtesse de Beauharnais unterzeichnet er als „Votre très-humble & très obéissant serviteur, l’Abbé ***.“68 Barthélémy verbindet einen Prosatext mit mehreren Liedern, gefolgt von „réflexions sur le style épistolaire“.69 Er erkennt eine Affinität von Damen und Gesang und hält dies für ein angeborenes Charakteristikum: „L’humeur chansonnière, en général, est un des caractères des femmes: tristes ou gaies, elles chantent toujours; & l’on diroit que la chanson est l’expression naturelle de tous leurs sentiments.“70 Deshalb soll eine Damengrammatik spezifisch für die Frauen das Wissen angenehm, lebensnah und mit freudvoller Motivation vermitteln, wozu sich Lieder ideal eignen: „[…] il faut aux femmes un savoir qui soit d’accord avec leurs traits; par conséquent les connoissances qu’elles desireront acquérir doivent être celles qui sont d’un usage agréable pour la vie […].71 Der Einsatz von Liedern erleichtert nicht nur das Lernen, sie sind ein wichtiger Pfeiler seines didaktischen Konzepts, das erfolgreich sein wird, denn: „[Il est possible d’] apprendre sa langue en chantant.“72 Bei Barthélémy fungiert das Lied als Hilfsmittel, als motivationsgelenktes Element zur Wiederholung bzw. zum mnemotechnischen Einschleifen und zur Zusammenfassung der Grammatikregel. Wie Prunay betont Barthélémy bei allen Kompetenzen auch hier die Bedeutung einer korrekten Orthographie:

 

L’étude de la langue ne devroit-elle pas avoir le premier pas sur toutes les autres? L’orthographe n’est-elle pas une partie de cette étude à laquelle elles doivent donner le plus d’attention? „Orthographiez, orthographiez, disons-nous sans cesse aux femmes, si vous voulez que nous vous lisions avec tout intérêt que la fraîcheur & le brillant de votre coloris nous inspirent.“73

Hierbei zeigt sich, dass seine Damengrammatik anwendungsorientiert und utilitaristisch ist: Die Einführung in die Orthographie und die Wortarten dient dem Verfassen von Briefen, dem damals verbreiteten Betätigungsfeld der Damen. Die Grammaires des Dames sind also funktionale Gebrauchsgrammatiken.74

Gleich zu Beginn seiner Cantatrice grammairienne deutet Barthélémy an, warum er ein lernerorientiertes, abwechslungsreiches Lernen ermöglichen will: „L’ennui naquit un jour de l’uniformité.“75 Dem freudvollen Lernen („plaisir“) wird somit als Negativfolie die Langeweile („l’ennui“) entgegengesetzt. Interessanterweise deckt sich diese Klassifizierung mit den beiden von Marcus Reinfried beschriebenen methodischen Hauptrichtungen, der imitativen und traditionell-deduktiven Richtung.76 Diese Einteilung ergänzt die Synthese von Beck-Busse:77


PLAISIR ENNUI
variété uniformité
geschmeidige Anordnung starrer Aufbau
Plauderton, Gespräch Vortrag
Briefe, Verse Wissenschaftsprosa, Traktat
unterhaltend dozierend
von gleich zu gleich von oben herab
herrschaftsfrei belehrend
soziabel unsoziabel
dialogisch monologisch
kurzweilig langatmig
abwechslungsreich eintönig
handlich unförmig
clarté l’obscur
induktiv deduktiv
Praxisbezug, Anwendung, Übung Theorie
Beispiele Regeln
anschaulich metaphysisch

Barthélémy kämpft somit gegen die Monotonie des (traditionellen) deduktiven lateinzentrierten Unterrichts und setzt sich ein für eine Öffnung des Französischunterrichts, indem die grammatischen Regeln imitativ erst durch das Lied verifiziert und dann angewendet werden durch den Akt des gemeinsamen Singens:

Diversité sera la devise d’une production à laquelle j’avois cru d’abord ne pouvoir ravir la monotonie qui paraissoit en être le partage. Je prie les dames de ne faire que de très-courtes réflexions sur le précepte. Les chansons qui le confirment, diront plus que le précepte lui-même.78

In der Liedstrophe wird das grammatische Phänomen vorgestellt und im Text kursiv hervorgehoben. Im Refrain dieser chansons grammaticales wird die Regel aufgenommen und verifiziert: „Les chansons qui suivent justifieront le précepte.“79 Um den Unterricht kurzweilig und lernerzentriert, also erfahrbar für alle, zu gestalten („à la portée de tout le monde“), verwendet Barthélémy bekannte Melodien populärer Autoren und auch Volkslieder aus zeitgenössischen Liedersammlungen, die als tube oder Ohrwurm zum damaligen Gemeingut gehörten und einen lieu commun bildeten:

Nous avons extrait des meilleurs recueils, celles qui étoient marquées au coin du bon goût & qui pouvoient se chanter sur des airs connus, afin que l’ouvrage fût à la portée de tout le monde. Les meilleurs couplets qui aient été faits dans notre langue, y ont trouvé place. Les noms des auteurs justifieront d’ailleurs notre choix.80

Der Rückgriff auf Bekanntes, „des airs connus“, folgt einer pädagogischen Progression vom Bekannten zum Neuen, dem oben dargestellten didaktischen Konzept Vom Eigenen zum Fremden.81 Die Technik der Kontrafaktur ermöglicht so eine Breitenwirkung im bildlichen Sinne einer tache d’huile: Alle Lernerinnen können die (am Beispiel kursiv dargestellte) neue Regel ad hoc singen und internalisieren, da ihnen die Melodie schon bekannt ist, was immer explizit angegeben wird, z. B. „Cette chanson faite sur l’air: Vous qui du vulgaire stupide est adressée à une aimable Glycere, & désigne très bien les articles.“82 Gleichzeitig dient die Reimstruktur als mnemotechnisches Instrument zum Memorisieren der grammatisch-lexikalischen Regel. Die Vermittlung erfolgt induktiv, dialogisch, gewissermaßen ungezwungen im Plauderton durch ein inklusives nous:

Chantons avec Mad. Dugason, les trois couplets qu’on trouve dans la scene sixieme de La folle par amour: ils nous donneront l’idée la plus satisfaisante du futur.83

Quand le bien-aimé reviendra

Près de sa languissante amie,

Le printemps alors renaîtra,

L’herbe sera toujours fleurie;

Mais je regarde …. hélas! … hélas!…

Le bien-aimé ne revient pas!…84

Barthélémy setzt diese Technik auch als Illustration der Grammatikregel, als Wiederholung, Festigung und zur Ergebnissicherung ein. Zum divertissement wird ein (damals bekanntes) Spottlied gesungen:

Les dames chanteront avec plaisir la chanson suivante qui vient à l’appui de la même règle. Elle est sur l’air: Annette à l’âge de quinze ans. Mad. De F**, qui railloit M. de Goud ** sur la petitesse de sa taille:

Il est vrai, je ne suis pas grand;

Mais cet illustre conquérant,

Cet Alexandre qui vainquit,

Chacun le nomme

Un très-grand homme,

Quoique petit.85

Die hier beschriebene Szene bezieht sich auf Barthélémys Motto „Il est agréable d’apprendre sa langue en chantant“86 und entspricht fast detailgetreu der Frontispizseite87 von La Grammaire en vaudevilles, ou lettres à Caroline88(Abb. 10, S. 141). Es werden drei junge Damen dargestellt, die anhand von Gesang die Grammatik wiederholen: in der Mitte des Bildes spielt eine junge Dame die Laute, rechts lehnt sich eine junge Dame mit verschränkten Armen an die Lautenspielerin und hört ihr andächtig zu, während die links gegenüber sitzende junge Dame die Hände wie eine Dirigentin im Takt der Melodie wiegt. Als Subtext steht unter der Abbildung: „Elles répètent leur grammaire en s’accompagnant de la guitare.“89 Diese Szene illustriert zwei interessante Aspekte zum Liedeinsatz: einerseits handelt es sich erstmalig um eine inhärente didaktische Funktion der Musik, andererseits wird mit dem Wiederholen und Nachahmen im Sinne der imitativen Richtung die zunehmende Bedeutung der Artikulation und Aussprache deutlich. Diese Elemente kündigen die spätere Entwicklung der neusprachlichen Reformbewegung an. Das Werk La Grammaire en vaudevilles wurde anonym veröffentlicht. Laut Barbier90 stammt das Werk von Barthélémys Schüler Antoine-Jean-Baptiste Simonnin.

Im Gegensatz zu Barthélémys Cantatrice grammairienne verzichtet Simonnin auf ein Zueignungsschreiben, da die Widmung an Caroline bereits im Titel erfolgte. Dafür setzt Simonnin vor die Préface ein zweiseitiges schwülstiges Widmungsgedicht.91 Im Sinne der Herausgeberfiktion erklärt Simonnin in der Préface:

Cependant je dois dire encore que la Grammaire en vaudevilles n’étoit pas destinée à l’impression. Ces lettres n’avoient d’abord été écrites que pour Mademoiselle Caroline de L ***, qui me les avoit demandées (elle seule pouvoit faire entreprendre une tâche aussi difficile à remplir.92

Die Préface kann als manifeste93 einer Grammaire des Dames betrachtet werden. Nach Simonnin ist seine Grammaire en vaudevilles die einzig wahre Grammatik, die die Bezeichnung Grammaire des Dames als Gütesiegel verdient:

Quelques livres ont paru sous le titre de Grammaire des Dames et Rudiment des Dames; je les ai lus entièrement, sans jamais y rien trouver qui pût véritablement justifier leur titre. Chacun de ces ouvrages est la grammaire des dames comme celle des hommes; je veux dire que la méthode de leurs auteurs, quoique très-bonne, d’ailleurs, n’a rien qui en rende la pratique plus agréable que celle des autres ouvrages de ce genre.94