Tod am Fließ - Zaplinski ermittelt

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Andreas Preiß

Tod am Fließ

Tod am Fließ – Zaplinski ermittelt

Ein Berlin-Wittenau-Krimi

Andreas Preiß

Für Silli


1. Auflage November 2020

Impressum

Texte: © Copyright by Andreas Preiß

Umschlag: © Copyright by Andreas Preiß

Verlag: Selbstverlag Andreas Preiß

Herbsteiner Str. 32 13435 Berlin andreas@preiss-info.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kamera läuft

Vor zehn Jahren

Der Junge wirkte wie vierzehn, schmächtig und mit zarten Gesichtszügen. Er saß nackt auf dem großen Polsterbett und sah mit leeren Augen über die Schulter zu dem überdimensionalen Wandspiegel. Dort hinzuschauen, das hatte man ihm eingebläut.

Der Mann, der neben ihm stand, entledigte sich gerade hastig seiner Unterhose. „Mach den Mund auf.“ Dann drehte er mit gierigem Blick den Kopf des Jungen zur Seite und schob seinen Unterleib vor.

Die hinter dem Spiegel versteckte Kamera lief da bereits und das Gesicht des Mannes ließ sich gut erkennen. Chang war sehr zufrieden. So einer hatte in seiner Sammlung noch gefehlt.

Abkürzung

Enrico Pape verließ den Friedhof. Er blickte nach oben in den grauen Himmel. Scheißregen, nicht heftig, aber auf Dauer unangenehm nervend. Er zögerte, ob er heute nicht lieber den längeren Weg an der Mühle vorbei nach Hause nehmen sollte. Hinten herum durch den Wald war es zwar deutlich kürzer, aber er würde sich Hose und Schuhe im Dreck ruinieren.

Bei einem Blick zum Boden war ihm allerdings sofort klar, dass da nicht viel mehr Schaden anzurichten war. Der Anzug musste eh in die Reinigung. Die Schuhe würden schon wieder trocknen. Außerdem fror er. Und hell genug war es gerade noch. Er schlug fröstelnd den Mantelkragen zum Schutz gegen den feucht-kalten Wind hoch. Dann beschleunigte er seine Schritte und bog hinter der Autobahnunterführung rechts zum Tegeler Fließ auf den Wanderweg in den Wald ab.

Als er nach einigen Minuten das kleine Tor am Zaun erreichte, nestelte er noch im Gehen sein Schlüsselbund aus der Manteltasche. Mit den kalten Fingern hatte er Mühe, den richtigen Schlüssel auszuwählen, zumal in diesem Dämmerlicht.

Als er ihn endlich herausgefiltert hatte und im Begriff war, die Zauntür aufzuschließen, beschlich ihn das ungute Gefühl, nicht alleine zu sein. Er wollte sich gerade umdrehen, um sich zu vergewissern, da hörte er ein britzelndes Geräusch.

Eine Millisekunde später traf ihn schon ein mächtiger stechender Schlag seitlich in den Hals. Unerträglicher Schmerz erfasste explosionsartig seinen ganzen Körper. Sein Gehirn registrierte noch verwundert, dass er stürzte, er wollte die Hände bewegen, um sich abzufangen. Vergeblich. Er war komplett verkrampft, paralysiert. Sein Körper gehorchte ihm überhaupt nicht mehr. Ein weiterer heftiger Schmerz bohrte sich in seinen Bauch, als er hart auf einen Aststumpf prallte.

Hilflos und mit verständnislos aufgerissenen Augen musste er ertragen, wie er an den Füßen über die Erde geschleift wurde. Sein Hinterkopf stieß gegen Steine und Wurzeln, Zweige streiften ihn schmerzhaft im Gesicht.

Dann plötzlich ließ man ihn los. Seine Beine fielen wie tote Äste auf den Boden. Er lag auf dem Rücken, hilflos wie ein Käfer. Es roch modrig. Er spürte Wasser, Matsch. Und Kälte. Bis auf die heiße Stelle im Bauch.

Ein Gesicht tauchte dicht vor seinem auf, schrie ihn an. Jemand kniete auf ihm, auf seiner Brust, er konnte kaum noch atmen. Er verstand lediglich Wortfetzen.

„Drecksau … Schwein …mir angetan …?“

Wer zur Hölle ist das? Was soll das?, fragte er sich.

Im Dunkeln konnte er nichts erkennen. Schläge trafen hart sein Gesicht, links, rechts, links, rechts, klatsch, klatsch. Gebrüll. Spucke sprühte in seine Augen. Er blinzelte, hatte den Impuls sich das Gesicht zu schützen, aber seine Hände wollten nicht, konnten nicht.

Wegen dieser Hilflosigkeit überkam ihn unbändige Wut. Er wollte brüllen, um sich schlagen, konnte es aber nicht. Hustete nur. Krächzte nur. Kassierte – peng – wieder einen Schlag. Auf das rechte Ohr, das sofort mit einem schrillen Pfeifen reagierte. Und noch eine Backpfeife, und wieder, links, rechts, links. Er wollte sich wegdrehen. War aber ausgeliefert.

„Sieh … mich … an!! Los … sieh mich an“, befahl die wutverzerrte Fratze.

Er reagierte nicht. Weil er nicht reagieren konnte. Erneut spürte er diesen gewaltigen blitzähnlichen Schlag am Hals. Das Gesicht näherte sich und zischte ihm etwas ins Ohr. Ja, jetzt erinnerte Enrico sich. Wegen dieser Lappalie so ein Stress?? Das war doch überhaupt nichts Persönliches gewesen. Rein professionell.

„… feiges… Stück… Scheiße…!“, brüllte ihn die Stimme wieder an.

Enrico wollte den Kopf heben, etwas sagen. Doch es gelang ihm einfach nicht.

„Feiges… Arschloch … damit … weißt, wie … das anfühlt ...“, schrie die Stimme. Sie überschlug sich und er verstand nicht alles.

Dann explodierte der bekannte Schmerz wieder in ihm. In seinen Hoden. Einmal, und noch einmal und wieder. Sein Körper zuckte unkontrolliert, er stand kurz vor einer Ohnmacht.

„Aber ich … sollte nur … ich …wollte nur“, krächzte er mühsam. „Chang …, Chang hat …“

Das Gesicht vor ihm war überrascht, blickte ihn verwirrt an. „Chang?“

Er versuchte zu sprechen. Aber in ihm war keine Energie mehr. Nur ein unverständliches Brabbeln drang aus seinem Mund. Als er das Bewusstsein verlor, fühlte sich das herrlich an. Den hektischen Versuch, ihn durch Schütteln und Ohrfeigen und Anbrüllen wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen, registrierte er nicht mehr. Dann war da nur noch Ruhe und Enrico Papes Kopf rutschte langsam in das morastige Wasser.

Aufstehen

Der unangenehme Druck auf seine Blase hatte ihn langsam aber stetig aus dem Tiefschlaf geholt. Dieter Zaplinski drehte sich auf die Seite und versuchte, dadurch das schmerzhafte Gefühl zu lindern und das Aufstehen noch etwas hinauszuzögern. Aber es half nichts, diese Nacht war vorbei.

Er öffnete träge ein Auge und blinzelte. Durch die leicht verbogene Alujalousie fiel trübes Herbstlicht in das Schlafzimmer und ließ die interessant in der Luft tänzelnden Staubpartikel sichtbar werden. Er schloss die Augen wieder.

Schlafzimmer, die Bezeichnung traf es nicht ganz. Denn Zaplinskis 30-Quadratmeter-Appartment bestand nur aus einem Raum. Eine chaotische Melange von Wohnen, Schlafen und ausnahmsweise Kochen. Wobei: Kochen auch das falsche Wort war. Aufwärmen von Fertigprodukten mittels Mikrowelle träfe es besser.

Den Begriff Ordnung kannte der langjährige Single Dieter Zaplinski zwar, er spielte für ihn mangels weiblicher Sozialkontrolle aber nur im beruflichen Kontext wirklich eine Rolle: Sicherheit und Ordnung. Denn Zaplinski war Polizist. Kriminalpolizist, um es korrekt zu sagen.

Erster Kriminalhauptkommissar bei der Berliner Polizei. Abgekürzt EKHK, Besoldungsgruppe A 13, wie es amtlich hieß. Der „Epi“, der Erste Polizeihauptkommissar, wie der vergleichbare Rang der Uniformierten lautete, war der Enddienstgrad im gehobenen Dienst. Nur wenige erreichten den vor ihrem Ruhestand. Etliche von Zaplinskis Kollegen vertraten die Ansicht, es wäre überhaupt nur den alten Epis zu verdanken, dass die Polizei noch funktionierte.

Die Führungskräfte eine Hierarchieebene weiter oben – wegen ihrer güldenen Abzeichen gerne auch „Goldfasane“ genannt – würden dagegen die Arbeit eher behindern. Der sogenannte höhere Dienst – oder wie Zaplinski abfällig immer gerne sagte: „Der abgehobene Dienst“ – war mit seinen unsäglichen Controlling-Kennzahlen, Zielvereinbarungen und Statistik-Wettbewerben furchtbar weit weg vom wirklichen Leben, fand Zaplinski. Als wäre innere Sicherheit zu managen wie ein Wirtschaftsunternehmen.

Dieter Zaplinski ging langsam auf die Sechzig zu und war Polizist aus Überzeugung. Seit zehn Jahren leitete er die Mordkommission Nord bei der Wittenauer Kripo. Die stressige Arbeit schien ihm, der frei von jedem belastenden familiären Anhang und sonstigen privaten Verpflichtungen war, wie auf den fülligen Leib geschneidert. Ruf-Bereitschaften, Alarmierungen, haufenweise Überstunden, das juckte ihn nicht. Und beim Feierabendbier trudelte er oft als Letzter nach Hause. Na ja, dahin halt, wo das zuletzt in grauer Vorzeit frisch bezogene Schlafsofa ihm die Gelegenheit zum Ausschlafen bot. Genau dort lag er nun und kramte in seinem schummrigen Schädel nach Informationen.

„Freier Tag“, kombinierte Zaplinski, da der Wecker ihn nicht mit „We will rock you“ von Queen geweckt hatte.

„Hell … könnte morgens sein …“, schlussfolgerte Zaplinski weiter, nachdem er zögerlich wieder ein Auge geöffnet hatte.

Er nötigte das zweite Augenlid ebenfalls dazu, sich nach oben zu heben. Das Display des Radioweckers stanzte rote Ziffern in seine Netzhäute. Sein Gehirn fügte sie träge zu einer brauchbaren Information zusammen: 12:45 Uhr.

Zaplinski warf einen Blick auf die Smartwatch, die seine Kollegen ihm zum 40-jährigen Dienstjubiläum geschenkt hatten. Sie zeigte die gleiche Uhrzeit.

„SUN“, teilte ihm das Display mit, Sonntag. Er hatte die Uhr schätzen gelernt, fand es nützlich, Anrufe damit anzunehmen, Wetterbericht und Sportnachrichten am Handgelenk zu lesen. Leider zählte das Gimmick auch Schritte. Nach jeder bewegungsarm am Schreibtisch oder Tresen verbrachten Stunde nervte die Uhr ihn mit einem energischen Brummen. Ein hektisch im Display mit den Armen ruderndes Männlein forderte ihn dann zu körperlicher Aktivität auf.

 

„Sie sitzen zu lange!“, stand dann da.

Zaplinski, der seinen mangelnden Bewegungsdrang im Gegensatz zu seiner Uhr und den lieben Kollegen überhaupt nicht änderungsbedürftig fand, pflegte dem Strichmännchen mit der anderen Hand ein paar Mal zurück zu winken. Das gab dann wieder eine Stunde Ruhe.

Wie man den Quälgeist abstellen konnte, das hatte er noch nicht herausgefunden.

Zaplinskis massiger Körper verspürte immer noch den dringenden Wunsch weiter liegenzubleiben und er klappte beide Augenlider schützend wieder zu. Aber volle Blase und schmerzender Rücken ließen sich partout nicht mehr ignorieren. Es half alles nichts, er würde aufstehen müssen.

Er zwinkerte ein paar Mal den Schlaf weg und öffnete schließlich vorsichtig die Augen. Dann tastete er nach dem Apnoe-Gerät, das nachts Luft mit Überdruck in seinen Schlund presste und damit das Schnarchen verhinderte. Verdiente Strafe für übermäßigen Lebensmittel-und/oder Alkoholkonsum. Er fand den Aus-Knopf und das Brummen des Kompressors erstarb.

Das ganze Konstrukt mit der Nasenmaske und dem flexiblen Luftschlauch ließ ihn wie eine in die Jahre gekommene Billigversion von Darth Vader aussehen. Er gähnte ausgiebig und zog das elastische Kopfgeschirr von seinem Schädel. Zaplinski genoss kurz die Ruhe und setzte sich umständlich an der Kante seines Schlafsofas auf.

Nicht nur einmal hatte er das Absetzen der Maske unter dem Stress heftigen morgendlichen Harndrangs vergessen. Was dann dazu führte, dass er die komplette Gerätschaft, samt Netzteil wie einen widerspenstigen kleinen Köter polternd hinter sich her Richtung Klo schleifte.

Nur gezwungenermaßen hatte er sich vor ein paar Jahren im Schlaflabor der Charité durchchecken lassen. Klar, gelegentlich gab es da mal ein Nickerchen am Schreibtisch, na und? Die Kollegen hatten anfangs noch feixend Fotos geschossen, wenn er mit offenem Mund eingeschlafen war, die Füße auf dem Tisch. Einmal hatten sie es sogar gewagt, so einen Pappanhänger an seinem großen Zeh zu binden, wie er ansonsten nur an Leichen angebracht wurde. Sehr witzig.

Aber sein damaliger Chef hatte irgendwann genug von seinen Auszeiten gehabt. „Zaplinski, so geht das nicht weiter. Entweder du unternimmst was dagegen oder du bearbeitest demnächst in Rudow Ladendiebstähle.“

Ladendiebstähle „verwalten“ und das in Rudow? In einer Ecke von Berlin, die von seiner Wohnung und von Monis Kneipe gefühlt so weit entfernt war wie Wladiwostok?

Der Zyniker in ihm hatte sich gefragt: Wurden Ladendiebstähle in Berlin überhaupt noch strafrechtlich verfolgt? War die Höchststrafe dafür nicht inzwischen drei Tage Schokopuddingverbot zum Nachtisch?

Zaplinski hatte sich widerwillig für das kleinere Übel entschieden.

Minutenlange Atemaussetzer hatten die nächtlichen Aufzeichnungen dann ergeben. „Lebensverkürzend ist das. Nicht so harmlos, wie Sie glauben, Herr Zaplinski. Da werden Stresshormone ohne Ende ausgeschüttet. Das schädigt ihr Herz auf Dauer gewaltig und verkürzt ihre Lebenserwartung“, hatte der Arzt ihm in ernstem Ton verkündet.

Das fand Zaplinski dann doch nicht so prickelnd und er war bereit gewesen, sich das Gerät fast im Wortsinne aufs Auge drücken zu lassen.

Beim ersten Gebrauch zu Hause hatte er die Klett-Strapse der Maske noch etwas zu stramm festgezurrt. Anfängerfehler. Die Abdrücke waren morgens im Büro sofort aufgefallen.

Statt „Guten Morgen“ hatte er zu hören bekommen: „Na, war wohl ne harte Nacht, Dieter. Du stehst neuerdings auf Fesselspielchen? Interessant …“

Der Begriff Feinfühligkeit kam im Wortschatz seiner Kollegen nicht vor. Frei nach dem Motto: Lieber einen Freund verlieren, als auf einen guten Witz verzichten. Zaplinski musste grinsen, denn der Spruch passte durchaus auch auf ihn. Wer austeilt, muss auch einstecken können.

Mittlerweile hatte Zaplinski sich nicht nur mit dem Gerät arrangiert, sondern es tatsächlich zu schätzen gelernt. Keine Spur mehr von Tagesmüdigkeit. Mit dem Gerät schlief er jetzt regelmäßig um die acht Stunden und fühlte sich morgens ausgesprochen fit. Insofern konnte er jetzt relativ exakt sagen, dass er letzte Nacht etwa gegen kurz vor fünf Uhr früh ins Bett gefallen sein musste.

Zaplinski gratulierte sich triumphierend zu seiner heutigen Umsicht, die Maske vor dem Aufstehen abzunehmen. Er stemmte sich von der Sofakante hoch, ließ sich zu einem Ausfallschritt hinreißen und stieß mit einem lauten Yessss die geballte Faust vor. Wie ein Eishockeyspieler im Madison Square Garden, der gerade den Puck ins Netz geschmettert hat.

Allerdings meldete sich Zaplinskis rechtes Knie sofort schmerzhaft zu Wort. Der „Wayne-Gretzky-Move“ war aufgrund des Knorpelschadens vierten Grades keine so gute Idee gewesen.

Zaplinski, einst ein leidenschaftlicher Fußballer, hatte bereits mit Mitte zwanzig wegen des kaputten Knies die Schuhe an den Nagel hängen müssen. Da er bisher standhaft das Ersatzgelenk verweigert hatte, begleitete ihn ein ständiger Knieschmerz. Aber ab und an zwei Voltaren-Kapseln und zweimal im Jahr eine Behandlung mit Blutegeln hielten die Beschwerden einigermaßen in Schach. Wenn das so bliebe, dann würde kein noch so toller Chirurg Zaplinskis Gelenk von innen zu sehen bekommen.

Er reckte und dehnte den schmerzenden Rücken. Dann schlurfte er ins Bad und ließ sich auf dem Toilettensitz nieder. Dieser antrainierte Verhaltensreflex war ein Relikt aus seiner letzten verflossenen Beziehung. Allerdings hatte die langwierige und am Ende erfolgreiche Umerziehung vom Steh-zum Sitzpinkler die Trennung auch nicht verhindern können. Seitdem war da niemand mehr gewesen, der sich über ein ungeputztes Klo oder Kalk in der Duschkabine beschwerte.

Leider. Er seufzte. Manchmal beneidete er diese schöne heile Welt der anderen schon sehr, diese kompletten Familien, die so vertraut miteinander umgehenden Paare.

Arbeit

Er fuhr sich kratzend mit den Fingern über den alters-behaarten Bauch. Dann trottete Zaplinski zur Kochnische und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Der mit Abstand luxuriöseste Einrichtungsgegenstand in der Behausung erwachte lärmend zum Leben. Zaplinski nahm eine schon geöffnete Packung Milch aus dem Kühlschrank und schnüffelte skeptisch daran. Mit dem Ergebnis zufrieden, füllte er den Milchbehälter, stellte ein hohes Glas unter die Maschine und drückte im Display auf Latte Macchiato. Das Gerät begann krachend die Bohnen zu schreddern und blies mit einem Zischen die Milchdüse frei. Zaplinski gähnte ausgiebig und fuhr sich mit der Hand durch die wie immer widerspenstig hochstehenden und noch erstaunlich vollen grauen Haare.

Als der elektrische Barista mit der Zubereitung fertig war, genoss Zaplinski den frischen Duft und nahm seufzend den ersten Schluck. Dann ging er zurück ins Bad. In seinem Alter schaffte man es morgens nie, die Blase beim ersten Mal zu leeren.

Zaplinski hockte sich wieder auf die Klobrille und genoss mit selig-dümmlichem Gesichtsausdruck den nachlassenden Druck. Da brummte sein Handgelenk.

Die Rufnummer, die seine Smartwatch jetzt anzeigte, begann mit 4664 … Er kannte sie nur zu gut: Lagezentrum, sprich Arbeit, sprich freier Tag adé. Was soll's, anderweitige Pläne hatte es eh nicht auf seiner Agenda gegeben.

Ein junger Zaplinski wäre jetzt sofort aufgesprungen, um den Anruf entgegenzunehmen. Aber der alte Silberrücken hatte die Ruhe weg. Er nahm grundsätzlich nie vor dem dritten Klingelzeichen ab. Oft genug erledigten sich Anrufe bis dahin von selbst.

Seine Erfahrung hatte ihn auch gelehrt: Wenn man uns ruft, ist eh alles gelaufen. Feuerwehr und Notarzt: die müssen fix sein, Leben retten, okay, da ist Schnelligkeit gefragt. Aber wir, wir fegen doch nur hinterher die Scherben auf.

Unchristliche Eile schadet nur, war sein Grundsatz und den predigte er auch seinen Mitarbeitern. Zaplinski ließ also das Handy weiter dudeln und laufen, was laufen musste. Noch so ein Prinzip: Erstmal Einsatzbereitschaft herstellen! Mit anderen Worten: Geh noch mal aufs Klo, du weißt nicht, wann die nächste Gelegenheit kommt. Und fünf Meter neben einer Leiche gegen den Baum pinkeln? Das konnte in Zeiten wo ständig irgendein Honk Handyfotos von allem und jedem schoss, nur eine Idee sein für jemanden, der auf seinen kurzen Moment der Weltberühmtheit scharf ist.

Zaplinski stand auf, zerrte die Unterhose halbherzig über den schlaffen Hintern und griff sich das Smartphone vom Beistelltisch neben dem Bett. In der Telefonbuch-App wischte er sich durch zu „Kolbow, Bernhard“. Wenn das Lagezentrum ihn nicht erreichte, versuchte man es automatisch bei seinem Stellvertreter.

Der war wie gewohnt nach dem ersten Klingeln gleich dran. „Hallo Zappa. Leiche in Öffentlichkeit, Fremdverschulden. Tegeler Fließ. Magga holt dich gleich ab.“

Der Erste Kriminalhauptkommissar gähnte noch einmal mit Inbrunst. Dann machte er sich wieder auf den Weg ins Bad, unter die Dusche. Damit er fertig war, wenn Magga käme. Małgorzata Czerny, seine neue Mitarbeiterin.

Beim ersten Kennenlernen war das Gespräch auf ihre polnische Herkunft gekommen. Ihre Familie stamme aus Danzig, hatte sie erzählt und Zaplinski gefragt, wo in Polen denn seine Wurzeln liegen würden. Als er daraufhin überrascht den Kopf schief gelegt hatte, hatte sie ihm erklärt, sein Name wäre ja wohl definitiv auch polnischen Ursprungs. Das war ihm neu gewesen. Tatsächlich hatte er bisher noch nie einen Gedanken an die Geschichte seines Familiennamens verschwendet. Aber er war neugierig geworden und fand später im Internet heraus, dass Magga recht gehabt hatte.

Sein Nachname war eine Ableitung von einem Ort namens Czaplin nahe Warschau. Zaplinskis Familie allerdings lebte schon seit Generationen in Berlin und ließ sich nicht konkret nach Polen zurückverfolgen. Na gut, so ernsthaft hatte er auch nie in seinem Stammbaum nachgeforscht.

Als er schon mal dabei war, hatte Zaplinski auch seinen Vornamen durch die Suchmaschine gejagt. Eine der Bedeutungen von „Dieter“ lautete da: „Der Reiche des Volkes“, aber das passte angesichts seines Kontostandes eher nicht. Die Version „Herrscher des Volkes“ allerdings hatte Zaplinski ausnehmend gut gefallen.

Dieter Zaplinski, Herrscher des Kripovolkes von Wittenau. Das hörte sich doch passend an, fand er in einem Anflug von Größenwahn.

Vor seinem geistigen Auge sah er sich in einer Tunika mit Lorbeerkranz und in Feldherrenpose auf einem Hügel vor seinen kampfbereiten Kohorten posieren.

Bereit zum Kampf gegen das Böse.