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3.2.3 KlAGG

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Durch das Gesetz vom 2.8.1994 für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts (KlAGG)[54] wurden auf vielen Gebieten Erleichterungen für mittelständische Gesellschaften geschaffen, die bisher die Rechtsform einer AG gemieden und stattdessen die GmbH gewählt hatten. Die kleine AG sollte die AG für mittelständische Unternehmen im Generationswechsel nutzbar machen, wobei insbesondere die klare „Gewaltenteilung“ von Geschäftsführung und Anteilseignern als vorteilhaft gegenüber der personalistisch ausgerichteten GmbH gesehen wurde. Ferner sollte die kleine AG eine Zwischenphase auf dem Weg zur Publikumsgesellschaft bieten und dadurch die deutschen Unternehmen zum Börsengang animieren. Das ist gelungen, wenn auch nicht alle Börsenblüten aufgegangen sind (2001/2002 – Scheitern des Neuen Markts). Die kleine AG war der Beginn eines Schismas innerhalb des Aktienrechts in geschlossene Aktiengesellschaft und Börsengesellschaft. Die weitaus größere Zahl der AG sind heute kleine AG (nur ca. 800 börsennotierte von ca. 19 500 AG insgesamt).

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Daneben wurde mit dem Gesetz u.a. auch der Bezugsrechtsausschluss erleichtert,[55] ein für damaliges Verständnis revolutionärer Vorgang, dem Zöllner noch ein „Das werden wir wegkommentieren“ entgegengeschleudert hatte.[56]

3.2.4 KonTrAG

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In der 13. Wahlperiode kam das Kontrolle- und Transparenzgesetz, das so genannte KonTraG, die erste große Corporate Governance Gesetzgebung, mit der die anglo-amerikanisch geprägte Diskussion für das deutsche Recht fruchtbar gemacht wurde.[57]

Ziele des KonTraG waren:


Zuletzt war Ziel des KonTraG eine allgemeine Deregulierung des Aktienrechts auch im Hinblick auf wichtige Finanzierungsinstrumente, die auf den internationalen Kapitalmärkten üblich sind. Dadurch kamen auch der Eigenerwerb von Aktien und die Stock-Options-Programme in die Reformdiskussion. Bei den Stock-Options-Programmen sehen wir wieder einen starken Zusammenhang zum Corporate Governance-Thema, denn Aktienoptionsprogramme mit zielgenauer Anreizwirkung sollten durch eine Parallelisierung von Vorstands- und Aktionärsinteressen als Steuerungsinstrument zur Verhaltensbeeinflussung des Managements dienen.

1. Kapitel Geschichte und Zukunft des Aktienrechts › III. Bisherige Entwicklung des Aktienrechts in Deutschland › 4. Die Regierungskommission Corporate Governance

4. Die Regierungskommission Corporate Governance

4.1 Corporate Governance – ein Thema mit Tradition

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Eine Diskussion um die Optimierung des Regelwerks zu Führung, Kontrolle und Einfluss bei börsennotierten Unternehmen gibt es in Deutschland schon so lange wie die AG existiert. Unter dem Schlagwort Corporate Governance wurde die Diskussion seit Beginn der 1990er Jahre öffentlich geführt und mündete in den Erlass des KonTraG und in der Folgezeit eine Vielzahl von Reformgesetzen. Auslöser waren ursprünglich und immer wieder Unternehmenskrisen, die heute schon zur Wirtschaftsgeschichte des Landes gehören.[62]

4.2 Philipp Holzmann und die Wiederkehr der Corporate Governance Diskussion

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Im Jahr 2000 kam – nach der jahrelangen Diskussion um das KonTraG eigentlich überraschend – eine erneute Corporate Governance-Diskussion über Deutschland. Auslöser war auch diesmal wieder eine Unternehmenskrise, es handelte sich vor allem um Philipp Holzmann – und dieser Fall warf bei näherer Betrachtung auch tatsächlich ganz erhebliche Fragezeichen zur Corporate Governance auf (ein Bauunternehmen, das auf eigene Rechnung milliardenschwere Großprojekte beginnt, die sich offenbar von Anfang an nicht rechnen, verheimlichte Mietgarantien, Defizite im Controlling und in der Rechnungslegung). Man konnte politisch zwar sagen, das KonTraG sei durch diese Krise nicht widerlegt, sondern habe nur noch nicht die Zeit gehabt, zu greifen.[63] Aber die politische Diskussion war wieder da. Die politische Corporate Governance Diskussion und Gesetzgebung ist stets skandalgetrieben.

4.3 Die Regierungskommission Corporate Governance

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Auf Initiative des Kanzleramts wurde im Mai 2000 die Regierungskommission Corporate Governance eingesetzt.[64] Sie hatte mit Theodor Baums einen herausragenden Wissenschaftler als Vorsitzenden. Sie war zudem überwiegend mit hochrangigen Praktikern aus Industrie, Versicherungs- und Kreditwirtschaft, neuen Medien, Gewerkschaften und Börse besetzt. Sie legte ihren zahlreiche Aspekte des Aktienrechts und der internationalen Entwicklung abdeckenden Bericht im Juli 2001 vor.[65]

4.3.1 Brain Storming

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Die Regierungskommission Corporate Governance beschränkte sich thematisch nicht auf den Kern der bisherigen Corporate Governance-Diskussion, wie etwa Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Kommission wählte vielmehr einen sehr breiten Ansatz und machte in einer Art Brain Storming eine Umfrage bei allen maßgeblichen Verbänden und vielen in- und ausländischen Experten.[66]

4.3.2 Vielzahl punktueller Änderungsvorschläge

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Die Kommission empfahl keine Gesamtreform des deutschen Aktienrechts, sondern nur eine Revision in zahlreichen Einzelpunkten; insgesamt waren es ca. 150 Vorschläge. Interessanterweise hat die High Level Group der EU-Kommission (sog. Wintergruppe) in der Folgezeit denselben Ansatz gewählt. Es war (und ist) nicht die Zeit der großen Kodifikationen.

Unter dem Eindruck der Empfehlungen der Kommission folgten nach dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften, dem KonTraG, dem StückAG und dem NaStraG Schlag auf Schlag weitere Novellen. Woran liegt es, dass unser Aktienrecht in so vielen Punkten reformbedürftig war und ist? Gibt es einen Plan, der hinter der Corporate-Governance-Gesetzgebung seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts steht? Diesen Fragen soll im nächsten Abschnitt (5) nachgegangen werden.

1. Kapitel Geschichte und Zukunft des Aktienrechts › III. Bisherige Entwicklung des Aktienrechts in Deutschland › 5. Leitlinien der aktienrechtlichen Corporate Governance Gesetzgebung der 90er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts

5. Leitlinien der aktienrechtlichen Corporate Governance Gesetzgebung der 90er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts

5.1 Die Arbeit am Deutschen Corporate Governance System

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Das Deutsche Corporate Governance-Regelwerk ist ein System. Systemhaftigkeit bedeutet Komplementarität der Systemelemente und Konsistenz der Merkmalausprägungen.[67] Bei jeder Änderung einer einzelnen Komponente muss man die Auswirkung auf alle anderen bedenken. Vereinfachend wird oft das deutsche System „interner“ dem angloamerikanischen System „externer“ (verstärkt auf Marktkontrollen setzender) Corporate Governance gegenübergestellt.[68] Jedenfalls hat unser System in der Vergangenheit, also vor allem in den Wirtschaftswunderjahren, gute Ergebnisse ermöglicht und auch die Finanzkrise der Jahre 2008 f. sehr gut überstanden. Das hat das Selbstbewusstsein vor allem gegenüber Kritik aus dem anglo-amerikanischen Bereich deutlich gestärkt.

5.2 Die Ursachen des Reformbedarfs

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Unser deutsches aktienrechtliches Corporate Governance System ist auf dem Boden ganz bestimmter ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen gewachsen.[69] In dem Maße, wie die äußeren Bedingungen sich verändern, entsteht kontinuierlich Anpassungs- und Reformbedarf. Unabhängig von vorübergehenden Börsenhaussen und -baissen lassen sich folgende langfristige Veränderungen der äußeren Systembedingungen festhalten:


Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die Internationalisierung der Finanzmärkte;
Eine Verschiebung weg von der Fremd- und Innenfinanzierung und dem Hausbankenverhältnis hin zur Eigenkapitalfinanzierung über die Börse.
Spiegelbildlich dazu veränderte sich das Verhalten der Anleger; der Trend ging weg vom Sparbuch hin zur Risikokapitalanlage und bei der Altersversorgung hin zur Kapitalstockfinanzierung.
Deutsche Unternehmen befanden sich bisher zumeist im Kontrollbesitz von Großaktionären (Familien, Banken, Versicherungen, wechselseitige Beteiligungen). Wir konstatieren in den letzten 25 Jahren ein Aufbrechen der sog. Deutschland-AG, einen Rückzug der Banken aus den industriellen Beteiligungen, eine Veränderung der Aktionärsstruktur hin zu einem höheren Anteil von Streubesitz oder Beteiligungen von Private-Equity-Fonds, vermehrte Börsengänge (jedenfalls bis zum Platzen der Neuer-Markt-Euphorie um 2001), sowie einen wesentlich höheren Anteil ausländischer Aktionäre, insbesondere institutioneller Anleger, darunter auch sog. Aktive und aktivistische Investoren (Hedgefonds etc.).

5.3 Die Wirkungen des veränderten Umfeldes

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Bekanntlich ist die politische Corporate Governance Debatte in Deutschland weniger grundlagen-theoretisch als skandalgetrieben. Das erklärt den amplitudenförmigen Diskussionsverlauf. Skandale und Unternehmenskrisen sind aber nur die äußeren Anlässe, der wahre Motor des andauernden Reformprozesses beruht auf den oben beschriebenen Änderungen der ökonomischen Einflüsse auf unser System. Das erfordert keinen radikalen Umbruch, aber allmähliche Anpassungen. Aus diesen Verschiebungen der Systemgrundlagen resultieren folgende Einflussfaktoren auf die rechtspolitische Diskussion:


Wenn internationaler Streubesitz an die Stelle herkömmlicher Kontrollmechanismen (durch industrielle Beteiligungen, Banken) tritt, verschärft sich das Principal Agent-Problem, es entsteht ein Macht-Vakuum, das in der sog. Deutschland-AG nicht bestand. Dieses Vakuum kann zu einem Kontrolldefizit gegenüber Vorständen führen, es kann aber auch von aktiven Investoren genutzt werden, die mit begrenztem Aufwand großen Einfluss zu erzielen suchen.
Aufgrund der Internationalisierung der Finanzmärkte stehen die deutschen Gesellschaften bei der Nachfrage nach Risikokapital im Wettbewerb mit Anlagealternativen.
Angesichts wiederkehrender Krisen (2001/02 und 2008 f.) tun die Jurisdiktionen gut daran, sich um „restoring confidence“, um Wiederherstellung des Vertrauens der weltweiten Anleger, zu bemühen. Eine solide Corporate Governance vermittelt Vertrauen und: Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität (Niklas Luhmann).
Der Einfluss des Kapitalmarktes auf das Aktienrecht der Publikumsgesellschaften hat insgesamt zugenommen (z.B. kleine AG: Trennung zwischen nichtbörsennotierten und börsennotierten AG (1994); WpHG (1994), WpÜG (2001) – Übernahmerecht, SpruchG (2003), KapMuG (2012), Delisting-Neuregelung (2015) u.v.m.).

5.4 Internationalisierung und Digitalisierung

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Diese Einflüsse haben den Gesetzgebungsvorhaben seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die Richtung gegeben und taten dies im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts immer noch. Sie können fast vollständig unter die Gesamtüberschrift „Internationalisierung[80] und Digitalisierung[81] gestellt werden. Im neuen Jahrtausend könnte man ergänzen „Corporate Governance für Wachstum und eine fairere Welt“, denn Corporate Governance, insbesondere die Ausrichtung auf Nachhaltigkeit, soll zu dem Wachstum beitragen, das die Industrienationen brauchen, um aus der Staatsschuldenkrise herauszuwachsen. Ferner werden zunehmend gesellschaftspolitisch motivierte Eingriffe in das Wirtschaftsrecht vorgenommen. Diese Topoi bleiben auch im neuen Jahrtausend beherrschend.

5.5 Das gesetzgeberische „Programm“

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Die genannten Veränderungen der Systemgrundlagen und die daraus folgenden Wirkungen haben das bisherige Reformprogramm diktiert und bestimmen dieses auch in Zukunft:


Die Verantwortlichkeit des Vorstands sowie seine Ausrichtung auf nachhaltige Ertragskraft und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens müssen verstärkt werden.
Der Aufsichtsrat musste revitalisiert und als effektives und qualifiziertes Kontrollgremium mobilisiert werden. Das ist auch mit der Mitbestimmung möglich und nötig. Das bedeutet freilich eine Machtverschiebung vom Vorstand zum Aufsichtsrat.
Die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vor allem vom Vorstand war zu sichern.
Ebenso war die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vom Vorstand zu sichern, er war stärker an den Aufsichtsrat als dessen Hilfsorgan anzukoppeln.
Die Hauptversammlung als physische Präsenzversammlung muss mit neuen Inhalten gefüllt oder in ihrer Funktion gänzlich überdacht werden.
Die Kompetenzen der Hauptversammlung und die Rechte der Klein- und Minderheitsaktionäre in der Hauptversammlung sind tendenziell nicht auszubauen, die Bedeutung der Rechte des Einzelaktionärs nimmt ab, der aufrechte Kleinaktionär ist ein Auslaufmodell, das Auftreten des Kleinaktionärs als Wächter der Interessen der Mitaktionäre ist eine pia fraus; aktive Finanzinvestoren und institutionelle Investoren weltweit treten an dessen Stelle.
Dem Absinken der Hauptversammlungspräsenzen ist entgegenzuwirken, um zu verhindern, dass aktive Investoren mit geringem Aufwand einen auf Sondervorteile gerichteten Einfluss ausüben können; dazu sind insbesondere die institutionellen Investoren zur Stimmabgabe zu motivieren und ist die grenzüberschreitende Stimmrechtsausübung zu erleichtern.
Die rasche Handlungsfähigkeit der Gesellschaft muss gesichert sein, missbräuchlichen Klägern war entgegenzutreten, Missbrauchs- und Erpressungspotentiale waren abzubauen.
Die Verantwortlichkeit der Organe in Form zivilrechtlicher Haftung oder Strafbarkeit ist zu verschärfen.
Die Ausübung der bestehenden Aktionärsrechte muss allen Aktionären, auch den Ausländern zu Verfügung stehen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten waren zu verbessern.
Die Finanzinformationen des Unternehmens mussten verbessert und ihre internationale Zugänglichkeit sichergestellt werden.
Aktien- und Bilanzrecht sind weniger gläubigerorientiert und mehr kapitalmarktorientiert auszurichten. International übliche Finanzierungsinstrumente und internationale Bilanzierungsstandards sind im deutschen Recht einzuführen.

Das also war und ist das Langfrist-Programm. Praktisch alle aktienrechtlichen Änderungen seit Beginn der 90er Jahre bis ins Jahr 2016 und die für die Zukunft geplanten Maßnahmen lassen sich unter dieses Programm subsumieren – und viel ist auch schon erreicht worden,[83] wenn auch nicht immer in ganz gerader Linie, sondern in permanenten Pendelbewegungen.[84]