Der Sound der Provence

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„Benjamin, ich mag dich, aber deine Musik ist zu melancholisch. Die Leute schlafen ein, sie bestellen nicht mehr so wie früher. Du musst mehr Stimmung machen. Wir leben in einem Spaßzeitalter.“

Benjamin bemühte sich. Er baute ein paar Hits ein, die nicht älter als 20 Jahre waren und nach einiger Zeit füllte sich Roberts Bar wieder. Die Leute blieben, lachten und sangen manchmal sogar mit. Dann begann er immer mehr eigene Stücke mit in das Programm einzubauen und siehe da, immerhin verließ niemand den Laden.

Es war wieder an einem Samstagabend. Benjamin machte gerade eine Pause, saß an der Bar, seine Gitarre neben ihm und vor ihm ein frisch gezapftes Bier. Der Typ neben ihm hieß Peter, prostete ihm zu und gab ihm seine Visitenkarte. „A&R Manager Phonostar Records“ stand da.

„Du machst das wirklich gut. Ich bin ein Freund von Robert und der sagte mir, dass er hier jemanden hätte, der Gitarre spielt und singt.“

Benjamin stellte sein Bier auf den Tresen. Eine angenehme Aufgeregtheit machte sich breit. Sollte das ein Witz sein? Sprach ihn tatsächlich ein Talentscout einer Plattenfirma an? Das ist ja wie in einer der unzähligen Rock’n Roll - Biographien, wie in einer der Doors-Geschichten.

„Hast du schon mal was aufgenommen?“ fragte Peter.

„Nein, nie. Immer live, du weißt schon.“

„Ja, ich weiß schon, aber du solltest mal etwas aufnehmen und es mir zukommen lassen.“

„Einfach hier so?“ Benjamin deutete auf die kleine Bühne hinter ihm.

„Ja, warum nicht. Schicke es mir zu, oder bringe es mir vorbei. Wie auch immer, schönen Abend noch.“

Leider war es nicht der Anfang einer Popstarkarriere, auch wenn es so viel versprechend klang.

Benjamin bat einen Freund, ihn den nächsten Abend mit einem Kassettenrekorder aufzunehmen. Benjamin fand keinen einzigen Song, bei dem er sich nicht verspielte und so bat er seinen Freund noch einmal und noch einmal. Je mehr ihm bewusst wurde, dass er diese Songs einer Plattenfirma geben würde, desto unsicherer wurde er und desto mehr Fehler machte er auch. Nach zwei Wochen allabendlicher Aufnahmesession in der Bar und bei ihm Zuhause gab er es auf. Er suchte sich die drei besten Stücke mit den wenigsten Fehlern heraus, war natürlich nicht zufrieden, brachte sie dann aber nach langem Ringen mit sich selbst trotzdem noch zu der Adresse auf der Visitenkarte.

Peter traf er nicht an, dafür eine nette Sekretärin. „Du kommst wegen des Praktikums?“

Ehe Benjamin antworten konnte und seine Kassette aus der Tasche ziehen konnte, war sie auch schon weg. „Ich bin Michael Reichert“, sagte ein Typ mit zurück gegeltem Haar.

„Kannst Michael sagen, machen die alle hier, weiß auch nicht wieso.“

„Ich bin Benjamin, ich wollte zu Peter.“

„Ach Peter, ja, der ist hier leider nicht mehr. Meinte er müsste sich jetzt irgendwie selbst verwirklichen. Das kommt vor. Manchmal.“

Benjamin war irgendwie eingeschüchtert und sagte zur Vorsicht lieber gar nichts. „Bist Du der Typ, der das Praktikum machen wollte? Peter hat mir von Dir erzählt.“

„Eigentlich nicht, ich habe hier ein paar Songs.“

Benjamin kramte wieder in seiner Tasche. Jetzt fand er die Cassette und reichte sie Michael Reichert unsicher. Eigentlich wollte er noch sagen, dass er unter professionellen Bedingungen natürlich besser spielen könnte, dass er das Band nur mal eben so nebenbei aufgenommen hatte, doch dazu kam er nicht mehr, denn Michael Reichert sagte nur: „Gut, gut, hören wir uns mal an.“

Dabei ließ er die Kassette in die Tasche seines karierten Sakkos rutschen. Karierte Sakkos waren damals in, eigentlich mehr bei den Werbern, aber bei Michael Reichert auch. „Willst du nun das Praktikum oder nicht?“

Noch immer schien er nicht zu verstehen, dass Benjamin eigentlich hier war um Popstar oder so was Ähnliches zu werden.

„Warum nicht?“, brachte er heraus und so nahm seine Geschichte in dem Musikgeschäft seinen Lauf. Mehrmals versuchte er noch zu fragen, was aus seinen Songs geworden ist, doch irgendwann gab er es auf. Vielleicht zu früh, vielleicht aber auch nicht.

Benjamin legt die Kopfhörer zurück auf den Schreibtisch, als sein Telefon klingelt: „Hier ist Monica.“

„Hey Monica.“

„Michael hat schon Hunger. Er würde gerne jetzt schon gehen. Passt das?“

Es war eine rhetorische Frage. Wie fast jede Reichert-Frage. „Ja schon gut, ich komme.“

3.

„Ciao Adriano!“ Reichert breitet seine Arme aus, als er das Restaurant betritt. Adriano ist erfreut, nimmt ihn in den Arm und küsst ihn rechts und links.

„Eine alberne Szenerie. Draußen pfeift der Wind durch das regnerische Hamburg und hier spielt Reichert den mediterranen Lebemann“ denkt Benjamin, als er schon vorgestellt wird, obwohl er hier jedes Mal wieder vorgestellt wird. „Das ist Benjamin.“

„Ciao Benjamin, habe dich hier auch schon gesehen, lange her.“

Adriano reicht ihm die Hand und Benjamin erinnert sich an seinen letzten Termin mit Michael Reichert in diesem Restaurant, in dem er ermahnt wurde, mehr Popmusik zu hören und ihm das Gefühl vermittelt wurde, dass er keine Ahnung hat.

Adriano trägt das Haar mittellang, grau meliert und seine braune Hautfarbe lässt darauf schließen, dass er sich noch viel in seiner sizilianischen Heimat aufhält. Das finden die Gäste meistens gut. Er hat einen ziemlichen Bauch und trägt einen Anzug. Als er Reichert vor sich her zu seinem Stammtisch führt, massiert er ihm leicht die Schultern. „Mein Freund, schön dassse du da bist.“

Adriano überholt Michael Reichert kurz vor dem Tisch und rückt ihm den Stuhl zurecht. Benjamin setzt sich ihm gegenüber. Reichert klatscht in die Hände. „Was hast du heute für mich?“ fragt er vor Vorfreude grinsend Adriano.

„Eine kleine Momente.“

Er holt eine schwarze Tafel an den Tisch, die mit italienischen Worten voll geschrieben ist. Es dauert lange, bis Adriano sich mit Reichert auf ein Lunch geeinigt hat. „Linguini mit Tartufo, gute Wahl meine Freund“

„Was möchtest du Benjamin?“

Da Benjamin jetzt schon drei Viertel der Gerichte vergessen hat und sie auch nicht mehr zuordnen kann, sagt er einfach: „Spaghetti Bolognese, bitte.“

Adriano guckt für einen Moment irritiert und wartet darauf, dass Benjamin lacht und ihn aus dem Schweigen erlöst. Benjamin guckt genauso unsicher.

„Oh, ich gucke meine Freund, ob wir noch Personalessen haben.“

Jetzt wendet er sich sichtlich erfreut, dass das erledigt ist, wieder an Michael. „Ich habe eine wunderbare Barbera de Asti.“

Diesmal ist es keine Frage. Adriano dreht bereits die Weingläser um und entfernt sich von dem Tisch, um den guten Tropfen zu holen.

„Willkommen in meinem Wohnzimmer“, sagt Michael Reichert und guckt sich wie der Pate höchstpersönlich zufrieden im Restaurant um. Adriano kommt zurück an den Tisch. Der Wein wird entkorkt, fließt in das bauchige Glas. Reichert hält fachmännisch seine Nase hinein und wendet sich nach dem ersten Schluck an Adriano. „Ich könnte dich küssen.“

„Bene“, sagte Adriano und gießt das Glas zu einem Viertel voll. Beide trinken einen Schluck. „Lecker“, sagt Benjamin.

„Vor allem die Nase und der Abgang gefällt mir. Ein feines Bouquet, vielleicht noch ein bisschen jung.“

Benjamin nickt, trinkt einen weiteren Schluck und versucht zu begreifen, was Reichert sagt. „Am Ende ist es nur Alkohol und der hilft mir über die nächsten eineinhalb Stunden“, denkt Benjamin und trinkt einen weiteren Schluck. Benjamin macht sich nichts aus Wein. Er ist Biertrinker, und da sich sein Job meistens in Hamburger Kellerclubs abspielt, in denen er sich neue aufstrebende Bands anhört, ist es schlicht unkomplizierter ein Bier zu bestellen.

Ein Teller mit Olivenöl wird auf den Tisch gestellt. Michael Reichert stippt Weißbrot hinein und schiebt es sich in den Mund. „Wir müssen reden, Benjamin“, sagt er schließlich.

Benjamin ahnt in diesem Moment noch nicht, dass nach diesem Essen alles in seinem Leben anders sein wird.

„Ich habe vorhin mit Mister Butcher telefoniert“, sagt Michael Reichert, als er sich ein Stück Brot abreißt und diesmal darauf achtet, dass es nicht zu groß ist, damit er auch beim Kauen sprechen kann. Benjamin nickt still.

„Phonostar Records hat Großes vor.“

Reichert breitet die Arme aus, um die Dimension wenigstens andeutungsweise zu beschreiben.

„Butcher ist es gelungen Bryan White unter Vertrag zu nehmen. Bislang war er bei Warner Music.“

Michael Reichert grinst süffisant, als hätte er den Deal gerade persönlich eingefädelt. „Es wird uns Millionen gekostet haben, aber es wird uns auch Millionen in die Kassen spülen. Man bedenke mal: Bryan White, kennst du einen größeren Popstar?“

Benjamin kannte keinen. Bryan White ist weltweit nicht nur der attraktivste Popstar, sondern vielleicht auch der begabteste. Seine Show ist Entertainment pur, seine Songs laufen weltweit im Radio. Allein von seinem letzten Album hat er weltweit 20 Millionen Platten verkauft. Seine Show ist größer als die letzte Tour der Rolling Stones. Eine Zeitschrift mit einem Bild von ihm auf dem Cover verkauft sich gleich doppelt so gut. Bryan White ist ständig präsent. Omnipräsent, wie man in den Medien sagt. Jede Frau an seiner Seite wird weltweit von der Presse analysiert. Ist sie die Richtige für Mister Unerreichbar? Wie wird sie seiner Karriere schaden? Hat sie überhaupt das richtige Sternzeichen? Was für eine Figur werden sie in Portofino am Strand zusammen abgeben? Bryan White ist Bryan White. Der King of Pop war gestern. Das Essen kommt.

Unter lautem „vorzüglich“ und „Adriano, du hast dich mal wieder selbst übertroffen“ werden Benjamin und Reichert die Teller hingestellt. Wein wird nachgeschenkt, eine Flasche Wasser auf den Tisch gestellt. Adriano grinst und wünscht guten Appetit.

 

Reichert lässt Messer und Gabel liegen, als er sich wieder an Benjamin wendet. „Jetzt aber kommt der Haken an der Sache. Bryan White plant ein Album, das eine Liebeserklärung an alle Länder sein soll, die er auf seiner einjährigen umjubelten Welttournee besucht hat. Als eine Hommage an seine Millionen von Fans möchte er sein persönliches Lieblingsstück des betreffenden Landes neu einspielen. Doch damit nicht genug. Als besondere Liebeserklärung an das Land plant er, das Stück mit dem damaligen Interpreten im Duett neu einzuspielen. Es handle sich bei diesem Projekt um die wohl wichtigste und aufwendigste Popplatte aller Zeiten. Man müsse sich vorstellen: „Mister Bryan White hat sich für den Hit „A man falls in Love with Judy“ entschieden.“

Jetzt macht Michael Reichert eine Pause und nimmt sein Besteck in die Hand. Auch Benjamin wagt es nun, das erste Mal ein paar Nudeln auf die Gabel zu nehmen und sie im Hackfleisch zu drehen.

„Weißt du, was das bedeutet, Benjamin?“

Reichert wartet keine Antwort ab.

„Er ist geradezu verrückt nach diesem Song und möchte ihn unbedingt mit dem damaligen Interpreten George Lavelle neu aufnehmen. Benjamin, das ist nicht nur mein, sondern auch dein Ritterschlag, schließlich hast, du damals als Einziger in der Runde das Talent erkannt. Du hast ihn unter Vertrag genommen und du warst mit für den weltweiten Erfolg verantwortlich.“

Während Reichert sich warm redet, tauchen die Geister der Vergangenheit in Benjamins Kopf wieder auf. Wie der Zufall vor zehn Jahren in Benjamins Leben eingriff und es veränderte. Wie es diesen einen großen Moment in seiner beruflichen Laufbahn gab, von dem er, wie er jetzt sieht, noch immer profitiert. Oder auch nicht, das würde sich noch herausstellen.

Es war noch während seines Praktikums, dem er es letztendlich zu verdanken hatte, dass es mit seiner Popstarkarriere nie geklappt hatte. Seine Eltern waren das erste Mal stolz auf ihren Sohn, denn schließlich ging er plötzlich einer geregelten Arbeit nach, auch wenn es nur ein Praktikum war. Sein Vater sagte aber immer, dass ein Praktikum oft der erste Schritt zu einem Ausbildungsplatz sei. In Benjamins Fall sollte er sogar Recht behalten. Auch wenn Benjamin damals nur Zeit gewinnen wollte, damit man ihn als Künstler unter Vertrag nehmen würde, so machte er sich doch in einer der wöchentlichen Meetings unsterblich. Es waren die Worte seines Vaters, die ihm noch in den Ohren klangen, als er an dem großen Konferenztisch Platz nahm:

„Du musst da auch mal etwas riskieren, mal zeigen was du kannst. Wer wagt gewinnt Benjamin. Mach mal was Unkonventionelles. Denk an Elvis und wie er groß wurde, weil er anderes war als die anderen. Wenn Du bist wie die anderen, bekommst Du auch nur das, was alle bekommen. Denk an meine Worte.“

Schon damals war es der amerikanischen Plattenfirma zu eigen, auch die auf den ersten Blick unbedeutenden Mitarbeiter mit einzubeziehen und sie an Konferenzen teilhaben zu lassen, in denen es ausschließlich um Musik ging. In einer solchen Konferenz saß Benjamin vor 10 Jahren und hörte sich zusammen mit all den Mitarbeitern die neu eingeschickten Kassetten an. Jeder der Angestellten konnte etwas zu den vorgespielten Songs sagen und die Praktikanten sollten auf diese Weise hören, worauf es in der Musikindustrie ankam. Nach Heavy Metal, Pop und Rap kam das letzte Stück dran. Es war von einem gewissen George Lavelle. Der Song hieß:„A man falls in love with Judy.“ Niemand in der Runde äußerte sich zu dem gerade gehörten Stück, da alle nur noch zum Mittag wollten und froh waren, dass diese lange Sitzung nun vorbei war. Sie packten bereits ihre Sachen zusammen, als Benjamin sich an den Rat seines Vaters erinnerte und laut in die Runde sagte: „Das wird ein Riesenhit. Es ist großartig.“

Sofort hatte er das Gefühl, es irgendwie übertrieben zu haben, die Worte seines Vaters zu ernst genommen zu haben und nun im Mittelpunkt zu stehen. Ein Zustand, den er unter normalen Umständen nur mit der Gitarre zum Schutz ertrug. Alle schauten ihn an und hörten auf ihre Sachen zusammenzupacken. „Ich meine, auf den ersten Blick ist es vielleicht nur ein banaler Popsong, aber ich muss als Musiker sagen, dass das musikalisch außergewöhnlich ist. Geradezu genial. Es wird auch in 20 Jahren noch in den Radiosendern gespielt.“

Benjamin hatte das Gefühl, alles Blut hätte sich jetzt in seinem Kopf versammelt und würde von innen durch die Haut drücken. Er glaubte die Äderchen unter seiner Stirn schon platzen zu hören, als Michael Reichert schließlich das Wort ergriff. „Wir sollten immer ernst nehmen, was unsere jüngsten Mitarbeiter sagen“ und dann zu Benjamin: „Wie heißt du noch?“

„Ich bin Benjamin Brechtmann.“

„MC BB”, scherzte einer der A&R Manager.

„Ich finde du solltest mal Kontakt zu dem Mann aufnehmen. Was ist das für ein Typ? Hat der noch mehr solcher Songs? Und so weiter. Komm nachher zu mir und ich erkläre dir wie man das macht. Was man sagt wenn man da anruft und wie man einen Künstler pleased.“

„Pleased?“ dachte Benjamin damals, was das wohl heißen soll? Später sollte er noch begreifen, dass das nichts anderes als frei übersetzt „Arschkriechen“ bedeutet.

Michael Reichert schob ihm gönnerhaft die Kassette über den Tisch. „Hier ist sogar ‘ne Telefonnummer.“

Michael Reichert liebte schon damals Auftritte wie diesen, denn er suggerierte, dass er ein Topmanager ist, der immer auf der Suche nach neuen und aufregenden Ideen war.

Unter Kopfhörern hörte Benjamin den Song an seinem Praktikanten-Schreibtisch wieder und wieder. Ihm gefiel die dezente Jazzgitarre, die erst beim zweiten Hinhören nach Jazz klang. Der dezente Frauenchor und vor allem die Stimme sorgten bei Benjamin für ein wohliges Gefühl. Immer wieder sang dieser George Lavelle mit verzweifelt melancholischer Stimme „Judy, my little girl Judy, I will do everything for you, til the end of time.“

Es war einer jener Popsongs, bei denen man schnell mitsingen konnte und der durch die scheinbare Verzweiflung des Sängers Benjamin tief berührte.

Es stellte sich heraus, dass George Lavelle keine weiteren Songs hatte und Phonostar Records veröffentlichte zunächst nur die Single „A Man falls in Love with Judy.“ Michael Reichert entschied sich zu diesem Schritt eigentlich nur aus Angst, sogar aus panischer Angst einen Hit zu verpassen. In diesem Falle lag er richtig.

George Lavelles Song „A man falls in love with Judy“ wurde ein Welthit. Der Song wurde unsterblich. Bis heute läuft er tatsächlich immer wieder in allen Radiostationen.

Benjamin wurde kein Popstar, dafür bekam er aber einen Ausbildungsplatz bei Phonostar Records. Fortan verrichtete er für wenig Geld einen Job, den er drei Jahre später unter dem Namen Junior A&R, für etwas mehr Geld fortsetzte. A&R steht für Artist & Relations und Benjamin war fortan einer der Leute, der Künstler unter Vertrag nahm und noch mehr von ihnen ein Standardschreiben in den Postausgang steckte, das unmissverständlich klar machte, dass die Band bitte davon absehen möchte weitere Cassetten an die Plattenfirma zu schicken. Auch heute, mit 29 Jahren, also zehn Jahre später, ist er noch immer Junior A&R Chef. Benjamin fand schnell heraus, dass er nicht der einzige gescheiterte Popstar in einer Plattenfirma war. Bei genauerer Betrachtung bestehen Plattenfirmen nur aus gescheiterten Musikern. Wer entscheidet sich schon freiwillig für einen Schreibtischstuhl, wenn man ihn auch auf der Bühne abfeiern würde und er das 20- bis 100- fache Geld verdienen könnte? Hand aufs Herz, niemand!

Benjamin aber ist ein Träumer und so lange wie der Traum ein Popstar zu werden währte sonst keiner seiner Träume. Doch mit jedem Jahr nahm er seine Gitarre seltener in die Hand und in jedem Jahr verbrachte er mehr Zeit im Büro bei Phonostar Records. Michael Reichert hat all die Jahre immer wieder auf eine neue „Benjamin – Prophezeiung“ gewartet. Es gab neue Prophezeiungen, viele sogar, doch nie reichte es zum ganz großen Wurf. Die meisten von Benjamin vorausgesagten Hits blieben irgendwie in den unteren Chartplätzen hängen oder stiegen gar nicht erst ein. Für einen A&R Manager das Schlimmste, was passieren kann, „denn nur an Chartplatzierungen wird Erfolg gemessen“, so Michael Reichert immer wieder. Benjamin hatte einfach kein Gefühl für populäre Musik. Seine Lieblingsmusiker sind alle eher unzugänglich. Er mag Miles Davis, Judy London, Tom Waits, Bob Dylan oder Jazzsängerinnen wie Sarah Vaughn oder Billie Holiday. Manchmal auch alten Soul. Bobby Womack, O.V. Wright oder Smokey Robinson. Am liebsten verbringt er seine Zeit in einem der wenigen Liveclubs der Stadt. Stundenlang kann er Musikern bei der Arbeit zusehen und sich ganz in der Musik verlieren. Für ihn ist es unverständlich, dass seine Plattenfirma nie solche Künstler unter Vertrag nimmt, sondern immer nur Künstler, die genauso klingen wie welche, die gerade in den Charts sind und die Songs singen, die man kaum voneinander unterscheiden kann. Wie sollen denn so Legenden heute noch entstehen? Benjamin hat nur eine einzige tatsächliche Entdeckung bei Phonostar Records gemacht und die ist tatsächlich eine Legende.

„Geht doch, man muss sich nur trauen“, denkt Benjamin, während er die letzten Nudeln auf die Gabel nimmt.

„Diesmal kannst du zeigen, was du drauf hast Benjamin“, sagt sein Chef zwischen zwei Bissen. „Du hast die Ehre George Lavelle anzurufen und ihm zu sagen, dass Mister White Lovelles Comeback einläuten wird.“ Und als könnte er es selbst nicht glauben, sagt er noch: „Wow, Wahnsinn ist das, was wir hier machen!“

Benjamin spürt langsam die Wirkung des Weins. Er ist es nicht gewohnt mittags schon eine halbe Flasche zu trinken. Er ist Mittags überhaupt keinen Alkohol gewöhnt.

Während Michael Reichert die Rechnung und zwei Espresso bestellt, guckt er ein letztes Mal an diesem Tag besorgt. „Benjamin, dieser Deal ist für uns alle sehr wichtig. Du solltest wissen, dass Bryan White erst endgültig unterschreiben wird, wenn alle Künstler sich bereit erklärt haben mitzumachen. Auch die anderen europäischen Länder sind nun gefragt. Wir alle müssen nun unsere Hausaufgaben machen. Du bist der wichtigste Mann in diesem Spiel. Wenn das nicht klappt geht er zu einem unserer Mitbewerber.“ Auch wieder so eine typische Michael Reichert Formulierung. Er sagt immer Mitbewerber statt Konkurrenten.

Adriano kommt mit dem Kaffee.

„Möchtest du einen Sambuca?“

Ohne eine Antwort abzuwarten setzt er sich zu den beiden an den Tisch, stellt drei Gläser auf den Tisch, schenkt ein und prostet ihnen zu. Beim Rausgehen sagt Benjamin nur noch: „Schön, dein Wohnzimmer. Wirklich schön! Ist mir vorher nie aufgefallen!“