Kooperatives Lernen im Englischunterricht

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Die Analyse der Unterrichtsstunden verläuft in immer gleicher Weise. Im ersten Schritt werden vollständige thematische Verläufe und formulierende Interpretationen jeder Unterrichtsstunde erstellt. Dabei werden thematische Sequenzen und für jede Sequenz Fokussierungsmetaphern identifiziert. Im zweiten Schritt wird die Eingangspassage jeder Stunde vollständig dokumentarisch interpretiert. Im dritten Schritt werden alle zuvor bestimmten Sequenzen durch Analyse ihrer Fokussierungsmetaphern dokumentarisch interpretiert und im Zuge dessen die an der Eingangssequenz gewonnenen hypothetischen Orientierungsrahmen der Stunde ergänzend und falsifizierend ausgeschärft. Im Zuge dieser Analyse werden ATS und SPS für jede Sequenz stets in getrennten Interpretationsprozeduren nacheinander betrachtet. Im vierten Schritt werden die durch die Formulierung von Horizonten und Gegenhorizonten definierten Vergleichsstellen innerhalb des Dokuments (sequenzanalytischer fallinterner Vergleich) sowie in anderen Dokumenten (fallübergreifender Vergleich) aufgesucht und ebenfalls reflektierend interpretiert. Daraus ergeben sich schließlich Rekonstruktionen der den Handlungen der Akteur*innen zugrundeliegenden Orientierungsrahmen, die Aussagen über die Struktur des Erfahrungsraums Unterricht zulassen. Diese werden zu einer Diskursbeschreibung verdichtet. Im Zuge der Interpretation werden außerdem immer wieder die in der theoretischen Bestimmung von Kooperativität (vgl. Kap. 2) erarbeiteten Kategorien an die Analyse herangetragen, um die Kooperativität der Unterrichtsstunden zu bestimmen.

Im Folgenden wird nacheinander der Unterricht in den beiden Klassen über die drei Jahre der Untersuchung hinweg analysiert. Anschließend werden diese Analysen in einem Vergleich zusammengefasst. Die Rekonstruktionen des Unterrichts basieren v. a. auf Videographien. Pro Schuljahr wurde jede Lehrkraft gebeten, jeweils im zweiten Halbjahr je eine oder zwei Stunden auszuwählen, die aus ihrer Sicht den von ihr durchgeführten Unterricht bestmöglich repräsentierten, in diesem Sinne also typische Stunden darstellten. Damit folgt auch die Unterrichtsstudie der Grundhaltung der gesamten Untersuchung, nämlich die Lehrer*innen als Professionelle ernst zu nehmen, die ihren Unterricht in eigener Verantwortung durchführen und die aus ihrer Sicht typischen Stunden auswählen und gewissermaßen zur Analyse an die Forscher*innen übergeben. Der Frage, inwieweit die jeweiligen Stunden typisch für den Unterricht der Lehrer*innen sind, wurde durch teilnehmende Beobachtungen anderer Stunden, die in Protokollen aufgezeichnet wurden, nachgegangen.

Vorgreifend auf die Ergebnisse der Analysen kann man Folgendes resümieren: Obwohl dies nicht abschließend klärbar ist, wurde in den Beobachtungen deutlich, dass die gezeigten Stunden wesentliche Merkmale des Unterrichts der Lehrenden im jeweiligen Schuljahr erfassten. Dies umso mehr, als sich in den Transkripten Strukturen abbilden, die im jeweiligen Jahr entstanden sind. Hierzu gehören z. B. bestimmte Rituale oder eine höhere Strukturiertheit der Arbeit der Schüler*innen in den Kleingruppen, etwa im Umgang mit Konflikten. Auch in der Gesamtanlage des Unterrichts zeigen sich sowohl longitudinal als auch im Vergleich der beiden Lehrerinnen auffallende Unterschiede – im Übrigen auch im Vergleich zu den von den Lehrerinnen in den Interviews geäußerten Idealvorstellungen hinsichtlich Kooperativen Lernens. Daraus ist zu folgern, dass die Lehrer*innen die videographierten Stunden nicht als solitäre Idealumsetzung ihrer Wunschvorstellungen angelegt haben, sondern diese Stunden den jeweiligen Stand ihrer Unterrichtsentwicklung zu rekonstruieren erlauben.

3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse

Der Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse hat sich über die drei Jahre nicht-linear weiterentwickelt. Obwohl die Lehrerin in den Interviews (vgl. Kap. 5) davon spricht, KL einführen zu wollen und ihren Zielzustand mit der zentralen Metapher „Klasse als Team“ bezeichnet, finden sich in ihrem Unterricht in Klasse 5 nur sehr wenige Anzeichen für Kooperativität. Nach einem Jahr, Schüler*innen und Lehrerin sind nun in Klasse 6 angekommen, lässt sich eine Weiterentwicklung rekonstruieren, in der allerdings die Kooperativität immer noch deutlich hinter dem zurückbleibt, was Silke Borg (vgl. Kap. 3.3) bereits in Klasse 5 etabliert. Ein großer Sprung der Weiterentwicklung vollzieht sich dann aber im Übergang zu Klasse 7. In der folgenden Falldarstellung werden daher Klasse 5 und Klasse 7 mit umfassendem Rückbezug auf die Daten und in exemplarischer reflektierender Feininterpretation dargestellt. Klasse 6 hingegen wird als Zusammenfassung der Analyseergebnisse vorgestellt.

3.2.1 Klasse 5: Form-Orientierung und Lehrerdominanz

Die Rekonstruktion des Unterrichts in der Klasse 5 von Yvonne Kuse erfolgt auf der Grundlage folgender Daten. In der Klasse wurden in der Pilotphase im Januar und Februar 2008 mehrere teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Im Juni des Jahres wurden eine teilnehmende Beobachtung und eine Videographie durchgeführt. Die im folgenden dargestellte dokumentarische Interpretation des Unterrichts basiert auf der Videographie.

Analyse der Videographie: Thematischer Überblick

Die Stunde beginnt mit einer Begrüßung im Plenum, nach der kurz organisatorische Fragen geklärt werden. Anschließend wird ein Spiel mit Wörtern durchgeführt. Darauf folgen die Arbeit mit einem Hörtext und die umfassende Beschäftigung mit Häufigkeitsadverbien. Die Stunde endet mit einem Verweis auf die Hausaufgabe.


Nr. Sequenz Inhalt
1 Stundeneinstieg Begrüßung, Erläuterung des Warm-ups, Organisation der Videoaufnahme
2 Aufgabe 1: Spiel mit Wörtern Schüler*innen sagen in kettenartiger Abfolge ein englisches Wort und jeweils der/die nächste Schüler*in dessen deutsche Übersetzung sowie das nächste englische Wort. Sie haben dazu Karten von der Lehrerin erhalten.
3 Aufforderung Lehrerin bittet die Schüler*innen, alsbald ihre zuhause geschriebenen Kettengeschichten mitzubringen.
4 Aufgabe 2: Hörverstehensübung Die Schüler*innen hören einen Text zu Cornwall von einer CD und beantworten im Unterrichtsgespräch Fragen dazu.
5 Aufgabe 3: Terminologie Häufigkeitsadverbien Die Lehrerin erfragt von den Schüler*innen die Bezeichnung der Häufigkeitsadverbien und bespricht mit ihnen deren Stellung im Satz.
6 Aufgabe 4: Bewegungsaktivität mit Aussagesätzen Die Lehrerin sagt Aussagesätze mit Häufigkeitsadverbien; die Schüler*innen müssen sich setzen oder hinstellen, je nachdem, ob die Aussage auf sie zutrifft oder nicht.
7 Aufgabe 5: Vergleich von Lösungen Lehrerin und Schüler*innen vergleichen die Lösungen zu einer Workbookaufgabe zu Häufigkeitsadverbien.
8 Aufgabe 6: Funktion der Präsensformen Die Schüler*innen sollen in Aussagesätzen aufgrund der Häufigkeitsadverbien entscheiden, ob präsentischer Indikativ oder Verlaufsform (present simple vs. continuous) angemessen sind.

Tab. 3.1:

Abfolge der Unterrichtsschritte in der Videographie zu Yvonne Kuse, Klasse 5.

Analyse der Videographie: Reflektierende Interpretation

Eingangssequenz und Stundenabschluss sind sehr relevant, da sie Aufschluss darüber geben, in welchen äußeren Rahmen die Stunde durch die Lehrerin gestellt wird. Hier wird daher kurz die Eingangssequenz betrachtet. Der Stundenabschluss kommt zum Ende der Interpretation zur Sprache. Die Eingangssequenz der Stunde lässt noch keine Rückschlüsse auf mögliche Inhalte zu, da die Lehrerin keine vorausblickenden Hinweise auf Qualifikationsziele oder die mögliche Relevanz der Stunde für die Schüler*innen bietet. Dies ist ein Element, das sich durch die gesamte Stunde hindurchziehen wird: Verweise auf Inhalte, Ziele oder mögliche Relevanzsetzungen sind nahezu nicht auffindbar. Deutlich stärker sind formale Bezugnahmen auf Tätigkeiten, die als Übungen („exercise“) bezeichnet oder auf die ausschließlich durch Angabe ihrer Position im Lehr- oder Arbeitsbuch Bezug genommen wird. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass sich die Stunde als Abfolge von einzelnen Aufgaben ereignet, deren Zusammenhang zueinander und zu einem übergeordneten Ziel implizit bleibt.

 

Die eigentliche inhaltliche Arbeit beginnt mit der zweiten Sequenz der Stunde, in der als Warm-up die erste inhaltliche Aufgabe durchgeführt wird. Diese Sequenz wird umfassend reflektierend interpretiert. Dies dient erstens dazu, die eingangs etablierte Aufgaben- und Sozialstruktur detailliert zu rekonstruieren. Zweitens wird damit die Anwendung der Dokumentarischen Methode exemplarisch verdeutlicht. Spätere Passagen werden im Vergleich dazu kürzer interpretiert.

In diesem ersten inhaltlichen Abschnitt der Stunde (Eng5YK: 21–179)1 erhalten die Schüler*innen Karten, auf deren Vorderseite ein deutsches Wort und auf deren Rückseite ein englisches Wort notiert ist. Die Aktivität beginnt, indem die Lehrerin das erste Wort „begeistert“ nennt (Eng5YK: 24), die Schülerin Sw1 dieses Wort auf ihrer Karte findet und damit als Startschülerin festgestellt wird. Sw1 fragt noch einmal, ob sie nun ein deutsches oder ein englisches Wort nennen soll und nennt dann das englische Wort „east of“. In der folgenden Passage (Eng5YK: 33–52) wird die deutsche Übersetzung noch nicht gefunden. Zunächst fragen einige Schüler*innen nach, weil sie das Wort akustisch nicht verstanden haben. Dann bittet ein Schüler darum, das Fenster zu schließen. Die Lehrerin kümmert sich um beide Anliegen. Sie schließt das Fenster (Eng5YK: 48) und wiederholt die Frage nach dem Wort „east of“ drei Mal (Eng5YK: 47, 50, 52). In der folgenden Passage (Eng5YK: 53–92) nimmt die Geschwindigkeit, mit der die Aktivität voranschreitet, zu und die Lehrerin greift deutlich weniger ein. Zweimal wiederholt sie das Wort (Eng5YK: 63, 66), viermal markiert sie jeweils mit einer kurzen Phrase (z. B. „o:k English word?“), dass das Wort korrekt genannt wurde und nun ein Wort in der jeweils anderen Sprache folgen müsse (Eng5YK: 72, 75, 77, 79). In der daran anschließenden Passage (Eng5YK: 94–176) erhöht sich die Frequenz der Wörter nochmals und die Lehrerin nimmt erneut eine andere Rolle ein. Sie markiert nicht mehr die Wechsel der Sprecher*innen, sondern nimmt Korrekturen der Aussprache vor. Sie schließt die Sequenz mit einem Lob für alle („go:od. well done. go::od.“, Eng5YK: 176), das sie mit Nachdruck vorträgt.

Im Sinne einer reflektierenden Interpretation wird nun aus jeder dieser Passagen ein Abschnitt einer genaueren Analyse unterzogen. Der erste sehr dichte Abschnitt und damit die erste Fokussierungsmetapher ist der Einstieg in die Sequenz, denn hier spricht die Lehrerin mit großer Intensität.


Die Lehrerin markiert das Ende des vorangegangenen Verteilens von Blättern mit einem gedehnten „O::k“, macht eine kurze Pause, macht einen rauschenden Laut („shhh“), der plausibel als Geste zur Beruhigung der Schüler*innen interpretiert werden kann, insbesondere wenn man das nachfolgende „stop talking please“ berücksichtigt, und setzt wieder ab. Die beiden Signale führen jedoch nicht dazu, dass die Lautstärke in der Klasse sich für den Beginn des Spiels ausreichend vermindert. Die Lehrerin wiederholt daher ihren Ausspruch „o:k“ und macht nun ihren Wunsch nach Ruhe verbal explizit. Mit der zweiten Person („you“) adressiert sie die Schüler*innen direkt. Aufgrund ihres gleichzeitigen Blickes in die Klasse ist es plausibel, dass sie hier die Klasse als Kollektiv anspricht. Mit der Zeitangabe „now“ verleiht sie ihrer Aufforderung die Dringlichkeit des Augenblicks. Die anschließende Aussage erfolgt in der Zukunftsform und wird über das Konzessivpronomen „but“ mit der Bedingung verknüpft, dass die Klasse ruhig ist. Diese Bedingung wird durch Verwendung des Modalverbs „can“ auf neutrale Art und Weise formuliert. Freundlich wäre gewesen, hier das Konditional („could“) zu verwenden, sehr direkt wäre es gewesen, die Aussage als Aufforderung mit einer Form von müssen („you have to“) auszudrücken. Den Abschluss der Passage bildet die direkte Aufforderung an einige Schüler*innen, nun ruhig zu sein. Durch die Verwendung der Befehlsform („stop“) wird dieser Aufforderung großer Nachdruck verliehen. Mit der nachgestellten Interjektion „please“ wird der Nachdruck aufrechterhalten und gleichzeitig die Unfreundlichkeit der Befehlsform abgemildert. Einer der angesprochenen Schüler erwidert das Adjektiv „sorry“, das als Teil einer eliptischen Aussage „I am sorry“ interpretiert werden kann.

In diesem Abschnitt werden zwei unterschiedliche Adressierungen vorgenommen. Zum einen spricht die Lehrerin die Schüler*innen immer wieder an, zum Teil als Kollektiv, zum Teil als Kleingruppen oder sogar als Individuen, und fordert sie mehr oder weniger freundlich auf, ruhig zu sein. Damit stellt sie eine Sozialstruktur her, in der sie als Individuum einem Kollektiv von Schüler*innen gegenübersteht und mit der Durchsetzung von Anweisungen eine hierarchisch höhere Position einnimmt.2 Andererseits verwendet sie die erste Person Plural in dem Satz „we’re going to start the ga:::me“ (Eng5YK: 21–22), für den zwei Lesarten möglich sind. Liest man die erste Person Plural als eine Art pluralis majestatis, dann setzt der Satz den sonstigen Rahmen einer hierarchischen Beziehung fort. Die Lehrerin würde sich dann als Spielleiterin verstehen, die das Spiel startet, sobald die Bedingungen dafür gegeben sind. Eine zweite Lesart wird deutlicher erkennbar, wenn man den Satz eliptisch liest und gedankenexperimentell mit einem weiteren Verb ergänzt: „we’re going to start playing the game“. Dann wäre das „we“ als inklusive erste Person Plural gemeint, und die Lehrerin würde sich zu einem Teil des Kollektivs machen, das gemeinsam mit dessen anderen Mitgliedern mit dem Spiel beginnen möchte. Es wird im Folgenden zu prüfen sein, welche Interpretation sich als plausibler erweist.

In der folgenden Passage bestehen noch einige Unklarheiten in Bezug auf den Sprecherwechsel beim Ablauf des Spiels, so dass die Bearbeitung der ersten Aufgabe noch nicht in einen selbstläufigen Fluss gerät. Das Ende dieser Passage, in der das Durcheinander in den Beginn des eigentlichen Warm-ups übergeht, verläuft wie folgt:


Der Einstieg in den Abschnitt ist gekennzeichnet durch zwei thematische Stränge. Ein Schüler ist damit beschäftigt, das gesuchte Wort „east of“ zu buchstabieren. Dies kann als Reaktion darauf gesehen werden, dass in der unmittelbar vorausgehenden Phase mehrere Schüler*innen nach dem Wort fragen, das gesucht wird. Man kann diesen thematischen Strang also als inhaltliche Klärung der momentan bearbeiteten Sache interpretieren. Aus Sicht der Schüler*innen besteht die erste Anforderung der Aufgabe somit darin, das Wort, dessen Übersetzung gesucht wird, akustisch zu verstehen. In diesen Strang eingewoben ist ein zweiter thematischer Strang, nämlich der Wunsch eines zweiten Schülers, das Fenster zuzumachen.

Die Verschränkung der beiden Stränge (Eng5YK: 42–45) mündet zunächst in einem erneuten Anschwellen des Durcheinanderredens der Klasse (Eng5YK: 46). Entgegen ihrer vorherigen Praxis macht die Lehrerin ihren Wunsch nach Ruhe aber nicht explizit, sondern wiederholt zunächst das zu übersetzende Wort „east of“, markiert es explizit als zu übersetzend und formuliert dann einen eliptischen Aussagesatz „and the German word for east of“, den die Schüler*innen nun mit der deutschen Übersetzung ergänzen könnten. Gleichzeitig schließt sie das Fenster und reagiert somit performativ auf die Bitte des Schülers. Die anschließende Schüleräußerung reagiert jedoch nicht auf den Impuls der Lehrerin, den Satz weiterzuführen, sondern führt das Thema des Fensterschließens weiter. Dies tut der Schüler auf Deutsch, so dass diese Äußerung sowohl sprachlich als auch thematisch die inhaltliche Aufgabe der Stunde in den Hintergrund drängt. Die Lehrerin reagiert kurz auf dieser thematischen Ebene: „so better now, o:k“ (Eng5YK: 50), indem sie feststellt, dass das von den Schüler*innen aufgeworfene Problem gelöst ist und markiert – wie schon mehrmals zuvor – das Ende dieses Themas mit der Interjektion „ok“. Direkt anschließend kehrt sie zum fachlichen Thema zurück und reformuliert ihren vorherigen Impuls als Frage: „what is the German word for east of?“ (Eng5YK: 50).

Die folgende Aussage einer Schülerin („Fenster offen“) kann einerseits als eine Fortführung des Themas des Fensterschließens interpretiert werden. In dieser Lesart ist ihre Aussage aber faktisch nicht richtig, denn das Fenster ist ja bereits geschlossen worden. In einer zweiten Lesart kann man die Aussage als Angebot einer Übersetzung für „east of“ lesen. Aufgrund der vollkommen verschiedenen Bedeutungen der beiden Ausdrücke ist dies aber unwahrscheinlich. In einer dritten Lesart könnte man diese Aussage aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit der beiden Phrasen, die sich reimen, als klangliche Assoziation lesen, die zwar das Thema des Fensterschließens nochmals aufgreift, als assoziative Reaktion auf die Frage der Lehrerin aber bereits mit dem inhaltlichen Thema der Stunde verbunden ist. Viertens könnte man es schließlich als elliptischen Imperativ lesen, der das Offenhalten des Fensters fordert. Die Lehrerin reagiert auf diese Aussage mit einer erneuten – wieder minimal veränderten – Variante ihrer schon zuvor geäußerten Impulse. Erneut wiederholt sie das Wort selbst und fragt dann danach, wer dessen deutsche Übersetzung kenne. Mit der Antwort „östlich“ einer Schülerin endet das Thema des Fensterschließens endgültig; die Interaktion hat jetzt nur noch das eine Thema, nämlich die Bearbeitung der inhaltlichen Aufgabe.

In der folgenden Passage (Eng5YK: 53–92) gewinnt die Interaktion zunehmend an Selbstläufigkeit, und die Schüler*innen äußern keine Fragen mehr nach dem akustischen Verstehen der Wörter. Vielmehr tritt nun die zweite Aufgabe in den Vordergrund, nämlich das Übersetzen der Wörter. Die Aktivitäten der Lehrerin beschränken sich auf kurze Überleitungen oder noch kürzere positive Rückmeldungen mit der Interjektion „ok“. In der letzten Passage (Eng5YK: 94–176) wechselt die Struktur nochmals. Die Aufgabenbearbeitung fließt nun selbstläufig ohne Einflussnahme der Lehrerin. Ihre Äußerungen beziehen sich nun nicht mehr auf die Regelung der Abfolge der Sprecher*innen des Spiels, sondern auf die Sprache der Äußerungen der Schüler*innen. Alle ihre Eingriffe sind Korrekturen der Aussprache, durch die sichergestellt wird, dass die englischen Wörter überhaupt verstanden werden können. Im Sinne der selbstläufigen Fortführung des Spiels handelt es sich also nicht um rein formale, sondern um kommunikativ notwendige Korrekturen.

Die Sequenz schließt mit einem positiven Feedback der Lehrerin und einer Vorausschau auf die nächste Gelegenheit, zu der dieses Spiel erneut durchgeführt wird.


Nach der letzten Kommentierung einer Äußerung eines Schülers wendet sich die Lehrerin an die gesamte Klasse mit der lobenden Rückmeldung: „go:od. well done. go:od“, der durch die Wiederholung und zweimalige Dehnung des Adjektivs „gut“ Nachdruck verliehen wird. Es ist nicht ganz auszumachen, was ihre Äußerung „next time we’ll all“ bedeutet. Die laute Nennung des Namens eines Schülers allerdings ist eindeutig als Aufruf an ihn, ruhig zu sein, zu verstehen. Mit ihrer letzten Aussage greift sie die eingangs vorgenommene Rahmung der Aktivität als Spiel („game“) auf. Sie stellt in Aussicht, mit der Zeitnahme ein Element des Wettkampfs einzuführen. Damit wechselt sie aus der Rolle der Moderatorin in die Rolle einer Kampfrichterin, die die im Spiel erbrachte Leistung messbar macht. Diese Leistungsmessung bezieht sich nicht auf Einzelne, sondern auf das gesamte Kollektiv der Klasse, das gemeinsam besser oder schlechter abschneiden kann. Als Leistung wird außerdem nur die Geschwindigkeit, nicht die semantische Zuordnung oder Aussprache definiert. Die geäußerte Absicht der Lehrerin, das Spiel zu wiederholen, könnte darüber hinaus auf eine gewisse Ritualisierung des Unterrichts zielen.

Zusammenfassend lässt sich über diese zweite Sequenz Folgendes sagen: In Bezug auf die Aufgabenstruktur geht es aus Sicht der Schüler*innen darum, englische Wörter zunächst akustisch zu verstehen und anschließend semantisch zu verarbeiten, indem sie sie übersetzen. Dies stellt eine Aktivität des Hörverstehens dar. Außerdem, und dies gewinnt in der letzten Phase der Aktivität an Bedeutung, haben die Schüler*innen auch die Aufgabe, englische Wörter korrekt auszusprechen. Damit ist die Teilfertigkeit des Sprechens gefordert. Die Aktivität vollzieht sich außerhalb eines außerschulisch-lebensweltlichen Kontextes, denn es werden einzelne Wörter ohne einen sie begleitenden Zusammenhang thematisiert. Es wird allerdings ein innerschulischer kommunikativer Zusammenhang geschaffen, indem die Lehrerin die Aktivität als Spiel rahmt und damit die Möglichkeit eröffnet, den Äußerungen einen über ihre reine Sprachlichkeit hinausweisenden Sinn zu geben. Der Begriff des Spiels hat zwei Bedeutungskomponenten. Zum einen hat ein Spiel etwas unernstes und unterhaltsames. Dieser Anteil kommt hier dadurch zum Ausdruck, dass die Lehrerin keinerlei formale Korrekturen, sondern nur kommunikativ notwendige Verbesserungen vornimmt. Die Eingriffe erfolgen ohne Bewertung, so dass das Spiel einen Gegensatz zur Allokationslogik bildet, die sowohl in der hier nicht dokumentierten Stundeneröffnung als auch zum Abschluss der Stunde (s. u.) dominant gesetzt wird. Der von den Schüler*innen verfolgte Sinn der Aktivität ist, eine selbstläufige Interaktion herzustellen, in der sie sich die Wörter und ihre Übersetzungen wie Bälle zuspielen. Die zunehmende Selbstläufigkeit der Interaktion und der zunehmende Rückzug der Lehrerin sind ein Indiz dafür, dass diese Dynamik als Sinnkonstruktion zur Aufrechterhaltung der Aktivität durch die Schüler*innen trägt. Zum anderen hat ein Spiel aber auch den Charakter eines Wettkampfs, der von der Lehrerin allerdings erst am Ende angesprochen wird, für sie also nicht entscheidend zu sein scheint. Darüber hinaus wird der mögliche Wettkampf als Kampf der gesamten Gruppe gegen die Uhr ausgeführt.

 

Wie steht es um die Partizipationsstruktur? Im Verlauf der Sequenz übernimmt die Lehrerin verschiedene Funktionen. Zu Beginn ist sie Spielleiterin, die das Spiel initiiert und dafür sorgt, dass zunächst konkurrierende Themen beendet werden. Dies tut sie, indem sie das Anliegen der Schüler*innen (das Fenster zu schließen) nicht zurückweist, sondern sich seiner aktiv annimmt und es damit ohne weitere Thematisierungsnotwendigkeiten abschließt. Außerdem agiert sie als Sprachexpertin, bringt also sprachliche Korrekturen an, um das Spiel am Laufen zu halten. Schließlich nimmt sie die Rolle der Kampfrichterin ein, die das Spiel nicht nur durchführt, sondern dessen Verlauf und Ergebnis mit kollektivem Lob bewertet, sowie eine zukünftig zu spielende Variante ankündigt. Im Verlauf des Spiels werden die Schüler*innen also als Gruppe adressiert, während der betreffende Schüler bei der Schließung des Fensters als Individuum angesprochen wird. Man kann daher resümieren, dass die Positionierung der Lehrerin komplex ist. Bis hierher zeigt sie sich einerseits eindeutig als eine dem Kollektiv der Schüler*innen gegenüber und hierarchisch höher stehende Machtinstanz, deren soziale und inhaltliche Bezugsgröße die gesamte Klasse ist. Andererseits hat sich gezeigt, wie sie ihre Einflussnahme schrittweise auf das zur Aufrechterhaltung des Spielverlaufs notwendige Minimum reduziert. Dies deutet daraufhin, dass ihre Orientierung auf die Inhalte des Unterrichts und nicht auf Herrschaft oder Kontrolle zum Selbstzweck bezogen ist. Sie interveniert nur in dem Maße, wie ihre Einflussnahme zur Aufrechterhaltung der inhaltlichen Interaktion notwendig ist. Und sie scheint – wie die Episode des Fensterschließens andeutet – zu einer Bezugnahme auf einzelne Schüler*innen in der Lage.

In Bezug auf die Kooperativität des Unterrichts zeigen sich hier ansatzweise und im Plenum die Basiselemente zwei und drei, nämlich positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit. Das Wortspiel basiert auf der Abhängigkeit der Schüler*innen voneinander und der Übernahme individueller Verantwortlichkeit dafür, das Spiel durch dauernde Achtsamkeit und den eigenen Beitrag an der richtigen Stelle im Fluss zu halten.

Die dritte Sequenz der Stunde und damit die zweite Aufgabe beginnt mit einer organisatorischen Anweisung der Lehrerin, die von der Nachfrage eines Schülers nach einer von den Schüler*innen zuhause zu schreibenden Kettengeschichte unterbrochen wird (Eng5YK: 180–208). Anschließend hören Lehrerin und Schüler*innen zunächst einen Text von einer CD des Lehrwerks (Eng5YK: 209–233). Danach lässt die Lehrerin die beiden im Text vorkommenden Orte (Penzance und Brighton) auf der auf dem rückwärtigen Schulbuchdeckel abgebildeten Karte suchen. Daran anschließend lesen die Schüler*innen abwechselnd den zuvor gehörten Text im Buch (Eng5YK: 234–348). Die Sequenz endet mit einem Abschnitt, in dem die Lehrerin unterschiedliche inhaltliche Nachfragen zum Text stellt (Eng5YK: 349–417).

Im Sinne einer reflektierenden Interpretation werden aus diesen Passagen nun wiederum einzelne Abschnitte weitergehend analysiert. Der Einstieg in diese Sequenz weist drei wichtige Merkmale auf. Erstens fällt auf, dass sie seitens der Lehrerin nicht mit einer vorausblickenden Bemerkung eingeleitet wird. Sie bittet die Schüler*innen freundlich, jedoch ohne weitere Informationen, ihre Bücher auf Seite 90 zu öffnen (Eng5YK: 180–182). Die Unterrichtsphase wird also, wie auch das einleitende Spiel oder die Stunde selbst, nicht durch rahmensetzende Vorbemerkungen eingeleitet, die den Lernenden einen bestimmten Kompetenzerwerb oder andere mögliche Sinnkonstruktionen in Aussicht stellten. Zweitens springt eine kurze außerthematische Interaktion ins Auge (Eng5YK: 183–188). Die Lehrerin unterbricht den Beginn der Sequenz nämlich noch einmal und erinnert einen Schüler auf Englisch daran, dass er seine Kettengeschichte noch nicht abgegeben habe. Dieser erwidert, dass er sie schon weitergegeben habe, worauf der für die Fortsetzung der Geschichte verantwortliche Schüler darlegt, dass sein Teil noch nicht ganz fertig sei und er sie bald mitbringen werde. Dies verweist darauf, dass Yvonne Kuses Englischunterricht über die Unterrichtsstunden hinausgehende Elemente enthält, in denen die Schüler*innen eigenständig, aber kooperativ sprachliche Produkte (hier einen narrativen Text) anfertigen. Drittens fällt auf, dass die Lehrerin im Anschluss an den von ihr gesetzten Auftakt der Sequenz und die nachfolgende kurze Unterbrechung deutlich mehr Aufwand zur Beruhigung der Klasse als zuvor betreiben muss. Zu Beginn fordert sie einen einzelnen Schüler sehr laut zur Ruhe auf, danach muss sie die erneute Nennung des Arbeitsauftrages mehrmals unterbrechen und um Ruhe bitten bzw. laut zur Ruhe auffordern (Eng5YK: 193–201). Erst dann ist die Klasse ruhig genug, um einem Lehrbuchtext zu folgen, der von einer zum Lehrwerk gehörenden CD vorgespielt wird. In diesem Text unterhalten sich Ben und Lisa darüber, warum sie in diesem Jahr nach Penzance (Cornwall), anstatt nach Brighton in den Sommerurlaub fahren sollten. Anschließend stellt die Lehrerin inhaltliche Nachfragen zum vorgespielten Text. Dabei lässt sie die Schüler*innen zuerst auf die Karte schauen, um Brighton und Penzance zu lokalisieren. Dann folgt diese metaphorisch dichte Passage:


Auch in dieser Passage konkurrieren unterschiedliche Sinnkonstruktionen hinsichtlich der geforderten Unterrichtsaktivität. Auf die Nachfrage der Lehrerin nach der Lokalisierung von Brighton auf der Landkarte kommen von einem Schüler spontan zwei mit großem Nachdruck vorgetragene Beiträge. Das geschriene „Hier. Ich hab.“ zeigt mit dem deiktischen Adverb in einer motorischen Handlung die korrekte Lösung an und kommentiert die eigene Handlung metakommunikativ, indem noch einmal hervorgehoben wird, dass er, der Schüler, selbst die Lösung gefunden habe. Dies deutet auf eine starke Motivation zur Lösung der Aufgabe und Identifikation damit hin. Die fragende Reaktion „really?“ auf die Feststellung der Lehrerin stützt diese Interpretation, denn irgendetwas scheint den Schüler zu erstaunen und noch nach Klärung zu verlangen bzw. könnte Anlass weiteren Gesprächs über diese Orte und ihre Positionen auf der Karte sein.

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