IHP Last Hope: Epicinium

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IHP Last Hope: Epicinium
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IHP Last Hope: Epicinium

1  Titel

2  Impressum

3  Vorwort

4  Prolog

5  Ein neues Jahr

6  Zwischenspiel: Die Wächter

7  Training

8  Zwischenspiel: Die Dokumentation

9  Aris Verschwinden

10  Zwischenspiel: Vertuschung

11  Warten

12  Zwischenspiel: Geburtstagserinnerungen

13  Zusammenhalt

14  Zwischenspiel: Das Ende einer Reise

15  Das Mädchen

16  Zwischenspiel: Schulorganisation

17  Freundlichkeit

18  Zwischenspiel: Das Orinama-Problem

19  Ein erster Schritt

20  Zwischenspiel: Zurechtweisung

21  Veränderung

22  Zwischenspiel: Redegendation

23  Unterstützung

24  Zwischenspiel: Ressourcen

25  Ergebnisse

26  Zwischenspiel: Die Entscheidung des Rates

27  Albtraum

28  Zwischenspiel: Wahlprogramm

29  Konsequenzen

30  Zwischenspiel: Archiv

31  Auswahl

32  Zwischenspiel: Klassenchat

33  Lebenswirklichkeiten

34  Zwischenspiel: Angriff

35  Lebensweg

36  Zwischenspiel: Rückkehrer

37  Geschichte des Verlusts

38  Zwischenspiel: Ratsversammlung

39  Vorbereitung

40  Zwischenspiel: Pläne

41  Weihnachten

42  Zwischenspiel: Geschenk

43  Zurechtweisung

44  Zwischenspiele: Lagerhalle

45  Wahrheiten

46  Zwischenspiel: Rektor

47  Verzweiflung

48  Zwischenspiel: Anschlag

49  Front

50  Zwischenspiel: Reaktion

51  Vereidigung

52  Reportage

53  Präsentation

54  Verloren

55  Anhang: Geschichtsschreibung

56  Anhang: Die Last Hope

Titel
Andreas Bernrieder

IHP Last Hope: Epicinium

Impressum

Texte: © 2020, Andreas Bernrieder

Umschlaggestaltung: © Idee: Andreas Bernrieder, gestaltet durch shinji2603 auf fiverr.com

Verlag: Andreas Bernrieder

Augartenstraße 112,

68165 Mannheim

andreas@bernrieder.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Herzlich Willkommen zum ersten Band der IHP Last Hope Reihe!

Nach Jahren der Arbeit (mal mehr, mal weniger aktiv) habe ich dieses erste Buch abgeschlossen und widme mich nun der Fortsetzung (IHP Last Hope: Reditus), sowie anderen Buchprojekten.

Den Lesern dieses Buches möchte ich empfehlen zunächst die beiden Anhänge zu lesen, oder zumindest zu überfliegen, um ein Gefühl für die Welt der Last Hope zu bekommen.

Danke an meine Freunde, Familie und an viele Serien, Bücher und Filme, die mir immer wieder Inspirationen gegeben haben.

Disclaimer:

Dieses Buch setzt sich auseinander mit und zeigt Mobbing, Verlustängste, mutwillige Gewalt und Selbstverletzungen.

Die Darstellung ist stilistisch überspitzt.

Falls diese Themen dich belasten, oder betreffen ist diese Geschichte vielleicht nicht für dich geeignet.

Falls du Probleme in diesem Bereich hast suche bitte professionelle Hilfe, z.B. unter www.nummergegenkummer.de

Prolog

Es war der achte Jahrestag des Anschlags. Die Acht war für manche eine Heilige Zahl, für andere eine Spirituelle und für wieder andere schlicht eine Glückszahl. Doch für alle war dieser achte Jahrestag die Erinnerung an eine Tragödie. Für Betroffene war es die Erinnerung an eine nicht geheilte Wunde, die mal mehr, mal weniger schmerzte. Der Jahrestag war zu einer Zeremonie geworden, bei der sie versuchten, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Die Andacht würde am Nachmittag beginnen, zum selben Zeitpunkt wie die Geiselnahme vor acht Jahren. Die Schulen würden den ersten Tag nach den Ferien frühzeitig beenden, damit die Kinder mit ihren Familien trauern konnten.

In einer kleinen Wohnung in den Sozialvierteln bereiteten sich zwei Schwestern auf diesen wichtigen Tag vor. Heute ging es für beide darum nicht aufzufallen, keinen falschen Schritt zu machen. Die ältere, eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren, einem kräftigen, anmutig wirkenden Körper und dunklen, grünen Augen trieb ihre Schwester zur Eile an. Sie wollten lange vor den anderen Schülern in den Klassenzimmern sein. Beide trugen ein schwarzes Trauerkleid. Sie waren schlicht, ohne schmückende Ornamente, die Aufmerksamkeit erregen konnten, bis auf die zwei schmalen Streifen, die mit rotem Stoff auf die linke Schulter genäht waren. Endlich war auch die Jüngere fertig. In ihrem Kleid, dass schon deutliche Abnutzungsspuren zeigte, wirkte sie noch zerbrechlicher als das ganze Jahr über. Schweigend sahen die Schwestern sich an, bevor sie sich lange umarmten, sich gegenseitig Kraft für den restlichen Tag spendeten.

Gemeinsam verließen sie die Wohnung, gingen sie die Straße hinab zur nächsten Bahnstation und warteten. Alleine stiegen sie schließlich in unterschiedliche Bahnen, die Köpfe gesenkt, um nicht erkannt zu werden, auf dem Weg in das nächste Kapitel ihres Lebens.

Ein neues Jahr

Naomi Orinama blickte auf das beeindruckende Gebäude der Akademie der Sicherheit. Es war mehr ein Gebäudekomplex als ein einzelnes Gebäude. Die einzelnen Gebäudecluster waren von weitläufigen Grünflächen umgeben, auf denen trotz der frühen Stunde bereits Studenten unterwegs waren.

Die meisten trugen normale Alltagskleidung, jedoch waren vereinzelt auch schwarze Trauerklamotten, wie Naomi sie trug, zu sehen. Gegenüber der Bahnstation, an der Naomi ausstieg lag der Hauptgebäudekomplex mit den Büros der Verwaltung, der Dozenten und der Angestellten. Ihr Ziel war ein großer Gebäudeblock, der zur Linken versetzt lag. Dort wurden die Studenten der Sekundarstufe Vier, die Naomi ab diesem Jahr besuchen würde, ausgebildet. Letztes Jahr noch hatten ihre Schritte zu dem Gebäude der Sekundarstufe Zwei geführt, aber durch wochen- und monatelanges Lernen hatte sie sich das nötige Wissen angeeignet, um nicht nur die Abschlussprüfungen dieser Stufe zu bestehen, sondern in den folgenden Ferien auch die Prüfungen der Stufe drei abzulegen. Jetzt würde sie die jüngste Studentin der neuen Stufe sein.

 

Ein Sonderfall, eine Anomalie. Aber würde sie daraus einen Vorteil schöpfen können? Naomi hoffte es. Sie hoffte, dass ihre neuen Mitschüler ihre Leistung honorieren würden, dass sie Naomi in ihre Mitte aufnehmen würden. Stopp. So durfte sie gar nicht denken. Tief in ihrem Inneren wusste sie, wie es wahrscheinlich werden würde. So wie es letztes Jahr gewesen war, im Jahr davor und in allen Jahren davor, seit dem Anschlag. Der größte Vorteil, den das Überspringen der dritten Stufe bringen würde, war, dass Misa eine Stufe weit entfernt war. Ein leichtes Gefühl der Verbitterung, der Trauer, beschlich sie, wie jedes Mal, wenn sie an ihre ehemalige beste Freundin, ihre letzte Freundin dachte. Und wie jedes Mal schob sie es beiseite, verdrängte es, um den Schmerz zu entgehen.

Naomi war jetzt am Hauptgebäude vorbei. Die gewaltigen Deckenstrahler der Last Hope sorgten für einen gleichmäßigen Schatten um das gesamte Gebäude, der seine Position nur nachts änderte, wenn die Beleuchtung heruntergefahren wurde, um einen Tageszyklus der alten Erde zu imitieren. Wegen diesen Bedingungen waren dort schattenliebende Gewächse gepflanzt worden. Naomi betrachtete sie eingehend im Vorbeigehen, um einen Vorwand zu haben ihr Gesicht von der ihr entgegenlaufenden Gruppe abzuwenden. Sie spürte ihre Blicke, konnte aber nicht sagen, ob das an ihrer Person oder ausnahmsweise nur an ihrer Kleidung lag.

Sie trug heute ein schwarzes Kleid der Trauer. Ein Kleid zu Gedenken der Toten in ihrer Familie. Zwei Streifen in einem dunklen Weinrot zierten ihre linke Schulter. Ein Streifen für ihre Schwester, ein Streifen für ihren Vater. Naomi überlegte, ob die vorbeiziehenden Studenten wussten wer sie war. Würden sie es ablehnen, dass sie dieses Kleid trug? Es war ihr Recht. Auch sie hatte Familie verloren. Diese Gedanken währten nur wenige Momente und als die Gruppe sie passiert hatte, richtete Naomi ihren Blick wieder auf ihr Ziel. Sie war nur noch wenige Hundert Meter entfernt und konnte jetzt über den Vorplatz die Front des Gebäudes sehen. Sie war in einer Mischung aus antikem, und modernen Stil gehalten mit prachtvollen Säulen, die das etwas vorgelagerte Dach stützten. Dahingegen wurde der weiße Gebäudekorpus von großen Fenstern durchbrochen. Darin waren Szenen des studentischen Lebens zu sehen. Naomi versuchte zu erkennen, welche eine Simulation der virtuellen Fenster waren und welche Fenster ihre echte Funktion ausübten. In der dritten Etage entdeckte sie ein falsches. Es wirkte auf den ersten Blick wie echt. Man sah eine Vorlesung, wahrscheinlich über Militärtaktik, aber das war nicht eindeutig zu erkennen. Aber der Umstand, dass die ersten Vorlesungen erst in 90 Minuten beginnen würden zerbrach die Illusion.

Naomi durchquerte den Vorhof und betrat das Gebäude. Im Inneren folgte es demselben einfachen Bauplan, wie jedes andere auf dem Campus, sodass sie sich schnell zurechtfand. Eine Treppe hoch, durch einen langen Gang und sie stand vor ihrem neuen Kursraum. Etwas zögernd griff sie nach der geschlossenen Tür. Würde sie die Erste sein? Langsam zog sie die Tür auf und betrat den Raum. Ja. Sie war die Erste. Als Naomi die Türschwelle überschritten hatte aktivierte sich die Raumbeleuchtung, sowie die digitalen Fenster. Momentan waren sie auf die einfache Außenansicht eingestellt, sodass sie die Grünanlagen und die spärlichen Studentengruppen beobachten konnte. Der Raum war, wie das ganz Gebäude Standard und bot 60 Plätze auf 10 Reihen. Dem Betreuungsschlüssel nach würde der Kurs nur etwa die Hälfte der Plätze belegen, was bedeutete, dass es noch viele andere dieser Vorlesungsräume im Gebäude geben musste, um allen Studenten der vierten Jahrgangsstufe Platz zu bieten. Naomi ließ sich auf der Fensterseite des Raums in der ersten Reihe nieder. Erfahrungsgemäß würden hier die wenigsten sitzen wollen, also nahm sie niemanden den Platz weg.

In die Tischfläche vor ihr war ein Display eingelassen. Sie tippte es einmal an und legte dann ihre gesamte Hand auf, um sich in ihrem Studienkonto anzumelden. Nach einem Moment leuchtete das Display grün auf und Naomi zog ihre Hand zurück. Dort war jetzt in weißer Schrift auf schwarzem Grund zu lesen:

Anmeldung erfolgreich.

Identität: Naomi Orinama

Sekundarstufe: Vier (4)

Aufzeichnungen – Informationen – Notenübersicht – Persönliche Daten

Naomi tippte auf Informationen und öffnete so ein Fenster mit Informationen zu ihrem Stundenplan, den Dozenten und vielen weiteren Themen. Sie rief ihren Stundenplan auf und vergewisserte sich, dass sie sich alles korrekt gemerkt hatte. Für den heutigen Tag waren eine Einheit Strategie, sowie eine Einheit angewandte Sicherheit eingetragen, bevor der Tag frühzeitig um 15 Uhr endete. Danach sollte es den Schülern freigestellt sein zu einer der vielen Trauerfeiern zu gehen oder den freien Nachmittag zu genießen. Als nächstes rief Naomi die Informationen über die Dozenten auf. Auf dem Display tauchten quadratische Bilder der verschiedenen Dozenten auf, untertitelt mit dem Namen und dem Fach, dass sie unterrichteten. Das erste Bild zeigte Professor Kirginja, einen mittelalten Mann mit Glatze und harten Gesichtszügen. Er hatte Naomi die Prüfungen der dritten Sekundarstufe abgenommen und sie erinnerte sich an seine raue Stimme, die eher dazu passte, einer Hundertschaft Untergebener Befehle zuzubrüllen, als Studenten zu unterrichten. Die zweite Dozentin war eine noch im aktiven Dienst stehende Frau, F-Lieutanant Sargei. Sie hatte blonde Haare, ein freundliches Gesicht und unterrichtete die Studenten wohl in angewandter Sicherheit. Naomi schloss das Fenster wieder, mehr musste sie heute nicht wissen.

Abschließend überprüfte sie ihren neuen Spind Standort. Er lag gleich um die Ecke des Vorlesungssaals, also sperrte sie das Display, stand auf und packte ihre Sporttasche. Auf dem Gang war immer noch nichts los. Es war Naomi recht, sie hatte gelernt die Ruhe und das Alleinsein zu genießen. Vielleicht würde sich das dieses Jahr ändern. An der Seite eines Ganges, der tiefer in das Gebäudeinnere führte waren die Studentenspinde aufgereiht. Die Front war aus mattem bläulichem Metall und für den Moment sahen sie alle gleich aus. Vor dem Jahresanfang waren alle von Grund auf gereinigt, alle Erinnerungen an die bisherigen Schüler beseitigt worden. Aber im Laufe des Jahres würden Schriftzüge, Poster und Kratzer jedem Spind individualisieren, bevor sie für das nächste Jahr wieder gereinigt wurden. Ein immerwährender Kreislauf. Mit weißen Lettern stand auf jedem Spind in der unteren rechten Ecke eine Nummer. Naomi ging bis zur Nummer 2.N5. Sie legte ihre Hand auf, wurde authentifiziert und öffnete die entriegelte Tür. Ein leichter Geruch nach Desinfektionsmittel schlug ihr aus dem Inneren entgegen. Naomi packte ihre Sporttasche und verfrachtete sie in den Spind. Als sie sich wieder umdrehte und zurück zum Vorlesungssaal ging hörte sie bereits trippelnde Schritte aus dem Stockwerk unter sich. Also würden bald auch die ersten ihrer neuen Mitschüler eintreffen. Beim Gedanken daran krampfte sich ihr Magen leicht zusammen. Würde sie sich in die Klassengemeinschaft integrieren können? Würde man ihr eine Chance geben. Naomi bezweifelte es, aber sie würde alles tun, um sich selbst zu widerlegen.

Im Raum angekommen setzte sie sich wieder auf ihren Platz, überschlug die Beine und wartete, den Blick auf die Tür gerichtet. Als erstes betrat eine Gruppe aus 3 Studenten den Raum. Ein schmächtiger Junge mit offenem Blick und 2 Mädchen die ihren Freund um gut einen Kopf überragten. Die drei unterhielten sich angeregt über den Ausgang des gestrigen Fußballspiels und nahmen keine Notiz von Naomi. Sie setzten sich in die letzte Reihe, während ihre Stimmen den ganzen Raum ausfüllten. Danach tröpfelten immer mehr Gruppen herein, keiner kam alleine und alle verstanden sich dem Augenschein nach gut. Ein paar bemerkten Naomi, aber niemand machte Anstalten sich zu ihr zu setzen, oder sie auch nur zu fragen wer sie war.

Kurz vor Unterrichtsbeginn kamen die letzten drei Studenten herein. Die erste, die den Raum betrat war ein braunhaariges Mädchen mit auffallend gelben Schuhen. Sie sprach mit einem großen, schwarzhaarigen Jungen. Mit seinen breiten Schultern wirkte es fast, als ob er nicht durch die Tür passte, aber schließlich schob er sich doch durch. Hinter ihm kam die letzte Person herein. Es war eine schlanke junge Frau, deren muskulöse Arme sich deutlich durch den Stoff ihres schwarzen Trauerkleides abzeichneten. Auf ihrer linken Schulter hafteten 2 kaminrote Streifen. Naomi konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber diese rostroten Haare würde sie jederzeit erkennen. Sie gehörten zu ihrer ehemaligen besten Freundin. Zu der letzten Freundin, die sie fallen gelassen hatte. Sie gehörten zu Misa.

Naomis Gedanken rasten. Was tat Misa hier, sie sollte eigentlich eine Jahrgangsstufe unter Naomi sein. Naomi hatte alles getan, um die 3. Sekundarstufe zu überspringen, alles, um ihrer alten Klasse zu entfliehen. Und Misa war einer der größten Gründe gewesen. Der tägliche Schmerz, den sie in Naomi verursachte, durch ihre Taten, ihre Worte, oder bloß ihre Anwesenheit, war zu viel geworden. Und jetzt stand sie hier, unterhielt sich lachend mit dem großen Jungen vor ihr. Als die Gruppe an Naomi vorbei ging nahm sie aus dem Augenwinkel das spitze Lächeln um Misas Mund wahr. Wie hatte sie es geschafft die dritte Stufe zu überspringen? Naomi war die einzige gewesen, die die Prüfungen in diesem Sommer abgelegt hatte. Oder waren Sonderprüfungen für sie angesetzt worden? Naomi konnte sich nicht vorstellen, wie Misa das bewerkstelligen sollte, aber jetzt musste sie wohl oder übel damit leben. Schon hörte sie tuscheln aus den hinteren Reihen, wagte es aber nicht sich umzudrehen und nachzusehen von wem es kam.

Die übrigen Minuten vor Unterrichts Begin verbrachten die Schüler damit, sich über ihre Ferien auszutauschen, miteinander zu lachen und mit neuen Leuten Kontakt zu knüpfen. Misa wurde direkt in die Klassengemeinschaft aufgenommen, bestärkt durch ihren Freund und ihre umgängliche Art. Mit Naomi sprach noch niemand. Einige Minuten später betrat Professor Kirginja mit forschen Schritten den Raum. Mit ihm kam eine Aura des Unheils, die jedem aufmüpfigen Studenten horrende Strafen androhte und dafür sorgte das mit einem Mal Stille im Zimmer herrschte. Kirginja nahm hinter dem Dozentenpult Aufstellung und betrachtete die Studenten. Mit einer Stimme, die kalten Stahl schneiden konnte begrüßte er sie. „Willkommen in der vierten Sekundarstufe meine Herrschaften. Da ich die meisten von Ihnen bereits im letzten Jahr geschult habe erwarte ich zumindest keine Verschlechterungen. Dasselbe gilt für unsere zwei neuen Studenten, die aus der zweiten Sekundarstufe hierher versetzt wurden. Doch hierzu möchte bestimmt ihr Kurssprecher noch etwas sagen in seiner …“, er zögerte einen winzigen Augenblick „… unausweichlichen Ansprache.“ Sein Gesichtsausdruck verriet eindeutig was er von diesem obligatorischen Ritual eines jeden neuen Schuljahres hielt.

Naomi blickte sich um, sie wusste nicht wer der aktuelle Kurssprecher war. 3 Reihen hinter ihr stand ein Junge auf, es war derjenige mit dem sich Misa beim Hineingehen so angeregt unterhalten hatte. Einmal mehr fiel ihr sein muskulöser Körper auf, der deutlich durch das enganliegende Hemd zu erkennen war. Selbstbewusst ging er nach vorne und reichte mit großer Geste Professor Kirginja die Hand. „Schon gut, Mr. Topwa. “, knurrte Kirginja, „machen Sie einfach schnell.“ Der Junge setzte ein breites Grinsen auf, trat hinter das Pult und rief mit fester Stimme. „Willkommen in der vierten Stufe der Hölle.“ Ein kurzes Auflachen hallte durch den Raum, das aber parallel zu der sich hochziehenden Augenbraue von Professor Kirginja wider verstummte. Der Junge räusperte sich und fuhr mit ernsterer Stimme fort. „Also, wie ihr hoffentlich noch wisst bin ich Goron Topwa, euer Kurssprecher. Falls sich jemand anderes berufen fühlt diesen Posten auszuführen kann eine Wahl über euer Infosystem beantragt werden. Solange ihr aber zufrieden mit mir seid bleibe ich und sorge dafür, dass es unserer Klasse gut geht. Sonntagabend gibt es eine Konferenz der Kurssprecher mit dem Akademiepräsidium. Ich informiere euch am Montag über die Ergebnisse. Jetzt bleibt mir nur noch die neuen vorzustellen. Beginnen will ich mit meiner Freundin Misa Kumarani, dieses schöne Mädchen da hinten. Steh bitte kurz auf.“

 

Misa stand auf, winkte mit einem strahlenden Lächeln in die Runde und wurde mit einem warmen Applaus begrüßt. Goron sprach jetzt mit ruhiger, gefasster Stimme weiter. „Ihr wisst was heute für ein Tag ist. Heute ist ein Tag an dem wir um unsere Toten trauern. Ihr wisst auch, dass ich mir meine Trauer für Sonntag aufhebe, aber wie ihr seht gehört auch Misas Familie zu den Opfern.“. Er wies auf das schwarze Kleid und Misa schlug die Augen nieder. „Das Wichtigste ist unsere Solidarität mit den Betroffenen, also bitte ich euch um einen Moment der Andacht.“ Goron verschränkte die Arme und senkte seinen Kopf. Naomis Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte Angst, wie es weitergehen würde. Nach einigen Sekunden hob Goron wieder den Kopf und bedeutete Misa sich hinzusetzen, in deren Augenwinkeln Tränen glitzerten.

„Wir haben noch eine zweite neue in der Klasse … Jemanden der ebenfalls … trauert, nehme ich an. Ihr Name ist Naomi“, Gorons Stimme wurde merklich kühler „Orinama.“ Schweigen. Dann leises Getuschel von allen Seiten.

„Aufstehen“, befahl Goron. Naomi erhob sich, blickte unsicher über die Schulter und sah, wie alle sie anstarrten. Es waren Blicke voller Erstaunen, wie konnte jemand mit diesem Namen hier studieren, Blicke voller Wut, wie konnte jemand mit diesem Namen es wagen ein Trauerkleid zu tragen und am schlimmsten für Naomi Blicke voller Angst, was würde jemand mit diesem Namen uns antun. Als keine weitere Reaktion folgte strich Naomi ihr Kleid glatt und setzte sich schnell wieder, ihre Wangen vor Scham gerötet.

Den Kopf gesenkt bemerkte sie, wie Professor Kirginja sie nachdenklich musterte. „So, das war’s dann auch wieder. Auf ein gutes Jahr“, verabschiedete sich Goron, bevor es sich wieder hinsetzte. Professor Kirginja trat wieder hinter das Pult. Mit einer flinken Handbewegung startete er das, in der Wand hinter ihm verborgende, Display. „Da heute ein … besonderer Tag … ist, möchte ich unsere heutige Strategievorlesung darauf verwenden Sie ein praktisches Beispiel bearbeiten zu lassen. Heute vor acht Jahren kam es zu einem der größten Militäreinsätze der Geschichte auf der Last Hope. Wie Sie alle wissen wurde damals eine mehrtägige Geiselnahme gebrochen. Dabei kam es zu erheblichen Verlusten auf unserer Seite, was auf die besonderen Gegebenheiten der Örtlichkeit zurückgeführt werden kann. Ihre heutige Aufgabe besteht darin eine Alternative zu der verwendeten Taktik zu entwerfen und abschließend als Präsentation vorzustellen. Dafür werden Sie in Gruppen arbeiten, ihre jeweilige Gruppennummer entnehmen Sie Ihrem Display. Ich stelle Ihnen alle öffentlich zugänglichen Informationen zu der verwendeten Taktik zur Verfügung, damit sie daraus Rückschlüsse für sich selbst ziehen können. Und jetzt beginnen Sie!“ Auf dem Display hinter ihm erschien ein Timer, der von einer Stunde abwärts zählte. Auch die Displays der Studenten leuchteten auf und zeigten Nummern von 1 bis 5.

Vor Naomi leuchtete die Ziffer Fünf. Konnte sie es nach der vorangehenden Situation noch schaffen sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren, oder waren die Meinungen ihrer Mitschüler schon gefestigt? Hinter ihr begannen die Studenten sich zu ihren Gruppen zusammen zu stellen. Sie hörte hinter sich einen Studenten „Gruppe fünf hierher.“ rufen. Einige Momente rang Naomi noch mit ihren Gefühlen, entschloss sich dann aber für die Flucht nach vorne.

Sie stand auf und blickte suchend über die Köpfe der anderen Studenten hinweg. Ganz hinten standen bereits drei Studenten und einer der drei rief wieder „Gruppe fünf hierher.“. Naomi setzte sich in Bewegung. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Misa sich auf dieselbe Gruppe zu bewegte. Misa erreichte die anderen zuerst und Naomi hörte, wie sie sich begrüßten. „Danke für euer Mitgefühl. Es geht schon.“.

Naomi trat hinzu, als Misa die Hand des Jungen ergriff und er sich vorstellte. „Hi, ich bin Marco, das hier ist Laura und dieser kleine hier ist Nils.“ „Lass das, du bist keine 10 Zentimeter größer als ich.“, murrte Nils, der tatsächlich der kleinste in der Gruppe war. Die anderen bemerkten Naomis Anwesenheit und ein unbehagliches Schweigen trat ein.

Mit leicht bebender Stimme begann Naomi „Hi, ich bi“. „Dass du es wagst heute ein Trauerkleid zu tragen.“, zischte Misa. „Du wagst es“, „Misa, bitte“ „Du wagst es die Streifen des Verlusts zu tragen.“ „Misa, lass mich“ „Nein. Du hast hier gar nichts zu sagen, oder Leute?“ Fordernd wandte sie sich an Marco, Laura und Nils. Erst wirkten die drei etwas unsicher, aber auf Misas drängenden Blick hin stimmte Marco zu. „Kolonialisten Abschaum brauchen wir hier nicht.“ Laura und der kleingewachsene Nils warfen sich einen Blick zu, bevor sie stumm nickten und sich von Naomi abwandten. „Misa, bitte lass uns reden.“, unternahm Naomi einen letzten Versuch, aber die angesprochene ballte die Fäuste und erwiderte mit von Hass verzerrter Stimme „Mach das du hier verschwindest du Verräterin.“

Naomi erkannte in dem ihr immer noch gut bekannten Gesichtszügen die unterschiedlichsten Emotionen. Wut, Hass, Trauer und vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie meinte auch etwas Verletztes in ihren Zügen zu erkennen. Dieser Gesichtsausdruck schmerzte sie mehr, als alles was gerade zu ihr gesagt worden war. Wortlos drehte sie sich um und ging zurück. Es erforderte ihre gesamte Kraft die Tränen zurück zu halten, aber sie wusste das ihre neuen Mitstudenten sich wie Aasfresser auf jedes Anzeichen von Schwäche stürzen würden, also hielt sie sie zurück. Sie hätte wissen müssen, dass spätestens seit Misas Auftritt, spätestens seit der Ansprache von Goron Topwa ihr niemand helfen würde. Wieder einmal war die Chance verstrichen neue Verbündete zu finden. Oder wie Naomi traurig dachte, alte wiederzufinden. Wieder hallten Misas Worte wie Schläge in ihrem Magen nach, bevor sie ihren Platz erreichte und sich allein an die Lösung der schwierigen Aufgabe setzte.

Naomi betrachtete den schematischen Plan des Bonaparte-Parks mit gerunzelter Stirn, darauf bedacht die Erinnerungen an jenen Tag zurück zu halten. Sie erkannte die wesentlichen Landmarken intuitiv, die verschlungenen Wege, der große zentrale Platz mit dem Springbrunnen in seiner Mitte. Um den Brunnen waren die Positionen von Menschen eingezeichnet, die überwiegende Mehrzahl in einem neutralen Grau, einige Dutzend jedoch in einem leuchteten Rot. Die Grauen waren die Geiseln, die Roten die Kolonialisten, die den Park besetzt hielten. Naomi musste die Zahlen am rechten Rand des Displays nicht ansehen, um zu wissen wie viele Menschen dort standen.

Es waren 947 Zivilisten und 86 Geiselnehmer. 1.033 Menschen und vier davon trugen den Namen Orinama, drei graue und eine rote Person.

Die Terroristen hatten ihre Geiseln zu einer großen Gruppe zusammengetrieben, während sie sich in einem losen Halbkreis drum herum, beziehungsweise vereinzelt in der Gruppe befanden. Naomi öffnete die Detailansicht eines Wächters und erhielt einen detaillierten Überblick über die zu diesem Zeitpunkt bekannten Informationen. Sofort fiel ihr auf, dass der Sprengstoffgürtel, den alle Angreifer trugen nicht verzeichnet war. Eine der größten Fehleinschätzungen der Eingreiftruppe, es wurde nicht bedacht, dass es zu massiven zivilen Opfern kommen konnte.

Bilder der alten Frau, die Naomi panisch wegzerrte blitzten vor ihren Augen auf. Fast konnte sie wieder den Gesang der Kolonialisten hören, die sich überschlagenden Stimmern, die den Moment ihrer Niederlage noch in einen Sieg verwandeln wollten. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb die unliebsamen Erinnerungen.

Wie hätte das Spezialkommando besser vorgehen können? Wie hätte man mehr Menschen retten können? Naomi öffnete das Simulationsprogramm, dass Professor Kirginja ihnen zur Verfügung gestellt hatte und begann eine Strategie auszuarbeiten. Ihr Hauptfokus war es dabei die Geiselnahme mit möglichst wenig zivilen Opfern zu beenden. Sie versank immer tiefer in die Details des Tages, las sich die kurzen psychologischen Beschreibungen der Täter durch, um den richtigen zu finden, bis sie die Persona von Sarah Orinama öffnete.

Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie das verhasste, schmale Gesicht sah. „Warum hast du das getan, Mama?“ Die Tränen rannen ihrem 13-jährigen Ich die Wannen herab. Sarah starrte sie durch die beinah durchsichtigen Laserschranken an. In ihren Augen glitzerte der Wahn. „Ich hatte keine Wahl.“ „Aber, aber was ist mit Papa?“ “Er stand der neuen Welt im Weg.“, ihre Stimme senkte sich zu einem unheimlichen Flüstern. „Jetzt stehen uns weniger Leute im Weg, begreifst du nicht, dass ich das alles für euch gemacht hatte.“ Ein durchtriebenes Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ich werde als Heldin sterben.“. Naomi riss sich von ihren Erinnerungen los und schloss die geöffnete Datei.

Diese Person war kein geeignetes Ziel für ihre Strategie. Jetzt achtete sie auch darauf diese nicht erneut zu öffnen. Konzentriert und ohne weitere Gedankensprünge arbeitete sie sich vorwärts bis der Timer hinter Professor Kirginja rot zu blinken begann.

Naomi gab ihre Simulation zur Abgabe frei und wartete auf das Ende der Vorbereitungszeit. Langsam wurden um sie herum die Stimmen leiser, bis schließlich der Timer von 00:00:01 auf 00:00:00 sprang. In diesem Moment erhob sich Professor Kirginja von seinem Stuhl und warf einen prüfenden Blick auf seine Studenten. „So, meine Herrschaften. Dann bin ich mal gespannt, was für “, er zögerte und fuhr dann mit leicht ironischem Unterton fort „geniale Lösungen Sie anzubieten haben. Einer jeder Gruppe tritt bitte vor und stellt den Lösungsweg vor und dann können wir noch rechtzeitig ins Mittagessen starten. Gruppe 1 beginnen Sie!“

Ein braun gelocktes Mädchen trat nach kurzer Absprache mit ihrem Team vor die Klasse und startete ihre Simulation, während sie immer wieder Pausen machte, um ihre Entscheidungen zu begründen. Professor Kirginja blieb den gesamten Vortrag über still und machte sich Notizen. Am Ende führte er seine Beobachtungen aus, ging auf einige Kritikpunkte ein und forderte von der Gruppe eine abschließende Analyse bis zu seiner nächsten Unterrichtsstunde.

Danach präsentierten die anderen Gruppen, mal etwas besser, mal etwas schlechter. Naomi verfolgte die verschiedenen Ansätze interessiert, merkte sich gute Ideen und achtete auf Kirginjas Feedback. „Gruppe 5, wenn ich bitten darf.“, sagte dieser schließlich. Sollte sie ihr Ergebnis präsentieren und dadurch die anderen ihrer Gruppe vorführen? Bevor sie sich dazu durchringen konnte hörte Naomi, wie jemand nach vorne ging. Es war Misa, deren schwarzes Kleid um ihre Knöchel strich. Sie trat vor die Klasse und blickte erst einmal schweigend in die Gruppe hinein. Schließlich räusperte sich Professor Kirginja und bedeutete ihr zu beginnen.

„Wir als Gruppe haben uns darauf konzentriert gesellschaftlich bedeutende Personen zu evakuieren und dafür zu sorgen, dass möglichst viele der Drahtzieher gefangen zu nehmen, um sie zu verhören und dieses Terroristennetzwerk auszuheben.“ Sie öffnete einen Plan, auf dem die Geiselnehmer und ihre Geiseln markiert waren. Diese leuchteten jetzt in verschiedenen Farben auf und Misa erklärte „Die Grün markierten haben wir als wertvoll markiert. Unsere Kriterien waren dabei zum Beispiel der gesellschaftliche Stand, der Beruf und das Alter der betroffenen. Die orangen markierten Terroristen waren die Rädelsführer des Angriffs und sollen für spätere Verhöre verschont bleiben. Soweit ich weiß wurde beim realen Angriff nur eine “, ihre Augen flackerten zu Naomi, „Anführerin festgenommen. Mit unserem Plan wäre es möglich bis zu 5 hochrangige Personen gefangen zu nehmen und dabei bis zu 200 Personen zu evakuieren. Beim realen Angriff wurde diese eine Anführerin gefangen genommen, während nur 53 Personen den Anschlag auf lange Sicht überlebten.“