IHP Last Hope: Epicinium

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Zwischenspiel: Vertuschung

Ein leises Stöhnen entfuhr Walter Pillert. Was er jetzt brauchte war ein Kaffee. Ein starker Kaffee. Normalerweise hätte er vor 10 Minuten nach Hause gehen können, aber das war ihm gründlich verdorben worden. Mit der einen Hand nestelte er am Kaffeeautomat herum, während er mit der anderen die Müdigkeit aus seinen Augen verscheuchte.

Während die Tasse sich füllte ging er das bevorstehende Meeting nochmal im Kopf durch. Wer würde kommen? Die zwei ermittelnden Beamten, Mahrai und Shun, dann noch Ein Kollege aus dem Call-Center, Werel, außerdem noch ein Forensiker der die Spuren am Tatort aufgenommen hatte und er, Walter Pillert, F-Admiral der Inneren Sicherheit.

Als ranghöchster anwesender Offizier fiel es in seine Zuständigkeit auf den Vorfall eine angemessene Reaktion zu geben. Kaffeearoma erfüllte den Raum. Allein der Geruch besserte seine Laune ein wenig. Einen Schluck später fühlte er sich schon fast wieder wach. Er strich sich die Uniform glatt und betrat den angrenzenden Konferenzraum. Die Anwesenden standen alle und unterhielten sich.

Mit Ankunft der schlanken Gestalt Pillerts verstummten allerdings alle Gespräche und die Anwesenden legten ihre rechte Hand zum Salut auf die linke Schulter, während die andere hinter dem Rücken verschränkt wurde. Pillert ging gemächlich zu seinem Platz an der Stirnseite des langen Tisches. Dabei schweifte er mit seinem Blick alle Umstehenden, betrachtete ihre Gesichter eingehend und ordnete ihnen die passenden Namen zu. Als er seinen Stuhl an der Stirnseite des Tisches erreichte verharrte er noch einen Moment, bevor er sich bedächtig niederließ.

„Rühren und setzen Sie sich.“, befahl er mit ruhiger, befehlsgewohnter Stimme. Die anderen Teilnehmer setzten sich schweigend. Würde sich jemand trauen die Initiative zu ergreifen? Nach einem Moment des Schweigens war die Antwort klar. Nein. Also begann er „Sie sind hier, um Report zu geben über den Vorfall im Chandler Park.“ Sehr viel mehr wusste er noch nicht, es war die Aufgabe seiner Untergebenen ihn zu informieren.

Er wandte sich an Mahrai, sie war mit der Führung der Ermittlungen betraut worden. Letztlich würde es von ihren Ergebnissen abhängen, wie Pillert mit der Situation verfahren würde. War ein wichtiger Bürger das Opfer, so mussten erhöhte Ressourcen zur Aufklärung des Falls bereitgestellt werden. War es dagegen niemand von Bedeutung würde es reichen, wenn Mahrai am nächsten Tag eine Pressekonferenz hielt und dann mit einem begrenzten Team an der Aufklärung weiterarbeitete. Er sah der älteren Frau in die Augen.

„Berichten Sie, Mahrai.“ „Gewiss, F-Admiral Pillert. Um 02:45 wurde die Innere Sicherheit von einem Zivilisten angerufen. Er meldete eine tote Person im Chandler Park bei einem Spaziergang gefunden zu haben. Kollege Shun und ich waren zu der Zeit ein paar Blocks weiter auf Patrouille, also wurden wir dorthin entsandt. Um 02:52 Uhr sind wir angekommen. Der Zeuge wies uns den Weg und dort fanden wir den nackten Körper eines Mädchens. Auf den ersten Blick waren schwere Verwundungen am ganzen Körper sichtbar. Außerdem haben wir festgestellt, dass der Zivilist sich geirrt hatte und das Opfer noch am Leben, wenn auch bewusstlos war. Wir haben ein Krankenwagen gerufen und während der Wartezeit den Zeugen befragt. Er konnte keine weiteren Informationen geben, also haben wir ihn nach Hause entlassen. Im Krankenhaus konnte dann schließlich das Opfer identifiziert werden. Es handelt sich um Ari Orinama.“

Pillerts Gedanken rasten. Gerade hatte er sich noch die passende Reaktion auf diese Situation überlegt, aber das war jetzt hinfällig. Orinama. Das änderte die Situation.

„In welcher Verbindung steht sie zu Sarah Orinama?“, fragte er. War sie nur entfernt verwandt wäre es möglich die Öffentlichkeit zu beruhigen. „Sie ist ihre Tochter. Die jüngste Tochter.“, antwortete Shun. Die Tochter. Direkt verwandt mit der Terroristin. Innerlich stöhnte Pillert erneut auf.

Natürlich konnte es keine Routinesituation werden. Das konnten sie nicht an die Öffentlichkeit geben. Ermittlungen, die öffentlich würden, würden ein schlechtes Licht auf die innere Sicherheit werfen. Es würde so aussehen, als ob sie sich für die Kolonialisten einsetzen würden. Folglich durften keine Informationen aussickern.

Sein Entschluss stand binnen weniger Sekunden, aber bevor er ihn mitteilen konnte, musste er sich den Bericht der anderen fertig anhören. Also ließ er sie reden. Er erfuhr von dem Anruf der älteren Schwester, dass keine eindeutigen Spuren am Tatort gefunden werden konnten und dass das Opfer erst in etwa einer Woche ansprechbar sein würde.

Als alle Informationen auf dem Tisch lagen schwieg Pillert eine Zeit lang. Er wusste, wie er seiner Antwort einen Hauch Autorität geben konnte. Sollten sie sich fragen, wie er entscheiden würde. Jede Sekunde des Rauszögerns gab seiner Entscheidung mehr Gewicht. Leise gab er sie schließlich bekannt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Vorfall an die Presse dringt. Als Ihr vorgesetzter Offizier befehle ich Ihnen, außer den hier Anwesenden niemanden in die Ermittlungen einzubeziehen.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte er das Mahrai die Stirn runzelte. Natürlich konnte ihr seine Entscheidung nicht gefallen. Sie würde keine zusätzlichen Ressourcen erhalten und das von ihm verhängte Embargo würde es ihr erschweren potenzielle Täter zu befragen, geschweige denn sie zu identifizieren.

Aber dies war der Preis für den guten Ruf der Inneren Sicherheit. Walter Pillert war in normalen Zeiten ein Mann, der es absolut ablehnte, Verbrecher davon kommen zu lassen. Aber im Fall Ari Orinama würde er seine moralischen Werte biegen. Sie war eine Orinama was schwer genug wog, den Ausschlag gab jedoch der mögliche Rufverlust der inneren Sicherheit. Also fuhr er fort. „Wir werden zudem die offiziellen Berichte zurückhalten, bis wir den oder die Täter benennen können“, was natürlich nicht passieren würde, „Also denken Sie daran. Kein Wort zur Presse oder einer anderen offiziellen Stelle. Wegtreten.“ Pillert beobachtete ganz genau, wie seine Untergeben auf dieses Manöver reagierten. Alle schienen es zu schlucken, alle bis auf Mahrai, die wohl an dem Fall weiterarbeiten wollte. Kein Problem, dachte er bei sich, er würde ihr die nächsten Wochen und Monate schlicht keine Zeit lassen sich mit diesem Fall zu beschäftigen. Er würde sie mit dringenden Aufträgen überfluten und so seinen, nein den Ruf der inneren Sicherheit erhalten.

Warten

Das wenige was von der Nacht noch blieb verbrachte Naomi am Bett ihrer Schwester, während sie darüber nachdachte, wie sie Ari in Zukunft vor so etwas schützen konnte.

Bisher war ihr Plan gewesen in den Sicherheitsdienst einzutreten und dort den Ruf ihrer Familie als Staatsfeinde zu revidieren. Aber dies war ein langfristiger Plan, ein Plan, der immer noch ganz am Anfang stand und von dem sie nicht wusste, wann und ob er Erfolg haben würde. Was sie brauchte waren sofortige Ergebnisse. Ein Weg sich und Ari öffentlichkeitswirksam von ihrer Mutter loszusagen. Sich von der Frau zu trennen, die sie mehr hasste als jeder andere auf diesem Schiff. Naomi war noch nie gut mit Worten gewesen und das Sprechen vor vielen Menschen machte ihr Angst. Würde ihr überhaupt jemand zuhören, geschweige denn seine Meinung aufgrund bloßer Worte ändern?

Naomi bezweifelte das, also grübelte sie weiter, suchte nach einer nachhaltigen Möglichkeit Ari zu beschützen. In verworrene Gedankenspiele versunken schlief sie schließlich ein. Ihr Kopf senkte sich herab und fiel langsam auf das Bett, vor Aris Gesicht.

Hinter ihren zuckenden Augenliedern durchlebte Naomi das erste Mal seit vielen Jahren die Nacht, nach dem Anschlag. Es war mehr als ein Traum, es war, als ob Naomi wieder 13 Jahre alt wäre.

Beim Aufbrechen der Geiselnahme hatten die Kolonialisten Sprengladungen gezündet. In dieser Nacht stießen die umliegenden Krankenhäuser an ihre Grenzen. So einen Vorfall hatte es nie zuvor gegeben, noch nie mussten so viele Schwerverletzte auf einen Schlag behandelt werden. Selbst unter Aufbietung alles verfügbaren medizinischen Personals gab es zu wenige, um all die Verletzten zu behandeln. Also hatte man Naomi in einem regulärem Patientenzimmer untergebracht. Dort lag sie mit der aufklaffenden Rückenwunde, die die Ärzte behelfsmäßig genäht hatten, bevor sie sich dringenderen Fällen widmeten. Naomi konnte nicht schlafen. Mit leerem Blick starrte sie die gegenüberliegende Wand an. Die war, wie das restliche Zimmer klinisch weiß, die digitalen Fenster waren deaktiviert worden und so durchdrang nur der stechende Geruch nach Desinfektionsmittel den ansonsten leeren Raum. Sie fühlte sich so leer. Sollte sie nicht traurig sein? Oder wütend? Aber nein, sie fühlte nur Leere in sich. Sie wusste nicht wie viel Zeit verging, aber irgendwann öffnete sich die Tür.

Eine Frau schob ein weiteres Bett in den Raum. Naomi konnte nicht erkennen wer darauf lag, aber es war ihr eigentlich auch egal. Die Frau verdeckte mit ihrem Körper das Gesicht der Person, als sie das Bett an die Wand zog und dann das Display auf die Überwachung der Geräte programmierte. Ein großer Schweißfleck war am Rücken der Ärztin zu sehen. Sie war wohl gestresst, denn mehrfach gab sie falsche Befehle ein und fluchte leise vor sich hin. Endlich war sie wohl fertig und hetzte wieder aus dem Raum. Desinteressiert wandte Naomi ihre Augen auf das Gesicht der anderen Person und mit einem Mal fühlte sie wieder etwas.

Es war, als wäre ein Damm der alten Erde gebrochen, hätte den Fluten der alten Meere nachgegeben. Vor ihr lag ihre kleine Schwester, Mika. Sie hatte Mika seit der Explosion nicht mehr gesehen. Die alte Frau hatte Naomi mitgeschleift, aber Mika konnte nicht so schnell laufen. Naomi konnte nur Ausschnitte von Mika’s Gesicht sehen, der größte Teil ihres Körpers war in Plastikschalen oder in Bandagen eingewickelt. Sie musste schwer verletzt sein.

 

„Mika.“, flüsterte Naomi. „Mika. Bist du wach?“ Sie lauschte. Ganz leise konnte sie das Atmen ihrer Schwester hören. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, aber die kleinste Bewegung tat weh. „Mika.“, flüsterte sie nochmal. Sie musste mit ihr reden. Musste mit ihr über die letzten zwei Tage sprechen. Also redete sie. Sie hatte mal gehört, dass Bewusstlose unterbewusst wahrnahmen was mit ihnen besprochen wurde. „Mika. Ich weiß nicht, ob du dich an alles erinnerst. Papa ist tot. Und Mama … Mama“, sie stocke. Nein sie konnte nicht darüber reden. Also versuchte sie das Thema zu umgehen. Sie redete und redete, bis ihr Mund ganz fusselig war. Dann schwieg sie, wartete auf eine Reaktion. Als keine kam wurde sie wütend. „Mika! Sag was! Rede mit mir!“ Sie beschimpfte ihre Schwester, weinte, flüsterte, flehte. Aber Mika reagierte nicht.

Schließlich schwieg Naomi. Ihr Blick war auf die Wand hinter Mika gerichtet, sie strafte sie mit Nichtbeachtung. Auf dem dort angebrachten Display leuchtete eine gezackte Linie.

Das musste der Puls von Mika sein. Er ging auf und ab, auf und ab und auf und ab. Im Stillen starrte Naomi das Display an. Auf und ab. Was sollte jetzt aus ihnen werden? Auf und ab. Sie hatten keine Verwandten mehr, nur Ari. Auf und ab. Was war mit Ari? Sie musste schreckliche Angst haben. Auf und ab. War sie daheim in der Wohnung, ganz allein? Nein, sie war viel zu jung. Sie musste bei einer Freundin sein. Auf und ab. Könnten sie alle zu Freundinnen? Sie könnten bestimmt bei Misa einziehen. Misa war Naomis beste Freundin. Sie würden alle bei ihr wohnen können. Auf und ab. Aber Papa war nicht mehr da. Papa war weg. Für immer. Auf und ab. Und Mama? Mama war auch weg, entschied Naomi. Ab und ab. Sie weigerte sich weiter über Mama nachzudenken. Wie hatte sie das nur tun können? Ab und gerade. Misas Familie würde sich um Naomi und ihre Schwestern kümmern. Misa war ihre beste Freundin. Ganz bestimmt.

Gerade. Gerade?

Die rote Linie war gerade. Sie lag bei 0.

„Mika!“ Panik durchströmte Naomi. „Mika. Jetzt sag was! Mach mir keine Angst!“ Sie horchte. Sie hörte … nichts. Nichts. Mika atmete nicht mehr. „Mika!“, kreischte sie. „Wach auf!“ Wo waren die Ärzte? In den Filmen kam in so einen Fall immer jemand herbeigeeilt und rettete den Patienten. Aber es kam niemand. „Hallo?“, schrie sie. „Ist hier jemand?! Mika braucht Hilfe!“

Sie erwartete eilige Schritte zu hören, ein Aufstoßen der Tür, aber es kam nichts. „Hilfe! Kommt doch. Schnell!“ Sie schrie so laut sie konnte, aber niemand reagierte. Sie musste etwas tun, Hilfe holen. Aber dafür musste sie aufstehen. Naomi versuchte sich aufzurappeln. Ein unvorstellbarer Schmerz durchfuhr sie. Ihr Rücken brannte, als ob in der offenen Wunde noch immer Splitter stecken würden. Wahrscheinlich waren einige der provisorischen Nähte gerissen. Naomi spürte, wie warmes Blut ihren Rücken hinabfloss. Aber sie kümmerte sich nicht darum und schrie wieder „Hilfe. Bitte. Irgendwer?“

Sie kam nicht hoch, also wuchtete sie ihren Körper zur Seite und landete schwer auf ihrem Gesicht. Der Aufprall durchzuckte ihren ganzen Körper, betäubte ihre Gelenke und hinterließ ein dumpfes Pochen. Tränen rannen ihr übers Gesicht, aber sie hatte keine Zeit sich darum zu kümmern. Wo waren die Ärzte? Wo das ganze medizinische Personal? „Hilfe. Meine Schwester braucht Hilfe“, ihre Stimme erstickte. Sie musste weiter. Unter lautem Stöhnen stützte sie sich auf ihre Ellbogen und kroch in Richtung Tür. Sie sah auf das Display hinter Mika‘s Bett, es blinkte immer noch rot. Vor Verzweiflung überschlug sich ihre Stimme. „Hilfe! Kommt doch irgendwer.“

Sie war an der Tür. Glücklicherweise ließ sie sich in beide Richtungen aufschieben. Mühsam robbte sie ein Stück vorwärts und lag jetzt zum Teil im Flur des Krankenhauses. Niemand reagierte auf ihre Rufe. Wo musste sie hin? Gehetzt blickte sie den Gang erst links und dann rechts hinunter. Es sah gleich aus. Wo konnte sie Ärzte finden? Sie holte nochmal tief Luft und schrie aus voller Kehle. „Meine Schwester braucht Hilfe!“ Schwer atmend wartete sie, aber keine der Türen, die den Gang säumten, öffnete sich. Aus keiner kamen Ärzte gerannt, um Mika zu helfen. Sie entschied sich für den linken Weg. Das Kriechen fiel ihr zunehmend schwerer, aber sie schrie so oft sie konnte. Sie kam zwei Türen weit, bevor sie es hörte. Endlich hörte sie jemand anderen als sich selbst. Sie hörte Schritte.

Sie drehte den Kopf und sah 2 Männer in weißen Kitteln auf sie zu rennen. „Kind. Was machst du denn da?“, schrie der eine sie an. „Bitte. Bitte helfen Sie meiner Schwester.“ Waren es Tränen der Erleichterung, die jetzt über ihre Wangen rollten? Jetzt würde alles gut werden. Sie sah, wie der eine Mann das Zimmer betrat, aus dem sie gerade gekrochen war. Der andere kam zu ihr und beugte sich zu ihr runter. „Alles wird gut, Kind. Ich bin Dexter. Ich helfe dir, währen Boil deiner“, mitten im Satz wurde er unterbrochen. „Dexter. Komm sofort her. Wir müssen sie in den OP bringen. Schnell.“ Bevor Naomi die Worte auch nur verarbeiten konnte richtete sich der freundlich lächelnde Mann auf und folgte seinem Kollegen.

Wenige Sekunden später kamen sie wieder heraus. Sie schoben Mikas Bett mit sich und sprinteten dahin, von wo sie gekommen waren. Sie ließen Naomi zurück.

Langsam verarbeitete sie die letzten Sekunden. Stück für Stück setzte sie die Bruchstücke zusammen und folgerte was das für sie bedeutete. Es war etwas Ernstes. Sie hatten Mika mitgenommen. Sie wollten ihr helfen. Sie wollten zum OP. Also musste sie auch dahin. Sie musste jetzt aufstehen, sonst würde sie die Ärzte nie einholen. Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war durchfuhr neue Kraft ihren Körper. Mit einem lauten Aufstöhnen kam sie auf die Knie und Hände und richtete sich mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung schließlich auf die Beine auf. Sie spürte, wie dieser Akt noch mehr der Nähte platzen ließ, sie ignorierte den Schmerz und tat den ersten Schritt. Sie kam zwei Schritte weit, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie zu Boden sackte.

Der Aufprall riss Naomi aus dieser schrecklichen Erinnerung. Schwer atmend zuckte sie hoch und sah sich desorientiert um. Das Zimmer sah aus wie jedes Krankenzimmer der Last Hope, steril und weiß. Aber es war nicht Mikas Zimmer. Hier lag Ari vor ihr. Zwar schwer verletzt, genau wie Mika, aber Ari würde leben. Anders als Mika würde Ari dieses Bett verlassen. Naomi würde nicht zulassen, dass auch das letzte Teil ihrer Familie sie verließ. Nie wieder würde sie sich so hilflos fühlen wie an jenem Morgen, als sie nach Mika fragte und sie tot war. Nie wieder.

Aber sie hatte Angst. Angst einzuschlafen und zu merken, dass Ari gestorben war, also stand sie auf und begann zu laufen. Solange sie sich bewegte konnte sie nicht schlafen und solange sie nicht schlief konnte sie sehen, dass Ari lebte. Also ging sie, sie ging, bis ihre Beine schmerzten und sie nur noch langsam vor sich hin trottete. Irgendwann klopfte jemand an die Tür und Naomi sprang erschrocken zurück, als diese sich öffnete. Eine Frau in weißen Kittel kam herein, gefolgt von einem Assistenten. Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. „Miss Orinama, ich bin Doktor Jenn und das ist mein Assistent, Herr Kal. Ich möchte nach Ihrer Schwester sehen und sie sollten sich ausruhen und etwas schlafen.“ „Aber ich kann nicht weg, Doktor. Bitte, lassen Sie mich bleiben.“ Die Frau musterte stirnrunzelnd die tiefen Ringe unter Naomis Augen, ihren entschlossenen Blick und seufzte dann. „Nils, bringst du bitte noch ein Bett hierher.“ „Danke, Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Die Frau nickte und verwies Naomi auf ein angrenzendes Bad. „Während ich ihre Schwester untersuche können sie sich dort umziehen. Klamotten sollten dort in allen Größen ausliegen.“

Verwirrt blickte Naomi an sich herab und bemerkte, dass sie immer noch das schwarze Trauerkleid trug.

Sie dankte der Frau und als sie wenige Minuten später zurück kam stand ein zweites Bett, neben dem von Ari, auf einem Beistelltisch lag ein Tablet mit Rührei und Toast. Ihr Magen knurrte bei dem Anblick und sie erinnerte sich, dass ihre letzte Mahlzeit schon einen ganzen Tag her war. Hungrig verzerrte sie das Frühstück und blickte sich anschließend suchend um.

Die Bewegung und das Frühstück hatten sie wieder munter gemacht, also sollte sie sich jetzt an die Analysen von Professor Kirginja setzen, damit sie in seinem Unterricht nicht zurückfiel. Sie versenkte sich in die Arbeit, verbrachte Stunde um Stunde mit der Vorbereitung und der Wissensaufnahme.

Irgendwann brachte ihr jemand ein Mittag- und schließlich ein Abendessen. Ihre Augen wurden immer schwerer und sie musste sich immer stärker kneifen, um nicht einzuschlafen, bis irgendwann spät in der Nacht Doktor Korjing das Zimmer betrat. Er nickte ihr zu, bevor er an Aris Bett trat und einige Anzeigen überprüfte. Sie beobachtete ihn schweigend, wartete auf das kleinste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Schließlich kam er zu ihr, setzte sich neben sie und schaute sie an. „Miss Orinama, erinnern Sie sich, worum ich Sie gebeten hatte?“, fragte er freundlich, aber bestimmt. „Ja. Es tut mir leid Doktor, aber ich kann sie nicht allein lassen.“, versuchte sie sich rauszureden, aber er wollte auf etwas anders hinaus. „Wie lange sind Sie jetzt schon wach? Sie müssen schlafen, sonst schaden Sie nur sich selbst.“ Sie erschauerte bei dem Gedanken an das was ihre Träume ihr zeigen würden.

„Ich kann nicht.“, hauchte Naomi und rieb sich die Augen. „Wenn ich schlafe wird ihr was passieren und ich bin nicht da, ich war nicht da für … Ich kann nicht schlafen.“ Prüfend musterte er sie, dann zog er aus seinem Kittel eine kleine Schachtel. „Nehmen Sie eine vor dem Schlafen gehen, es sorgt für traumlosen Schlaf.“, er drückte ihr die Packung in die Hand und verließ den Raum wieder. In der Stille, die der Arzt hinterließ, rang Naomi mit sich, bis schließlich ihr Wunsch nach Schlaf gewann. Sie erhob sich, fühlte noch einmal die beruhigende Wärme des Lebens an Ari und legte sich dann in ihr eigenes Bett. Sie schluckte die weiße Pille und fiel nur Minuten später in einen tiefen Schlaf.