Hisian - Land der Sehnsucht

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„Wie war denn das? Waren nicht alle in der Familie sehr traurig?“

„Ja, wir waren alle sehr traurig und sind es heute immer noch. Deshalb ist diese Puppe als Erinnerung in der Kammer hier geblieben.“

„Oma hat wohl nicht mit dieser Puppe gespielt?“

„Nein, meine Frau, deine Uroma, wollte das nicht.“

„Warum wollte das denn die Uroma nicht?“

„Sie wurde traurig, wenn sie die Puppe sah und kaufte deshalb deiner Oma lieber eigene Puppen. Die Puppe ist seitdem in dieser Kammer. Ich glaube manchmal hat deine Uroma die Puppe besucht und sich mit ihr an ihre Tochter erinnert. Wie oft sie hier war, weiß selbst ich nicht.“

Amelie sah, dass der Urgroßvater eine Träne im Auge hatte. Deshalb fragte sie schnell.

„Dann hatte Oma auch so schöne Puppen, wie diese?“

„Ja natürlich, damals war noch kein Krieg und wir haben unserer Tochter alle Wünsche von den Augen abgelesen. Sie war unser einziges Kind.“

In den Augen des Urgroßvaters standen plötzlich Tränen. Deshalb beschloss Amelie, später ihre Oma zu fragen.

Der Urgroßvater war traurig. Amelie ließ sich trotzdem durch die vielen Dinge, die sie von seinem Arm aus sehen konnte, ablenken. Ihr Blick wurde von etwas Buntem in einer Ecke der Kammer angezogen.

„Schau mal dort, ist das nicht ein Buch. Oh, bitte lies mir daraus vor!“

Der Urgroßvater war froh, dass er nicht mehr nach dem traurigen Schicksal seiner Tochter gefragt wurde und ging mit Amelie zur Kommode in der Ecke. Dort lagen einige Bilderbücher. Er suchte schnell eines davon aus und ging mit Amelie in die Küche.

Er würde dieses Kind nicht noch einmal allein in der düsteren Kammer lassen. Womöglich kroch sie dann wieder unter das alte breite Bett. Er hätte sie niemals unter diesem Ungetüm hervor holen können. So gelenkig war er einfach nicht mehr.

Wenn ihre Mutter nachher zurückkam, würde er ihr sagen müssen, dass die Kleine leider nicht wieder bei ihm schlafen konnte. Er in seinem Alter wollte diese Verantwortung einfach nicht mehr übernehmen.

So kam es, dass Amelie zwar keine Angst mehr vor dem Urgroßvater hatte, aber auch nicht mehr in der dunklen Kammer schlafen musste. Eigentlich schade, denn nun hatte sie keine Angst mehr vor den Dingen und Schatten dort.

Wenn sie später zum Urgroßvater zu Besuch kam, las er ihr aus den vielen bunten Büchern vor, die in der obersten Schublade der Kommode lagen. Sie und der Urgroßvater wurden gute Freunde. Amelie freute sich auf die Besuche bei ihm. Sie sah den Urgroßvater mit anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch.

Die Sache mit der Tante und die traurigen Augen des Urgroßvaters hatte sie bald vergessen.

Die Geschichten, die der Urgroßvater vorlas, waren viel spannender. Sie konnte davon nie genug bekommen.

Heißes Wasser

Amelies Wagemut hatte sich nach dem Sturz in die Tiefe nicht gelegt. Ihr war bei dem Sturz nichts passiert und so vergaß sie diese schlimme Erfahrung so schnell, dass sie neuen Gefahren immer wieder arglos entgegen ging.

Eines Tages, ihre Eltern waren mit dem neuen Auto unterwegs in die Stadt, durfte sie mit den anderen Kindern auf der Straße spielen. In ihrem ruhigen Dorf konnte den Kindern nicht viel geschehen. Die Straßen waren wenig befahren und die Erwachsenen nahmen Rücksicht auf die spielenden Kinder.

Sie spielte mit den Kindern und im Spiel gerieten sie in die Waschküche einer Nachbarin. Was sich in dieser Waschküche ereignete, war für Amelie so erschreckend und schmerzvoll, dass sie die genauen Umstände nicht im Gedächtnis behalten konnte. Amelie schämt sich immer noch für ihre Dummheit. Wie konnte sie nur alle Vorsicht vergessen und in diesem Spiel gewinnen wollen? Wie konnte sie nur!

In der Waschküche standen verschiedene Dinge wie Tische, Stühle, Hocker und ein eingemauerter Waschkessel. Alle Kinder spielten gemeinsam das Spiel.

Wer ist die oder der Größte?

Jedes Kind suchte sich einen Platz, auf dem er oder sie die Anderen überragen konnte.

Als Amelie an der Reihe war, hatten die meisten Kinder schon einen Platz gefunden. Amelie schaute und schaute. Sie würde auf dem Hocker oder auf dem Tisch keinen der anderen überragen können. Als sie schon aufgeben wollte, entdeckte sie in der Ecke noch einen freien Platz. Er war der höchste überhaupt. Amelie war sehr stolz. Sie hatte den Platz entdeckt, der am höchsten Punkt gelegen war. Keiner von den Anderen hatte sich dorthin gewagt.

Warum eigentlich nicht? Amelie dachte in der Gewissheit des Sieges nicht weiter darüber nach.

Der Deckel, der den Waschkessel verschloss, war doch noch ein Stück höher als der Waschkessel selbst. Rund um den Deckel des Waschkessel war Platz für zwei Kinder. Diese Plätze waren schon besetzt und so stieg Amelie - klettern konnte sie gut - auf den Deckel.

Gerade als sie lauthals verkündete, dass sie die Größte sei, spürte sie wieder einmal ein Ziehen in ihrem Bauch. Sie wusste in diesem Augenblick genau:

Hier stimmt etwas ganz und gar nicht!

Der Deckel kippte nach der Seite, der linke Fuß tauchte in den Kessel ein, Amelie verlor das Gleichgewicht und stand mit beiden Beinen in siedendem Wasser.

Sie stieg heraus. Wie sie das geschafft hatte, ist im Nebel des Schmerzes verschwunden. Ihr erbärmliches Schreien ließ die Nachbarin herbei eilen. Sie war sehr erschrocken. Die Kinder spielten unbemerkt in der Waschküche. Sie handelte automatisch. Schnell brachte sie die schreiende Amelie in ihre Küche. Dort saß ihr Mann und trank eine Tasse Kaffee. Gemeinsam überlegte das Ehepaar was zu tun sei.

Da es nur wenige Telefone im Ort gab, musste unbedingt jemand mit einem Auto herbeigerufen werden.

Amelies Eltern waren zur Stadt gefahren. Telefon hatten im ganzen Dorf nur der Wirt und die Frau, die die Post austrug. Schnell wurde eins der Kinder zum Wirt geschickt. Die Schänke war dem Unfallort am nächsten. Auf dem Weg dorthin kamen dem Jungen Amelies Eltern mit ihrem Auto entgegen. Er hielt sie an und erzählte was geschehen war.

Zur gleichen Zeit in der Küche der Nachbarin saß Amelie auf einem Stuhl und die Nachbarin sah sich ihre verbrühten Beine an.

Die Strumpfhose war an den Beinen festgeklebt - wie eingebrannt hing sie auf der Haut. Amelie trug an diesem Tag ihren Spielrock, wie so oft, wenn sie mit den anderen auf der Straße spielte. Sie war von den Schmerzen, die von der Verbrühung herrührten benommen.

Die Nachbarin wies ihren Mann an Amelie festzuhalten. Diese wusste nicht wie ihr geschah.

Der Nebel, in den sie gehüllt zu sein schien, half ihr das Kommende zu ertragen. Sie sah auf ihre Beine und schaute zu, wie die Nachbarin an ihrer Strumpfhose zog. So konnte sie gerade noch sehen, dass seltsame große Blasen an ihren Beinen zum Vorschein kamen, bevor ihr die Sinne schwanden.

Im Lande Hisian angekommen, schwebte die Duse direkt vor Amelies Augen.

„Mein liebes Kind, wie konnte das nur geschehen? Du warst sehr leichtsinnig und vorwitzig! Schau hin wie deine Beine jetzt aussehen.“

So wie in diesem Moment hatte Amelie die Duse noch nicht erlebt. Die letzten Male war sie sehr freundlich und erklärte ihr, was sie nicht verstand oder unterstützte sie. Warum erklärte sie ihr jetzt nicht, was ihr Schreckliches geschehen war? Warum war sie hier?

Die Duse beantwortete die gedachte Frage sofort.

„Meine liebe Amelie. Du warst übermütig und unvorsichtig! Heute wäre für dich keine Lektion vorgesehen gewesen. Deshalb müssen wir in meinem Labor bleiben. Sonst bringst du in Hisian noch alles vollständig durcheinander.

Eine ungeheure Leichtsinnigkeit war es von dir in diesem Spiel gewinnen zu wollen. Hast du denn nicht nachgedacht?“

Die Duse schlug einen Ton an, den Amelie von ihr nicht kannte. Sie war böse mit ihr. In Amelies Bauch rumorte es gehörig. Ein heißer Schauder lief durch ihren Körper von ganz unten aus der Erde, bis hinauf in ihr Herz.

„Wie war denn das Gefühl in deinem Bauch als du auf den Deckel gestiegen bist? Hast du die Achtungszeichen nicht gespürt? Wo war deine Vorsicht?“

Die Duse war aufgeregt, deshalb sprudelten ihr die Fragen nur so über die Lippen.

„Ich wollte die Größte sein. Deshalb habe ich nicht auf mein Gefühl geachtet. Ich weiß, das war falsch.“

Amelie war sehr kleinlaut geworden.

Die Duse war so ärgerlich, dass sie keine tröstenden Worte fand.

„Was ist daran so gut, die Größte zu sein? Kannst du mir das einmal erklären?“

Ein Zittern lief über Amelies Gesicht. Sie wusste, es war dumm von ihr auf den Deckel zu steigen und dafür schämte sie sich jetzt.

Die Duse durch Amelies Scham besänftigt, lenkte ein.

„Also gut mein Kind, wir sind in meinem Labor. Wir werden dir helfen.“

Nun, durch das Einlenken der Duse etwas ruhiger, sah sich Amelie um, denn sie hatte vor Schmerzen und Angst nicht bemerkt, dass Maike fehlte und sie nicht auf der Blumenwiese oder einer Lichtung in der freien Natur war.

Wie schrecklich, wenn die Duse aufgeregt und ungehalten war. Ihr Gesicht veränderte sich dann beängstigend. Vor Ungeduld ruderte sie mit den Armen und dieses Verhalten erschreckte Amelie sehr. Es war wirklich besser sie kam zu einer Lektion nach Hisian und nicht wegen ihrem sträflichen Lichtsinn. Sie war sehr zerknirscht. Wie konnte sie nur so dumm sein? Was hatte sie sich nur gedacht als sie auf den Deckel stieg?

In Hisian konnte nicht nur die Duse Gedanken lesen. Dort konnte es auch Amelie. Deshalb hörte sie die Duse nach einem alten Freund rufen.

„Reginald, Reginald komm schnell! Wir haben hier ein körperliches Problem. Verbrennungen – um es ganz genau zu sagen.“

 

Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich ein Mann vor den beiden. Er war klein und nicht mehr ganz jung.

Konnte er schweben?

Amelie hatte nicht gesehen ob er hereingeschwebt war. Komisch, von dem Moment an als dieser Reginald erschienen war, spürte sie überhaupt keine Schmerzen mehr.

Er schwebte zu ihr herüber. Als er vor ihr schwebte, bemerkte sie, dass er ein langes und ein kurzes Bein hatte. Was mochte ihm geschehen sein?

Reginald erklärte es ihr umgehend, denn Ablenkung ist nach einem Unfall alles! Die Schmerzen hätten andernfalls Amelies Bewusstsein vernebelt. Das war der Grund aus dem sich Reginald beeilte zu erzählen.

„Ich war auch so unvorsichtig wie du. Vor vielen, vielen Jahren habe ich mir als kleiner Junge, in einem anderen Land als deinem Heimatland, das Bein gebrochen. Damals hatten wir in meinem Heimatdorf keinen Heiler, der sich mit körperlichen Problemen so auskannte wie ich. Deshalb ist mein Bein nicht richtig zusammen gewachsen und ich sehe etwas bizarr aus. In Hisian ist das kein Problem, denn hier schweben alle und beim Schweben habe ich keine Schwierigkeiten mit meinen Beinen!“

Amelie nickte als hätte sie jedes Wort verstanden. In Wahrheit verstand sie überhaupt nichts. Sie musste sich sehr bemühen, um nicht im Nebel der Schmerzen zu versinken. Reginald erzählte unbeirrt weiter.

„Im Lande Hisian braucht sich keiner so zu mühen wie die Menschen auf der Erde. Sie werden manchmal vom vielen Laufen müde. Oder ihre Beine schmerzen, wenn sie den ganzen Tag gelaufen sind. Reginald schaute Amelie in die Augen und in ihr Herz schlich sich die Gewissheit, dass die Schmerzen nicht wieder in ihr Bewusstsein dringen würden. So konnte sie sich diesen Mann, der sie von ihren Schmerzen befreit hatte, genauer betrachten.

Seine roten Haare und der komische Hut auf seinem Kopf verliehen ihm etwas Erhabenes. So einen Hut hatte Amelie noch nie gesehen. Der Versuch den Hut mit einem zu vergleichen, den Amelie schon einmal gesehen hatte, misslang. Denn der Zylinderhut, den ihr die Oma einmal zeigte, unterschied sich grundsätzlich von dem Hut, den Reginald trug. Warum dachte sie jetzt an den Zylinder ihres Opas? Ihr Opa war einfach verschwunden. Das wusste Amelie von Ihrer Mutter. Weshalb der Opa verschwunden war, verstand Amelie nicht, denn ihre Oma sagte stets traurig, wenn sie von ihm erzählte. „Wir wissen nicht was aus ihm geworden ist.“

Amelie grübelte vor sich hin. Es gab so viele Gräber auf dem Friedhof. Dort lagen doch die Leute aus dem Dorf, die gestorben waren. Wo liegt denn mein Opa, wenn niemand weiß wo er geblieben ist? Amelie hatte diese Frage an ihre Oma gestellt und die Antwort der Oma machte das Verstehen nicht leichter. Der Krieg ist schuld hatte ihre Oma erklärt. Er ist dort geblieben und niemand weiß wo er nun ist. Die Sache mit dem Krieg verstand Amelie auch nicht. In dem Krieg haben sehr viele Menschen gekämpft, sagte ihre Oma. Auch ihr Opa hatte gekämpft und war nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Diese Gedanken beschäftigten Amelie unwillkürlich bei der Betrachtung des Hutes auf Reginalds Kopf. Der Hut war spitz und nicht so rund wie der Zylinderhut, den die Oma ihr gezeigt hatte. Amelie kannte nur moderne Hüte, die der Vater und die Mutter trugen. So einen altmodischen Hut, der auf Reginalds Kopf hin und her wackelte, wenn er sprach, hatte Amelie noch nie gesehen. Er war genauso altmodisch wie der Zylinderhut des Opas.

Amelie war wieder einmal mit ihren Gedanken von dem abgeschweift was direkt vor ihren Augen geschah. Sie hatte scheinbar den stärksten Schmerz überwunden.

Als sie von ihrem Gedankenspaziergang zurückkehrte, musterte sie den Mann neben sich eingehender. Seine Knollennase und sein spitzes Kinn verliehen ihm ein interessantes Aussehen. Am Kinn wuchs ein kleines rotes Bärtchen, das ihm ein ulkiges Aussehen verlieh. Seine Augen waren klar und blau wie zwei große Seen. Gerade als sie dies dachte, schaute Reginald Amelie besorgt ins Gesicht. Er schien zu kontrollieren ob es ihr gut ginge. Ihr ging es so gut, dass sie mit der Betrachtung Reginalds fortfuhr.

Sein langes dunkelblaues Gewand war mit Sternen übersät? An seinem Hut funkelten diese Sterne hell wie die Sonne selbst. Der Hut, wenn er auch altmodisch war, passte prima zu seinem Gewand, da er aus dem Stoff gefertigt worden war, aus dem auch das Gewand bestand. Reginald trug einen Gürtel, der Amelies Interesse sofort weckte. An ihm waren überall kleine Haken angebracht, an denen Gefäße und Stoffbeutel befestigt wurden.

Amelie fragte Reginald, was er in diesen Gefäßen und Beuteln aufbewahrte. Natürlich bekam sie sofort eine Antwort. Reginald nutzte jede Gelegenheit zur Ablenkung von den Schmerzen, die durch die Verbrennungen verursacht wurden.

„In den Gefäßen und Beuteln sind Heilkräutlein und Mixturen, die für kranke Menschen bestimmt sind, die eine besondere Aufgabe auf der Erde erfüllen sollen.“

„Ich habe jetzt wohl keine Schmerzen mehr, weil du mir etwas davon verabreicht hast?“

„Natürlich habe ich dir etwas gegen die Schmerzen gegeben. Ich kann dich doch nicht leiden lassen. Obwohl; wer so unvorsichtig ist wie du, muss natürlich auch spüren, dass er einen Fehler gemacht hat. Ich bin Heiler und Heiler helfen!“ Reginald schüttelte bei diesen Worten seinen Kopf und sein Hut wackelte dadurch bedenklich.

„Es ist gut für mich, dass du ein Heiler bist. Ich muss durch dein Eingreifen weniger Schmerzen leiden. Danke dafür, lieber Reginald.“

Amelie war froh, dass dieser Heiler ihr half. Was hätte werden sollen, wenn sie die Schmerzen ertragen musste?

„Es ist wirklich eine ganz besonders große Gunst, die dir heute erwiesen wird.“ Die Duse hob den Zeigefinger und schaute Amelie mahnend an. „So etwas darf nicht wieder geschehen. Kannst du mir versprechen, dass du dich nicht wieder auf so ein Spiel einlässt?“

„Ich glaube, das kann ich nur, wenn ihr mir helft. Zu Hause vergesse ich Hisian doch.“ Amelie sah beschämt zur Duse hinüber. Sie wusste in diesem Moment genau, dass sie ohne die Duse und ihre Ermahnungen sehr leicht in gefährliche Spiele hineingezogen werden konnte.

„Das ist ein Problem, das wir lösen müssen. Wie könntest du gewarnt werden?“ Die Duse schüttelte nachdenklich den Kopf und schwebte zu Reginald hinüber, um ihm über die Schulter zu schauen.

Da Amelie nur warten konnte, schaute sie sich Reginalds Füße genauer an.

Die Beine, das empfand sie so, waren Reginalds besondere Eigenheit. Er trug Schuhe mit unterschiedlich hohen Absätzen. Das war klar, denn Reginald musste den Längenunterschied seiner Beine irgendwie ausgleichen. Er bewegte sich trotzdem behände durch das Labor, in das Amelie gebracht worden war.

„Du kannst von Glück sprechen, dass ich der Spezialist für solche Verletzungen bin. Deine Beine sehen ganz schön ramponiert aus! Wenn du als junge Dame mit deinen Beinen die Männer beeindrucken willst, müssen wir unbedingt etwas für dich tun.“ Reginalds Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen.

Die Duse wirkte ebenfalls besorgt und fragte leise: „Kannst du Amelie helfen?“

Reginald lächelte beruhigend. „Wir machen jetzt sofort ein paar Umschläge und dann werden wir den Menschen ganz unbemerkt helfen. Die Ärzte werden auf ihren Heilungserfolg stolz sein. Damit sie nicht zu überschwänglich werden, wirst du ein paar kleine Narben am linken Fuß behalten, mein Kind. Den Fuß hast du zuletzt aus dem Wasser gezogen, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Amelie erstaunt. Denn sie selbst musste sich ziemlich anstrengen, um sich an den Fall und den Ausstieg aus dem Kessel zu erinnern. Zu stark beeinflussten die Geschehnisse nach dem Fall in den Waschkessel ihr Denken.

Reginald legte Umschläge mit Salbe aus einem der Töpfe an seinem Gürtel auf Amelies Beine und drehte sich um. Seine Methoden waren zwar sehr altmodisch, halfen jedoch so gut, dass Amelie sofort eine Besserung spürte. Sie hatte uneingeschränktes Vertrauen zu ihm. Das Wunder ihres Hisians machte möglich, dass sie keine Angst hatte. Ihr Bauch und ihr Herz waren ruhig. Sie pochten oder rumorten nicht wie wild vor Angst.

Bis jetzt war Amelie gefesselt von Reginalds Anblick und dem, was mit ihr selbst geschah, so dass sie sich noch nicht in dem Labor umgeschaut hatte.

Unter dem Fenster stand ein langer weißlackierter Tisch. Darauf entdeckte sie jede Menge Gefäße, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Doch viel beeindruckender war der Kamin, der neben ihrer Pritsche eingebaut war.

Es fiel ihr erst jetzt auf, dass sie die ganze Zeit auf einer Pritsche gesessen hatte. Auf der Pritsche konnte sie ihre geschundenen Beine wunderbar ausstrecken. Ziemlich praktisch, wenn man sich die Beine verbrannt hatte. Sofort schmerzten sie nicht mehr so sehr. Die Umschläge, die Reginald aufgelegt hatte, konnten deshalb auch nicht verrutschten. Die Lehne in ihrem Rücken stützte sie.

Im Kamin, an vier Ketten, irgendwo oben im Schornstein befestigt, hing ein großer Topf. Darunter stand ein Dreifuß auf dem ein kleiner Topf stand. Reginald benutzte den kleinen Topf. Er füllte Wasser hinein. Danach gab er allerlei Kräutlein aus den Gefäßen und Beuteln an seinem Gürtel dazu. Es roch fremdartig und Amelie grübelte für wen Reginald dieses Gebräu bereitete. Als er dann mit einer Tasse, gefüllt mit diesem Gebräu, zu ihr herüberschwebte, schwante ihr nichts Gutes.

Igitt, sollte sie vielleicht dieses Gebräu trinken?

Richtig, sie hatte sich nicht getäuscht. Reginald hielt ihr dieses Zeug tatsächlich unter die Nase. Ein würziger Duft - unerwartet angenehm – stieg vor ihrer Nase auf und Amelie hatte plötzlich nichts mehr dagegen von dem Gebräu zu trinken. Die duftende Wolke aus der Tasse versetzte sie in einen Rausch. Sie konnte sich der Anziehungskraft durch Reginalds Gebräu nicht mehr entziehen.

„Mit meinem guten Trank wirst du auch in der Welt der Menschen wenig Schmerzen erleiden müssen. Du musst nur brav ruhig halten und warten bis die Haut an deinen Beinen nachgewachsen ist.“

„Was können wir ansonsten noch tun?“

Die Duse schien nicht mehr so ungehalten zu sein. Amelie atmete auf. Sie hörte Reginald genau zu, denn was er sagte schien wichtig zu sein.

„Sorge dafür, dass sie so schnell wie möglich zu einem Arzt kommt, sonst können sich die Ärzte die schnelle Heilung womöglich nicht erklären. Es wäre auch gut, wenn das Kind vor einem Krankenhausaufenthalt bewahrt wird. Dort vergessen die Schwestern aus lauter Zeitnot die Verbände regelmäßig zu wechseln. Das könnte dann trotz unseres Eingreifens noch Schwierigkeiten bereiten.

Das wäre schade, junge Dame. Du könntest die jungen Männer später nicht mit deinen schönen Beinen betören.“ Er schmunzelte in seinen Bart hinein und schwebte hinüber zum Topf, um den Rest des Gebräus abzufüllen.

Amelie verstand nicht was junge Männer mit ihren Beinen zu tun haben sollten. Was für eine Rolle spielten ihre Beine für junge Männer?

Sie war ein wenig verwirrt. Nach kurzem Nachdenken entschied sie. Die Hauptsache ist, dass ich laufen und gut und fest auf meinen Füßen stehen kann! Reginalds Trank machte sie müde, darum wurde das Nachdenken über diese Dinge immer mühsamer. Sie hörte nun lieber dem Gespräch zwischen der Duse und Reginald zu. Die Duse schien in ihrem Element zu sein.

„Es wird sicher möglich sein Amelie sofort zu einem Arzt zu bringen und ihr den Krankenhausaufenthalt zu ersparen. Wie oft müssen die Verbände gewechselt werden?“

„In den ersten zwei Wochen jeden Vormittag und in den zwei Wochen danach jeden zweiten Vormittag. Danach wird sie wieder laufen lernen müssen. Ruhe ist unbedingt notwendig, damit die Haut so nachwachsen kann, dass kein Schaden entsteht und keine großen Narben bleiben. Also, kleine Amelie werde nicht ungeduldig und befolge artig die Anweisungen der Ärzte. Du wirst zwar den Besuch bei uns vergessen, aber alles was wir dir gesagt haben, wirst du wissen und intuitiv befolgen. Außerdem werde ich jeden Tag etwas von dem würzigen Gebräu unter eines deiner Getränke mischen lassen. Du, die Ärzte und deine Eltern werden es nicht bemerken. So können wir dir von hier aus helfen. Die Schmerzen werden schnell verschwinden und die Heilung wird normal vonstattengehen.“

Die Duse ließ sich nicht nehmen Amelie noch eine letzte Mahnung mit auf den Weg zu geben.

„Wenn du wieder einmal ein Ziehen in deinem Bauch spürst, oder dir dein Herz eng wird, dann wirst du es beachten. Ich will nicht wieder vor Schreck atemlos werden. Was hätte nicht alles geschehen können? Denke immer daran, du wirst immer gewarnt. Du kannst dich hundertprozentig auf deine Gefühle verlassen!“

 

Mit diesen Worten im Ohr erwachte Amelie aus ihrer Ohnmacht. Die Nachbarin und ihr Mann brachten sie auf die Straße, um nachzusehen wo der Junge blieb, der in der Schänke einen Krankenwagen rufen sollte.

In diesem Moment bogen Amelies Eltern mit dem Auto in die Gasse ein. Der Junge, der zum Wirt geschickt worden war, hatte sie angehalten. Gerade zur richtigen Zeit waren sie zur Stelle.

Dieses Wunder war darauf zurückzuführen, dass Amelies Mutter sich nicht daran erinnern konnte, ob sie das Bügeleisen abgestellt hatte. Ihre Gedanken an die Katastrophe, die geschehen konnte, hatte sie so lange auf den Vater einreden lassen, bis dieser umkehrt war, um zu Hause noch einmal nach dem Rechten zu sehen.

Das war die Rettung in Amelies Not!

Sie wurde auf den Rücksitz des Autos gesetzt. Die Mutter nahm neben ihr Platz und hielt ihre Hand. „Du musst doch höllische Schmerzen haben Kind.“

Amelie schaute die Mutter an und lächelte. „Alles wird gut Mutti!“

„Was redest du da?“, sagte die Mutter und trieb den Vater zur Eile an. Sie konnte nicht wissen, dass Amelie bereits eine Behandlung hinter sich hatte. Die Ängste und Sorgen um das Kind waren der Mutter ins Gesicht geschrieben. Mit Verbrennungen war nicht zu spaßen, das wusste sie genau.

Sie kamen kurz vor der Mittagspause im Krankenhaus an. Deshalb saßen nur noch wenige Patienten im Wartezimmer. Die Dame in der Anmeldung war sehr freundlich und rief sofort den Arzt zu Hilfe. So kam es, dass Amelie schnell versorgt wurde.

Außerdem erklärte der Arzt den Eltern, dass das Krankenhaus zurzeit wegen eines Fiebers voll belegt sei und sie Amelie mit nach Hause nehmen müssten. Die Nachfolgebehandlungen würden ambulant erfolgen.

Amelie fragte die Mutter, was der Arzt denn damit meinte. Die Mutter schaute besorgt in ihr Gesicht und erklärte ihr. “Wir müssen jeden Vormittag mit dir hierher fahren, um dich verbinden zu lassen. Nur gut, dass wir ein Auto haben.“

Für die Eltern kam nun eine anstrengende Zeit. Sie brauchten nun viel mehr Zeit für das Kind. Überall, wo Amelie normalerweise hingehen wollte oder musste, wurde sie getragen. Sie durfte ihre Beine nicht belasten, damit die Heilung gute Fortschritte machen konnte. Das hatten die Ärzte den Eltern eindrücklich erklärt. Amelie befolgte alle Anweisungen und die Ärzte wunderten sich über dieses unnatürlich disziplinierte Kind. So viel Verstand schon in diesem Alter! Manche Erwachsene mit solchen Verletzungen waren uneinsichtiger. Komisch auch, dass die Kleine selten über Schmerzen klagte.

In dieser Zeit waren die Eltern froh und dankbar, dass Amelie sich mit dem Urgroßvater angefreundet hatte. Sie besuchte ihn nun öfter. Die Zeit in der er seine Geschichten erzählte oder Märchen vorlas, war für beide wunderbar und erleichterte den Eltern das Leben erheblich. In der Zeit, die Amelie beim Urgroßvater verbrachte, konnten sie beruhigt ihren Verpflichtungen nachgehen.

Franz, der noch nicht so verständig war, versuchte mehrmals, unter den dicken Binden nachzugucken. Wie es dort wohl aussah? Er wurde deshalb öfter gescholten. Aber seine Neugier war trotzdem nicht gestillt.

Amelies ungestümes Wesen war wie weggeblasen. Sie ließ die Behandlungen und den Wechsel der Verbände mit Gleichmut über sich ergehen. So kannten die Eltern sie überhaupt nicht. Es war, als hätten sie plötzlich ein anderes Kind. Das sollte sich ändern, als der Arzt Amelie erlaubte die ersten Schritte zu wagen.

Das war vielleicht lächerlich. Sie konnte doch gehen! Wieso sollte das so ein Problem sein? Amelie war empört!

Als sie das erste Mal versuchte zu gehen, konnte sie kaum das Gleichgewicht halten. Sie musste sich am Tisch festhalten, wenn sie nur irgendwie vorwärts kommen wollte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt!

In dieser Zeit zeigte sich, dass Amelie auch beharrlich sein konnte. Sie schaffte sie es innerhalb weniger Stunden auf ihren dicken Verbänden schon von der Stube in die Kammer zu gehen.

Als dann die Ärzte die dicken Verbände entfernten, waren sie sehr stolz auf das gute Behandlungsergebnis. Nur eine kleine Narbe am linken Fuß war geblieben. Anerkennend nickend und mit einem Lächeln auf dem Gesicht meinte der Arzt: „Mit den Beinen wirst du die jungen Männer, wenn du groß bist, ganz verrückt machen.“

Für Amelie unbegreiflich. Warum war es so wichtig junge Männer verrückt zu machen? Sie hatte schon genug mit Franz und seinen verrückten Ideen zu tun. Wenn er immer wieder an ihren dicken Verbänden zupfte, dann war er schon ein echter Plagegeist. Trotzdem liebte sie ihn sehr. Sie konnte nicht anders. Schon seit dem Augenblick als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war ein heißer Schwall in ihrem Herzen aufgestiegen. Sie erinnerte sich genau. Damals konnten seine wunderbaren blauen Augen Amelie noch nicht so umwerfend anleuchten und trotzdem hatte es sie beim ersten Sehen erwischt. Franz war ein ganz besonderer Mensch in Amelies Leben. Mit ihm verband sie sehr viel. Ihr Herz fühlte sich warm und weich an, wenn er in ihrer Nähe war. Sie teilten viele interessante und spannende Erlebnisse miteinander. Nur mit Franz konnte Amelie sich über diese gemeinsamen Erlebnisse unterhalten. Er verstand sie viel besser als die Erwachsenen. Franz war ihr Vertrauter und Freund. Sie lebten gemeinsam auf dem Bauernhof und alles Interessante dort konnten sie auch gemeinsam erforschen. Die Eltern ließen sie allein, wenn sie sicher waren, dass wenig geschehen konnte. Denn zwei von ihrer Sorte, aufgeweckt und kaum zu bändigen, konnte man einfach nicht ohne Befürchtungen allein lassen. Das war viel zu gefährlich!

Ihre Oma hatte so etwas zur Mutter gesagt. Amelie hatte das Gespräch der beiden mit einem schlechten Gewissen belauscht. In dem Gespräch hatte die Oma außerdem erwähnt, dass leicht eine Katastrophe passieren könnte.

Was für eine Katastrophe meinte ihre Oma? Amelie trieb diese Frage regelrecht um. Ob damit auch ihr Unfall in dem verbotenen Gebäude und die Verbrennung der Beine gemeint waren? Franz hatte solche Unfälle zwar noch nicht gehabt. Jedoch auch bei ihm kamen immer wieder kleine Unfälle vor. Seine Knie sahen aus wie eine Mondlandschaft - überall Narben.

Amelie konnte sich vorstellen, dass die Mutter oft unheimlich erschrocken war. Ganz genau konnte sie sich an die besorgten Gesichter erinnern, als Mutter und Vater sie mit dem Auto ins Krankenhaus brachten. Amelie spürte ein Grummeln in ihrem Bauch. Ein solches Grummeln spürte sie, wenn Franz hinfiel und dann bitterlich weinte, weil er sich wieder einmal an einem Stein das Knie blutig geschlagen hatte. Wenn er weinte, schmerzte Amelies Herz und die Traurigkeit, die sie empfand, konnte sie mit dem Kummer vergleichen, den sie fühlte, wenn sie selbst mit einer Situation nicht fertig zu werden drohte und ihr Bauch oder das Herz sprachen.

Diese Gedanken dürfte der Vater jetzt aber nicht hören. Er sagte: „Das Herz und der Bauch können überhaupt nicht sprechen.“

Irgendwie stimmte das für Amelie nicht und davon ließ sie sich auch nicht mehr abbringen. Diese Einsicht behielt sie jedoch lieber für sich allein, denn die Anderen wollten von Gefühlen im Herzen und im Bauch nichts wissen.

Komisch eigentlich, hatten die Anderen denn nicht solch ein Ziehen im Bauch?

Mit Franz konnte sie darüber auch nicht sprechen. Er wollte immer ein starker Junge sein und keine Memme.

Schade, Amelie hätte gern mit ihm darüber gesprochen. So sprach sie abends mit dem Herrgott darüber. Jemand anderes wollte von ihren Gefühlen nichts wissen. Das war schwer aber manchmal auch schön, denn Geheimnisse waren prickelnd und nur für sie ganz allein da. Etwas das nur sie selbst wusste und vielleicht noch ihre Puppe Heike.