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Kapitel 2

»Learning By Doing« – Auf die harte Tour

Freitag, 21. Februar 2020

Erst eine Woche ist vergangen, seit uns der EMP eiskalt erwischt hat. Mir kommt diese Zeitspanne gleichwohl viel länger vor, war sie doch mit Abstand die intensivste und turbulenteste meines Lebens. Diese Aussage mag schon fast romantisch verklärt klingen, doch in meiner Gedankenwelt bleibt momentan kein Platz für Sentimentales. Im Gegenteil – wenn man ständig mit Strategien für das nackte Überleben beschäftigt ist, verkommt alles andere automatisch zur Bedeutungslosigkeit.

Was habe ich früher eigentlich den ganzen Tag über gemacht, als ich meine Lebensmittel einfach nur im Supermarkt abzuholen brauchte? Ich befand mich im Dauerstress, keine Frage. Nur muten mich all die sinnentleerten Tätigkeiten, mit denen ich meine Tage bis zum Bersten anfüllte, schon jetzt nach sieben Tagen geradezu abstrus an.

Es scheint, als wäre ich all die Jahre lang einem trügerischen Phantom nachgejagt, welches ich allen Bemühungen zum Trotz doch niemals zu fassen bekommen hätte. Einem hinterlistigen Phantom namens »Zufriedenheit«, welches ich mithilfe von Geld und immer neuen Konsumgütern einzufangen trachtete. Vergeblich, genau wie alle anderen Leute.

Erfüllt man sich einen Wunsch, wachsen sofort ein paar andere Bedürfnisse nach; dafür sorgt schon die allgegenwärtige Werbung. Noch immer lächeln die Models professionell von den Plakatwänden und preisen Waren an, die man in Wirklichkeit nicht mehr kaufen kann. Ein krankes System, welches jetzt im Sterben liegt. Fast freut mich das, ich muss es zugeben.

Dennoch nagt die Angst vor dem Unbekannten an mir, seit gestern mehr denn je. Die Zukunft ist höchst unsicher und ich weiß nicht einmal, ob ich noch eine solche haben werde.

Ich glaube, die nächsten Wochen werden zeigen, ob meine Mitbewohner und ich wirklich den richtigen Weg eingeschlagen haben. Ob wir als Gemeinschaft auf Dauer fähig sein werden, die Krise zu meistern und uns im knallharten Überlebenskampf zu behaupten. Dieses nachdenkliche Resümee musste ich jetzt einfach mal niederschreiben, bevor ich mich mit Alexandra auf den Weg in die Innenstadt mache. Damit ich in ein paar Monaten noch problemlos nachvollziehen kann, wie sich alles entwickelte, auch oder erst recht in meiner Gedankenwelt.

Sofern es mich in einigen Wochen überhaupt noch gibt; so ab und zu zweifle ich nämlich schon daran.

*

Was bin ich froh, zurück in der relativen Sicherheit meines kleinen Zimmers im Rathaus II zu sein! So sehr ich meinen täglichen Aufenthalt in diesen staubigen Amtsstuben früher verabscheut habe, so dankbar bin ich heute für diese Enklave.

Der Leser dieser Aufzeichnungen mag sich fragen, was meine extreme Sinneswandlung ausgelöst hat? Nun, da will ich mal von unserem »Katastrophen-Stadtbummel« erzählen.

Nebenbei bemerkt: dieser von mir kreierte Begriff hätte früher wahrscheinlich große Chancen darauf gehabt, zum »Unwort des Jahres« gekürt zu werden.

Alexandra und ich standen gerade im Begriff, gen Innenstadt aufzubrechen, als Hausmeister Klaus nahte. »Wartet mal, ihr beiden!« Er wedelte mit dem Autoschlüssel des Mustang und lud uns ein, bis zur Fußgängerzone mit ihm mitzufahren. Er beabsichtige nämlich, die Lage im Industriegebiet am Stadtrand zu checken, erklärte er uns; ihm sei zu Ohren gekommen, dass das Militär auch dort nun die Straßen mithilfe der Panzer freigeräumt habe.

Außerdem gehe ihm das Benzin aus und er müsse sich welches … na ja … »besorgen«. Schließlich funktionieren die Pumpen an den Tankstellen seit dem EMP nicht mehr, außerdem sind die dort in den Tanks momentan noch lagernden Vorräte bereits für die Fahrzeuge aller Einsatzkräfte beschlagnahmt worden. Große Plakate, welche über die einstmals gefürchteten Preistafeln der Tankstellen geklebt sind, künden auffällig von dieser neuerlichen Misere. Das hat der gestrige Erkundungstrupp neben anderen Neuerungen so im Vorbeigehen registriert.

»Das ist mir so was von schnurzpiepegal«, bemerkte Klaus augenzwinkernd. »Auf den Großparkplätzen im Industriegebiet stehen genügend funktionsunfähige Autos herum, und wozu besitze ich einen passenden Schlauch?« Er gedachte also, das Benzin von dort liegen gebliebenen Privatfahrzeugen abzulassen, um seinen Mustang damit zu betanken. Ein paar große Ersatzkanister lud er zusätzlich in den Kofferraum seines Kultfahrzeugs.

Im Grunde beabsichtigte Hausmeister Klaus, Diebstähle zu begehen, weil nach meinem Rechtsempfinden die jeweiligen Autobesitzer streng genommen auch weiterhin Eigentümer der Tankfüllung bleiben, ob das Auto nun funktioniert oder nicht.

Fällt eine solche Tat nicht eindeutig unter die streng verbotene »Plünderung«, welche mit drastischen Maßnahmen geahndet werden soll? Doch dies war Klaus’ ureigene Entscheidung, ich verkniff mir jeglichen Kommentar. Er ging dieses persönliche Risiko mutig für unsere Gemeinschaft ein, und dafür war ich ihm mehr als dankbar.

Ich selbst wäre allerdings aufgrund meines äußerst restriktiven Gewissens bis dato nicht in der Lage, mich zu einem solchen Schritt durchringen zu können. Noch kann ich es mir leisten, meine Werte und Prinzipien unverändert beizubehalten, mich ihrer insgeheim zu rühmen. Aber wie lange noch?

Klaus lud Alexandra und mich am sogenannten »Mühltürlein« ab; wo in früheren Zeiten der Stadtgeschichte ein Durchlass in der Stadtmauer gewesen war, prangt heute eine nutzlos gewordene Hänge-Fußgängerbrücke, welche die geneigten Bayreuther Konsumenten hinüber auf die andere Seite des Stadtkernrings ins

»Rotmain-Center« leitet. Jedenfalls erfüllte sie diesen Zweck bis Ende letzter Woche.

Beim Vorbeifahren stellten wir erstaunt fest, wie fremd und unheimlich so ein gläserner Konsumpalast wirken kann, sobald die Schaufenster dunkel bleiben und keine tütenbepackten Menschenscharen mehr wie die Bienen ein und ausschwirren. Dabei habe ich dort drinnen in der Mittagspause alle paar Tage endlose Shopping-Touren durchgezogen!

Ich fühlte mich bei diesem Anblick unangenehm an eine Doku-Reihe erinnert, die ich mir im Fernsehen oft und gerne angesehen habe; diese trug den Titel »Zukunft ohne Menschen« und zeigte auf, welch kurze Zeitspanne all unsere Bauwerke, Infrastrukturen und sonstigen Errungenschaften, auf die wir so verdammt stolz sind, ohne menschliche Erhaltungsmaßnahmen überdauern würden.

Schon erschreckend, dass beispielsweise Atom-Müll eines fernen Tages die wohl beständigste Hinterlassenschaft sein wird, aufgrund deren nachfolgende Primaten die einstige Existenz des Menschen noch feststellen können würde. Für mich ist das jedenfalls kein Beweis für überragende Intelligenzleistungen.

Heute, an diesem Freitagmorgen, konnte man einfach auf dem sonst sehr stark befahrenen Stadtkernring anhalten und Leute aus dem Auto steigen lassen. Krass! Während Klaus in Richtung des Industrie-Gebietes abdüste, strebte ich in Begleitung von Alex hinauf zum Marktplatz.

Auf den ersten Blick schien sich kaum etwas verändert zu haben. Hier tummelten sich zahlreiche Menschen wie sonst auch. Schmutzig-graue Schneereste und Roll-Split verkrusteten das Pflaster; speziell im Februar war bei mir deswegen immer schon das unangenehme Gefühl entstanden, der Winter werde heuer garantiert überhaupt nicht mehr weggehen. Was er dann zum Glück doch irgendwie jedes Mal tat.

Nur drei Dinge sind es, die sich heute in dieser belebten Fußgängerzone von einem gewöhnlichen Sonntagnachmittag unterschieden haben:

Es ist gar nicht Sonntag, sondern Freitag; die Geschäfte blieben trotzdem geschlossen. Zweitens: Der Müll türmt sich überall. Nicht nur in den hoffnungslos überquellenden Tonnen, sondern es liegt auch alles Mögliche kreuz und quer fast flächendeckend auf dem Boden verstreut. Die Stadtreinigung hat wohl bereits den Dienst quittiert.

Wieso eigentlich? Funktionieren etwa Besen, Schaufel und Müllsack nach einem EMP auch nicht mehr? Ich frage mich schon, wo die ganzen Bauhofarbeiter abgeblieben sind!

Last, but not least: Der Gesichtsausdruck meiner Bayreuther Mitbürger hat sich auffällig verändert. Wo sich sonst in den Blicken die übliche spießbürgerliche Mischung aus Skepsis, Unnahbarkeit und Hektik spiegelt, ist nun Angst, Misstrauen und tiefe Verzweiflung zu lesen. Man taxiert sich gegenseitig, geht sich möglichst weiträumig aus dem Weg.

Ob wir beide wohl auch so furchterregend dreinschauten? Ich musterte verstohlen meine Begleiterin und stellte fest, dass diese eher betroffen oder verunsichert aussah. Alexandra war unvermittelt vor dem Schaufenster einer großen Apotheke stehengeblieben.

»Die haben auch zu! Unverantwortlich ist das!«, schimpfte meine Kollegin und Freundin erbost. »Was ist, falls jemand dringend ein Medikament braucht? Haben die noch nicht einmal einen Notdienst? Ich kann nirgendwo ein Schild entdecken!« Sie suchte weiterhin Ladentüre und Hauswand nach entsprechenden Mitteilungen ab.

Ich zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht! Vielleicht gibt es die Bereitschaftspraxis des Roten Kreuzes noch? Oder das Med-Center hat geöffnet? Wir können nachher ja mal dran vorbeigehen, wenn du willst!

Falls du nur eine Kopfschmerztablette oder Ähnliches brauchst: habe ich alles aus meiner Wohnung mitgebracht, kannst du dir jederzeit bei mir im Zimmer abholen!«, versuchte ich Alexandra zu trösten.

»Danke! Aber trotzdem: Als Apotheker hat man eine gewisse Verantwortung, finde ich. Einfach den Laden dichtzumachen, wo kommen wir denn da hin?«, frotzelte Alex weiter. »Na ja, vermutlich würde eine lumpige Packung Kopfschmerztabletten mittlerweile sowieso gut und gerne 500 Euro kosten!«

 

Ich schüttelte missbilligend den Kopf. Es war schon immer so! Wenn sich Alexandra richtig an etwas festgebissen hat, das ihr missfällt oder gegen den Strich geht, dann lässt sie so schnell nicht wieder locker. Da möchte sie am liebsten mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn das an der Situation nicht das Geringste ändern würde.

»Ist ja gut!«, beschwichtigte ich. »Jetzt beruhige dich erst mal wieder! Komm, dort drüben vor dem Supermarkt scheint etwas Größeres im Gange zu sein. Am Ende öffnen die gerade den Laden? Wir sollten besser nachsehen gehen!«

»Und wenn schon!«, knurrte Alexandra genervt und blieb wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen. »Wir haben sowieso kein Geld, außerdem könnten wir noch nicht einmal die anderen benachrichtigen! Oder funktioniert dein Handy wieder, habe ich etwas verpasst?« Das klang ungewohnt ironisch.

Anstelle einer Antwort nahm ich sie behutsam in den Arm, führte sie wortlos in Richtung des Supermarktes. Ihre Nerven lagen in diesem Moment blank, und wer wollte ihr unter diesen Umständen die schlechte Laune verdenken? Ich kapierte zwar nicht ganz, weshalb ausgerechnet eine geschlossene Apotheke dazu geeignet war, ihr derart die Petersilie zu verhageln; aber vielleicht war das in diesem Fall nur der berühmte Tropfen, der das Fass ihrer Seele zum Überlaufen brachte. Sie brauchte einfach ein Ventil, um Dampf abzulassen.

Noch bevor wir auf der anderen Seite des Marktplatzes angelangt waren, schlug die Stimmung der Menschen plötzlich um, Panik elektrisierte die Luft. Eben hatten sich noch viele Leute ungeduldig vor der Fensterfront des Geschäftes gedrängt, doch nun löste sich dieser Pulk schlagartig auf. Gleich einem wild gewordenen Mob rannten alle los, verstreuten sich in sämtliche Himmelsrichtungen.

Es blieb mir keine Zeit zum Nachdenken, denn kräftige Hände packten Alexandra und mich an den Oberarmen. Der jeweils rechte Arm wurde uns mit Gewalt auf den Rücken gedreht, und in diesem unnachgiebigen Polizeigriff hielt man uns fest.

Erst jetzt bemerkte ich, dass einige der Davonrennenden krampfhaft Gegenstände umklammert hielten. Schon peitschten mehrere Schüsse, das zugehörige Echo prallte beängstigend laut von den Hauswänden auf der anderen Straßenseite. Alexandras grüne Augen waren vor Angst und Schrecken geweitet, kein einziger Ton kam über ihre Lippen.

»Ein paar von denen haben wir erwischt!«, brüllte der Mann in meinem Rücken, welcher mir nun zusätzlich eine Waffe von hinten schmerzhaft in die Rippen drückte.

So langsam erkannte ich, in welch prekärer Lage wir steckten. Offensichtlich hatte man die Filiale dieser weit verbreiteten Supermarkt-Kette soeben geplündert, und wir beide galten als Mittäterinnen, weil wir uns zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. In der Schaufensterscheibe gähnte ein riesiges Loch, und ein paar Waren lagen kreuz und quer in den Glassplittern verstreut. Diese Gegenstände hatten die panisch Flüchtenden anscheinend fallen gelassen, um wenigstens ihr nacktes Leben zu retten.

»Bitte lassen Sie uns gehen!«, bettelte ich. »Wir haben uns doch an der Plünderung gar nicht beteiligt, wollten nur nachsehen, was da drüben los ist! Sie können uns gerne durchsuchen, wir haben wirklich nichts gestohlen!«

Der Soldat packte mich gleich noch fester. »Es spielt keine Rolle, ob ihr etwas erbeuten konntet oder nicht, die Absicht zählt! Ihr kriminelles Pack könnt es ja doch nicht lassen, euch am Eigentum anderer Leute zu vergreifen. Beim nächsten Laden wärt ihr dann womöglich erfolgreich, wenn wir euch laufen ließen!

Plünderung ist strengstens verboten und wird ohne Rücksicht auf Verluste geahndet! Ihr hättet auch erschossen werden können, so wie die drei Diebe dort drüben!« Mit einer raschen Bewegung seines Kinns zeigte er die Richtung an, sah dabei hoch zufrieden aus.

Scheinbar weiden sich manche Soldaten daran, endlich einmal Krieg spielen zu dürfen, anstatt nur gelangweilt in der Kaserne herumzuhängen. Machtgeile Idioten gibt es immer und überall. Gerade in solchen Situationen sind sie ausgesprochen schnell zu identifizieren, zeigen rücksichtslos ihr wahres Gesicht.

Alexandra stöhnte entsetzt auf. »Ihr habt sie einfach umgebracht, ihr Schweine! Das waren doch ganz sicher nur ganz normale Leute, die Hunger hatten, und nicht etwa finstere Verbrecher! Hoffentlich müsst ihr euch dafür alle vor Gericht verantworten!«

Der breitschultrige Soldat, welcher sie festhielt, stieß ihr als Antwort brutal sein Knie ins Kreuz, so dass sie wimmernd zusammensackte. Auch ich gewahrte jetzt die drei Körper, welche leblos zwischen Unrat auf dem Pflaster lagen.

»Halt deinen Mund! Solche frechen Sprüche werden dir schon noch vergehen!« Mit diesen Worten setzten sich beide Soldaten in Bewegung, stießen uns unsanft vor sich her. Da erblickte ich plötzlich ein bekanntes Gesicht; ein schlaksiger Soldat kam uns entgegen, man grüßte sich gegenseitig militärisch.

»Schneider! Gott sei Dank! Würden Sie diesen Herren bitte erklären, wer wir sind? Wir fallen hier ganz offensichtlich einem Missverständnis zum Opfer, denn leider tragen wir ja keine schnieke Uniform, die uns sofort über jeden Zweifel erhaben machen würde!«

Der junge Soldat erkannte mich sofort wieder, überblickte die Situation. Jetzt war ich heilfroh, dass er gestern an der Tür zum Rathaus II geklopft und mich zu einer Notlüge gezwungen hatte.

»Lasst die beiden los! Das sind städtische Mitarbeiter, Mensch! Die laufen hier durch die Fußgängerzone, um die Leute von der Inkraftsetzung der Notstandsgesetze zu informieren! Da habt ihr euch wohl aus Versehen die Falschen gegriffen!«

Nur widerwillig lockerten die beiden Soldaten ihren festen Griff. Eine Entschuldigung hielten sie wohl nicht für nötig, denn beide entfernten sich eilig, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, meinte Schneider stellvertretend für seine Kameraden. »Aber es ist tatsächlich sehr schwierig, Freund von Feind zu unterscheiden in diesen Tagen!«

Alexandra nickte langsam und rieb sich den schmerzenden Arm, fixierte Schneider mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ja, das glaube ich! Ist sonst vermutlich einfacher, wenn man ohne nachzudenken nur auf denjenigen schießen muss, welcher die Uniform des Feindes trägt, nicht wahr? Da wisst ihr dann zwar auch nicht, ob vielleicht ein netter Mensch und Familienvater drinsteckt, aber das muss euch genauso wenig interessieren wie heute hier.« Schneider blickte betreten zu Boden und nickte verhalten.

»Ist schon was Wahres dran. Aber jemand muss unser Land doch verteidigen, oder? Ich persönlich bin ganz sicher nicht zum Bund gegangen, um jemanden erschießen zu können, sondern um kostenfrei meinen Fahrlehrerschein zu machen. Später kann ich dann eine zivile Fahrschule eröffnen, weil man diese Erlaubnis einfach ohne neue Prüfung nach dem Ausscheiden umschreiben darf!«, erzählte der junge Mann.

Aber Alex war immer noch nicht fertig mit ihm. »Vaterland verteidigen, ja?«, schnappte sie wütend und rang nach Luft.

»Und da kann man dann nach Belieben die eigene Bevölkerung erschießen? Mal sehen, welch hoch gefährliche Elemente ihr hier aus dem Verkehr gezogen habt!«

Sie ging in Richtung der drei verrenkt daliegenden Leichen davon, beugte sich in gebührendem Abstand über sie.

Ich legte Schneider zur Beruhigung eine Hand auf den Arm.

»Nehmen Sie ihr das bitte nicht allzu übel«, bat ich ihn. »Sie verhält sich sonst nicht so. Aber heute ist einfach nicht ihr Tag!«

Er nickte verständnisvoll, sah traurig aus. »Tja! Wessen Tag ist heute schon? Himmel noch mal, hoffentlich haben wir diesen Ausnahmezustand bald überstanden! Aber ich glaube eher, dass so etwas wie das hier jetzt öfters vorkommen, sogar zur Regel werden wird. All dieses Chaos kommt im Grunde nur davon, dass wir uns blind auf unsere technischen Errungenschaften verlassen haben, das muss man sich mal vorstellen!«, sinnierte Schneider. Alexandra erbrach sich soeben in einen Pappkarton, der aufgeschlitzt neben dem halb ausgeplünderten Supermarkt lag. Dann kam sie mit grünlich-fahlem Gesicht langsam wieder auf uns zu.

»Reife Leistung! Ein Teenie, eine Hausfrau und ein älterer Herr. Noch vor einer Woche hätten Sie die nicht erschossen, sondern der Dame die Türe aufgehalten, dem gebrechlichen Herrn bereitwillig Platz gemacht und den Teenie ignoriert, nicht wahr? So schnell kann man seine Menschlichkeit an den Nagel hängen, wenn es gerechtfertigt erscheint!« Ihre Stimme klang dünn und kraftlos. Schneider reichte es jetzt mit den Anschuldigungen, sein Blick flackerte unruhig. »Ich habe überhaupt niemanden erschossen, damit das klar ist! Was wollen Sie eigentlich dauernd von mir? Wenn Sie keine Ruhe geben, lasse ich Sie doch noch abführen!«

»Ist schon gut!«, beschwichtigte ich. »Wir sind halt alle ziemlich mit den Nerven runter. Wir gehen jetzt weiter und danken Ihnen nochmals für die Hilfestellung! Viel Glück bei der Bewältigung Ihrer schwierigen Aufgaben, in Ihrer Haut möchte ich ehrlich gesagt in der nächsten Zeit sowieso nicht stecken!«

»Ich auch nicht!«, brummte Schneider und entfernte sich eilig in Richtung seiner Kameraden, die aufgeregt gestikulierend vor dem Supermarkt standen.

»Puh, das ist ja noch mal gut gegangen!«, sagte ich erleichtert, obwohl auch mir der Schreck noch gehörig in den Knochen steckte. Alexandra weinte nur still in sich hinein.

So, jetzt brauche ich dringend eine Pause! Die Bilder des heutigen Vormittages stehen mir aufgrund meiner schriftlichen Schilderung nur allzu deutlich wieder vor Augen, ein wenig Ablenkung kann da nicht schaden. Ich gehe am besten kurz hinunter auf Walters Terrasse, wo sich die anderen um ein wärmendes Lagerfeuer scharen.

Bis heute morgen glaubte ich, die allgegenwärtige Feuchtigkeit und Kälte seien es, die mir seit dem EMP am meisten zusetzen. Doch nun wurde ich eines Besseren belehrt – es ist vielmehr das Verhalten meiner Mitmenschen, das sich zunehmend von seiner negativen, brutalen Seite zeigt.

*

So gerne ich noch am wärmenden Lagerfeuer sitzen geblieben wäre – ich habe mich unter Aufbietung sämtlicher Willenskraft losgerissen, weil es noch sehr viel aufzuschreiben gibt. Ansonsten werde ich heute nicht mehr fertig, schon wegen der Alkoholisierung nicht. Peter bemerkte nämlich vorhin gleich, dass es einigen von uns seelisch ziemlich beschissen geht und hat eine Flasche Wodka zur Vernichtung freigegeben. Wenn man nicht viel im Magen hat, so vernebelt einem dieses Zeug schnell das Gehirn, macht es träge und ineffektiv. Gut für die Psyche, schlecht für die Konzentration.

Um es vorweg zu nehmen: auch einige der anderen CampBewohner verlebten keinen sehr erfreulichen Tag. Eines der beiden Kinder von Kai und Michaela ist krank geworden, dem Kleinen ist ständig schlecht und er fühlt sich schwach. Auch einige Erwachsene kämpfen mit Magenund Darmproblemen, anscheinend ist das Ganze also ansteckend. Mal sehen, wann es mich erwischt.

Klaus wiederum kam reichlich demotiviert von seiner Fahrt ins Industriegebiet zurück. Zwar hatte er seinen Mustang sowie die drei Ersatzkanister betanken können, doch könnte dies durchaus das letzte Mal gewesen sein. Mehrfach musste er schon heute sein gefährliches Tun unterbrechen, weil entweder andere Benzindiebe des Wegs kamen, oder weil Polizei und Militär wegen der Plünderungen patrouillierten.

Zu guter Letzt, als Klaus sich noch ein wenig in Bayreuths Nordosten umsehen wollte, trachtete man sogar noch danach, ihm den Mustang zu enteignen. Ein Polizist hatte spontan entschieden, diesen auf der Stelle beschlagnahmen zu müssen, weil künftig schließlich alle noch funktionierenden Fahrzeuge ausnahmslos den Einsatzkräften zur Verfügung stehen sollen.

Ich musste wider Willen lachen, als Klaus uns mit farbigen Schilderungen ausmalte, mit welch fragwürdigen Methoden er dies zu verhindern gewusst hatte.

Nun ja, besagter Polizist fand sich jedenfalls nach dem Aufwachen aus seiner Bewusstlosigkeit mit gebrochener Nase und nur mit seiner Unterwäsche bekleidet auf der Rücksitzbank eines Mercedes SL wieder, auf welcher Klaus ihn nach seinem gut sitzenden Faustschlag deponiert hatte. Man merkt halt doch noch ein bisschen, dass er in jüngeren Jahren einem wenig zimperlichen Rockerclub angehört hat.

Am Mustang befinden sich jetzt vorsichtshalber geklaute Kennzeichen, was aber zum Glück niemand mehr überprüfen kann, weil ja die EDV seit ihrem Totalausfall den Abgleich von Daten nicht mehr zulässt. Da nutzen auch die auf Papier gedruckten und daher noch lesbaren Akten der Bayreuther Zulassungsstelle nichts, denn die »neuen« Kennzeichen stammen von einem Opel »Adam« aus Hannover. Auf der Heimfahrt trug Klaus stolz die erbeutete Uniform – um den Eindruck zu erwecken, dass das Fahrzeug bereits konfisziert worden sei.

 

Auf diese Weise kam er tatsächlich unbeanstandet durch die Stadt. Dass ihm die Uniformhose um gut 5 Zentimeter zu kurz ist und auch die Jacke nicht richtig sitzt, fällt beim Autofahren kaum auf. Gar nicht dumm, dieser bärbeißige Kerl!

Morgen wird unser Fahrer und Hausmeister das Fahrzeug dann vorsichtshalber in der Garage seines Freundes mit einer anderen Farbe überlackieren. »Eigentlich wollte ich ihn schon immer in Matt-Schwarz fahren, das ist Kult!«, meinte er augenzwinkernd. »Und es kann bestimmt auch nicht schaden, im Besitz einer Polizei-Uniform zu sein. Wer weiß, wofür die noch mal gut ist?«

Leider hat uns Klaus darüber hinaus keine guten Nachrichten überbringen können. Überall bietet sich nämlich dasselbe Bild. Die Geschäfte sind entweder bereits ausgeplündert, oder aber geschlossen und meistens zusätzlich mit Spanplatten oder Brettern vernagelt worden.

»Es hilft nichts!«, überlegte er achselzuckend. »Wenn wir künftig etwas zum Essen haben wollen, müssen wir wohl ein paar Gesetze brechen!« Das deckt sich allerdings leider in etwa mit den Feststellungen, die Alexandra und ich heute gemacht haben. Genau, apropos »Katastrophen-Stadtbummel«! Nach unserem unangenehmen Zusammenstoß mit den Ordnungskräften wollte ich nur noch weg vom Schauplatz des Geschehens, die unglückseligen Opfer nicht mehr sehen müssen.

Alexandra und ich strebten deshalb schnellen Schrittes in Richtung des Hofgartens, einem sehr beliebten Stadtpark; normalerweise kann man dort Erholung finden, auf den gemütlichen Parkbänken in Ruhe seinen Gedanken nachhängen und Picknicks veranstalten. Aber würde das auch heute zutreffen? In einer Zeit, in welcher nichts mehr so zu sein scheint, wie man es gewohnt gewesen war?

Schon kurz nach dem Betreten dieser grünen Lunge inmitten Bayreuths fiel uns auf, dass es da eher noch ruhiger als sonst zuging. Bis auf ein paar Wenige, die den Park anscheinend als Abkürzung nutzten, war kein Mensch hier unterwegs, schon gleich gar nicht zwecks Spaziergang. Die Leute befanden sich wohl alle auf der Jagd nach Lebensmitteln. Ich atmete auf.

»Komm mit, Alex! Ich kenne hier ein abgelegenes, stilles Lieblingsplätzchen, wo wir ungestört reden und überlegen können, was wir als nächstes Ziel anvisieren sollten.

Dort, an diesem ganz besonderen Ort, bin ich schon als Kind mit meinem Vater oft stundenlang gesessen, denn wir beide verfütterten an den Sonntagen traditionell unser hart gewordenes Brot an die Enten. Wir genossen diese Ausflüge vor allen Dingen als gemeinsame Auszeit von der schlechten Laune meiner Mutter!«, grinste ich. Alexandra nickte nur abwesend. Sie war immer noch recht weiß um die Nase.

Auf dem Weg zu der versteckt aufgestellten Bank, welche so malerisch unter tief hängenden Zweigen verborgen am Ufer einer künstlich angelegten Wasserfläche stand, sah ich mich aufmerksam im Park um.

Hier und da steckten bereits lilafarbene und gelbe Krokusse ihre Köpfchen aus dem halb gefrorenen Boden, als nahe in wenigen Wochen ein ganz normaler Frühling. Die Natur gaukelte eine beruhigende Normalität vor, die in Wahrheit längst nicht mehr existierte.

Wie zum Hohn kam just in dem Moment, als ich solche Gedanken fasste, auch noch die Sonne hinter den bleigrauen Wolkenbänken hervor, verlieh dem Szenario einen tröstlichen Anstrich. Als wolle sie uns signalisieren: »He, jetzt macht’s mal halblang, ihr Jammerlappen da unten! Ist doch alles halb so wild!«

Meine Begleiterin schien von alledem nichts zu bemerken. Sie starrte beim Gehen auf ihre Füße, auf den grauen Kiesbelag der Wege. Etwas musste sie so sehr beschäftigen, dass sie gegen alle Reize ihrer Umwelt unempfindlich geworden war.

»Da sind wir schon!« Ich verlangsamte meinen Schritt, stutzte. Etwas Grundlegendes hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Nur was?

Die Bank stand da. Der Papierkorb auch. Die kahlen Bäume und Büsche fand ich unverändert vor, auch das Wasserbecken. Es fehlten … na klar, die Enten!

Kein einziges Tierchen ließ sich blicken; weder zogen Enten und Schwäne ihre gemächlichen Bahnen im Wasser, noch tummelten sich welche auf der ruhigen Insel in der Mitte des Beckens. Keiner dieser gefiederten, neugierigen Gesellen kam im Gegensatz zu sonst an Land gewatschelt, um die leckeren Mitbringsel zu begutachten, welche die Menschen ihnen gewöhnlich hierher brachten.

Ich setzte mich auf die Bank und sah nun ebenso bedrückt drein wie Alexandra. »Die Enten sind weg, und zwar alle!«, stellte ich fest. »Meinst du, jemand hat sie …?« Jetzt endlich zeigte Alex eine Reaktion; sie nickte traurig.

»Klar! Die Leute leiden Hunger. Deine Enten haben wohl alle ein bedauerliches Ende als Braten gefunden. Weil sie so zahm waren und keine Scheu vor Menschen kannten, ist ihnen bestimmt genau das zum Verhängnis geworden. Die Gutmütigen und Vertrauensseligen erwischt es halt immer zuerst!« Mir drängte sich der Eindruck auf, der letzte Satz sei gleichzeitig auf ihre eigenen Zukunftsaussichten gemünzt.

Die nächsten zehn Minuten verbrachten wir schweigend, beide blickten wir nachdenklich auf die bräunliche Wasserfläche, welche blank wie ein Spiegel vor uns lag. Ich vermisste das muntere Schnattern sich um Futter balgender Enten und wünschte den Erfindergeist des Menschen zum Teufel, der uns und andere Geschöpfe maßgeblich in diese missliche Lage gebracht hat.

Verdammte Technik! Als sie noch funktionierte, machte sie uns abhängig und süchtig, bestimmte unseren Alltag von morgens bis abends. Wir wurden durch Kameras bespitzelt und über das Internet ausgespäht, und das im ganz großen Stil. Jetzt, da wir quasi über Nacht wieder in der finsteren Steinzeit leben müssen, kämpfen wir mit ziemlich üblen Entzugserscheinungen, die sogar das blanke Überleben infrage stellen.

Am Schlimmsten aber ist die Erkenntnis, dass hierunter genau wie bei allen Katastrophen, die diese Welt jemals heimgesucht haben, wieder die gleichen Bevölkerungsgruppen am meisten zu leiden haben werden: Die Schwachen, die Jüngsten und die Alten der Gesellschaft.

Das Prinzip der natürlichen Auslese entscheidet somit künftig auch beim Menschen wieder über die Frage, wer überlebt und wer den Weg für zähere Artgenossen frei machen muss. Jedenfalls könnte uns das blühen, sofern dieser beängstigende Ausnahmezustand nicht doch in den nächsten Tagen beendet sein wird; dieser törichten Hoffnung kann ich mich inzwischen allerdings nicht mehr hingeben, dafür bin ich zu sehr nüchterne Realistin. Alexandra und ich beschlossen fröstelnd, nicht länger solch düsteren und ineffektiven Gedanken nachzuhängen. Mit steifen Gliedern erhoben wir uns fast gleichzeitig von der Bank, um den Rückweg anzutreten. Für einen einzigen Tag hatten wir schließlich bereits zu diesem Zeitpunkt genügend Negatives erlebt, die Eindrücke mussten erst verarbeitet werden.

Wie oft haben wir uns früher die übelsten Mordfälle im Fernsehen angesehen. Kein Tathergang im Krimi konnte uns abartig genug sein! Ich erinnere mich gut an die endlosen Debatten irgendwelcher Psycho-Forscher, welche die warnende Theorie aufstellten, der Konsument solcher Scheußlichkeiten stumpfe irgendwann ab und werde gegen Mord und Totschlag unempfindlich. Dieser Effekt könne als Folge die natürliche Hemmschwelle des Menschen für derlei Taten stückchenweise herabsetzen, bis schließlich die pure Anarchie in die Gesellschaft einziehe.

Menschen einfach nur aus einer egoistischen Motivation oder Ideologie heraus zu töten, werde wegen dieser allgegenwärtigen Reizüberflutung quasi nach und nach salonfähig. Man könne das ja bereits an diversen Amok-Läufen erkennen, die sich speziell im Amerika unserer Tage wegen seiner liberalen Waffengesetze verstärkt ereignet haben.

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